Provokation als soziales Verhalten

▪1. Einleitung

▪2. Provokation: Definition und Abgrenzung

▪2.1. Definition

▪2.2. Die Reaktion des Anderen

▪2.3. Die Rolle des Publikums

▪2.4. Provokation als die Waffe der Schwachen

▪3. Soziale Bewegungen als Provokation

▪3.1. Der zivile Ungehorsam

▪3.2. Terrorismus

▪4. Zusammenfassung

▪5. Provokationen als ziviler Ungehorsam

▪6. Literatur
1. Einleitung

Wir werden uns hier mit dem Thema der Provokation befassen. Die Provokation ist eine manipulative Strategie, ähnlich wie bei der Intrige oder der Verschwörung wird versucht, jemanden zu einem Verhalten oder zu einer Handlung zu bringen, welche er ohne die Intervention nicht oder nicht so gezeigt hätte. Es wäre interessant gewesen, solche Strategien im Zusammenhang zu untersuchen, leider reicht der Platz in einer Hausarbeit hierfür nicht aus.

Bei dieser Untersuchung stützen wir uns hauptsächlich auf den einschlägigen Aufsatz von Rainer Paris. Wir werden zunächst die wesentlichen Merkmale der Provokation darstellen. Der Hauptteil der Arbeit besteht in dem Versuch, soziale Bewegungen als Provokation des Staates und der Gesellschaft mit dem Ziel der Veränderung derselben zu beschreiben. Am Ende wird die Frage von Vor- und Nachteilen dieser Strategie stehen.

2. Provokation: Definition und Abgrenzung

Die Provokation dient vorallem  der Selbstbestätigung der subjektiven Realitätskonstruktion:

„Sie [die Provokationen] sind strategische Elemente der kollektiven Aktion und Grundmuster einer symbolischen Praxis, in der sich die Akteure ihrer Fremd- und Selbstbilder vergewissern, ihre Realitätskonstruktionen schützen und die Bewegung in Bewegung halten. Provokationen sind ebenso Methoden der Selbstdarstellung wie der Eskalation von Konflikten… Als Medium der Zuweisung von Identitäten eignen sich Provokationen besonders deshalb, weil sie Auslöser und Verstärker zirkulärer sozialer Konflikte sind. Provokationen fordern Reaktionen heraus, die ihrerseits wieder als Provokationen aufgefasst werden können… Es gibt eine Dynamik der Provokation, die, einmal in Gang gesetzt, die Akteure „automatisch“ in typische Zugzwänge bringt…“ (Paris 1998, 57)

Auf den Punkt der Identitätsstiftung durch Provokation werden wir später noch einmal zurückkommen.

2.1. Definition

Paris definiert Provokation als:

„… einen absichtlich herbeigeführten überraschenden Normbruch, der den anderen in einen offenen Konflikt hineinziehen und zu einer Reaktion veranlassen soll, die ihn, zumal in den Augen Dritter moralisch diskreditiert und entlarvt.“ (Paris 1998, 58)

Der Normbruch ist die Verletzung von Regeln des jeweiligen sozialen Systems. Allerdings muss man hier zwischen vorsätzlichem und fahrlässigem Normbruch unterscheiden. In bestimmten Kulturkreisen kann die Ausführung oder Unterlassung einer bestimmten Geste als Beleidigung oder Provokation (als Herausforderung der Autorität des anderen) verstanden werden. Wer allerdings die Regeln des sozialen Systems nicht kennt, hat vermutlich nicht die Absicht gehabt, den anderen herauszufordern. Der Akteur muss also sein Gegenüber gut genug kennen, um dessen „weiche“ Stelle aufzuspüren und gezielt anzugreifen.

Wie die meisten Handlungen ist die Provokation auf Sparsamkeit  aus (mit möglichst geringem Aufwand eine möglichst große Wirkung erzielen). 

Der Provokateur legt es allerdings darauf an, dass nicht er, sondern der andere als Normbrecher dasteht.

„[Der Provokateur} nimmt ein Stigma auf sich, er stigmatisiert sich selbst. Gleichzeitig aber ist es das Ziel der Provokation, Stigmata abzuwerfen und auf andere umzuwälzen. Nicht der Normbrecher, sondern die Normhüter und –durchsetzer sollen letztlich als die eigentlich Schuldigen dastehen.“ (Paris 1998, 58)

Hierin zeigt sich das Subtile  provokativen Verhaltens. Anstatt den anderen offensiv anzugreifen, provoziert man den Angriff des anderen, man kann sich als Opfer des anderen darstellen.

Paris meint, dass auch die Überraschung entscheidend für den Erfolg ist. Erwartet der Provozierte die Provokation, ist sie also nicht überraschend, ist er darauf vorbereitet und kann die Attacke abwehren oder ignorieren. Die Überraschung bezieht sich meistens auf die jeweilige Situation, denn geschickte Provokationen setzen eine längere Bekanntschaft voraus, eine wahrscheinlich konfliktträchtige Beziehung, so dass ein Angriff nicht vollkommen überraschend sein dürfte.

Der Provokateur kann, wenn seine Handlung erfolgreich war, er aber trotzdem erwischt wird, seine Handlung als legitim erscheinen lassen, angesichts der Handlung des anderen: „Mein Verhalten war vielleicht falsch, aber seht doch mal, wie er reagiert!“. Das ist natürlich keine gültige Argumentation, weil nicht bewiesen werden kann, dass die Reaktion des anderen so erfolgt wäre, wenn der Akteur nicht herausgefordert worden wäre. . In den Massenmedien lässt sich aber eine solche Argumentationsform häufig finden. Einfacher ist es, den anderen von vorneherein als den Bösen darzustellen, als der er enttarnt werden soll, der Zweck legitimiert die Mittel.

2.2. Die Reaktion des Anderen

Eine Provokation kommt nur zustande, wenn der Andere versteht und annimmt, er muss verstehen, dass er angegriffen wurde und die Herausforderung annehmen, indem er reagiert:

„Von einer bestimmten Eskalationsschwelle an entsteht ein Bedarf nach Provokationen der Gegenseite, um selbst endlich losschlagen zu können. Der andere soll den Anlass liefern für den eigenen Angriff. Man erklärt das, was er tut zu einer Provokation oder provoziert selbst eine Provokation, um guten Gewissens angreifen zu können. Mit dem Ausbruch des Konfliktes hat die Provokation ihr erstes Ziel erreicht.“ (Paris 1998, 62)

Eine Provokation ist dann erfolgreich, wenn der andere zu einer Reaktion genötigt worden ist. Reagiert der Andere nicht, steht der Provokateur als Verlierer, als Dummkopf da. Natürlich kann eine Provokation auch pariert werden, in diesem Falle erkennt man allerdings den anderen als Gegner an. Man läuft außerdem Gefahr, durch seine Reaktion den anderen zu weiteren Sticheleien zu ermuntern und so eventuell doch noch zu verlieren.

Hat der Gegner die Handlung des anderen als Provokation erkannt (auch wenn es keine war), kann jede weitere Handlung des anderen (Beschwichtigung, Leugnung etc.) als Provokation aufgefasst werden. Die Teilnehmer an der Kommunikation sind in einer Art von Teufelskreis gefangen, aus dem sie nur schwer ohne Gesichtsverlust heraustreten können.

Scheitert die Provokation, kann sich der Angreifer dazu entschließen, die Intensität der Provokation stufenweise zu erhöhen. Er riskiert damit, dass er selbst, sein Gegner oder ein Dritter seine Motive oder Strategien aufdeckt; er selbst kann unvorsichtig werden, die anderen werden seine Strategie aufdecken wollen, um ihn zu diskreditieren. Eine Provokation kann, eventuell beabsichtigt, in körperliche Gewalt ausarten. Auch kann er sich selbst zu einer emotionalen und daher gefährlichen Reaktion hinreißen lassen.

Die beste Gegenstrategie besteht darin, den Provokateur als Normbrecher oder eben als Provokateur zu entlarven, so kann man sich selbst als Moralisten und Opfer hochstilisieren.  

Provokation als die Erzeugung des anderen

Ziel der Provokation ist es, den anderen als den darzustellen, der er in den Augen des Provokateurs ist, die Provokation ist also nicht nur eine Technik der Selbstdarstellung, sondern auch der Darstellung des Anderen. Dadurch wird auch das Selbstbild gestärkt, der gute Sheriff entlarvt den Bösewicht:

„Der Provokateur glaubt immer schon zu wissen, was die Wahrheit des anderen ist, und er provoziert ihn solange, bis jener schließlich dem, was der andere von ihm glaubt, auch wirklich entspricht. Das negative Fremdbild, das der Provokation zugrunde liegt, wird durch die Technik der Provokation selbst bestätigt. Sie erzeugt den anderen als den, als den er entlarvt werden soll…“ (Paris 1998, 65)

Ich würde hier allerdings einwenden, dass Provokation auch als gezielte Eskalationsstrategie verstanden wird: Ich kann genau wissen, dass der Andere ein ruhiger Mensch ist und dass nur extreme Situationen ihn zu extremen Reaktionen verleiten. Einige Formen des Mobbing laufen hierauf hinaus.

Wenn Dritte bei der Provokation anwesend sind, und dass ist meistens der Fall, erhöhen sich gleichzeitig Chancen und Risiken des Provokateurs. Der Provokateur riskiert, durch Verbündete seines Gegners enttarnt und diskreditiert zu werden. Da es aber sein Ziel ist, den anderen „vorzuführen“, kann er schlecht auf Publikum verzichten. Hat es einen Normbruch gegeben, muss der Angegriffene einen größeren Normbruch verüben, der den ersten Normbruch in den Schatten stellt. In einigen amerikanischen Talkshows werden die Gegner durch den Talkmaster gezielt gegeneinander aufgehetzt, ohne das die beiden oder die Zuschauer die Inszenierung bemerken beziehungsweise die absichtliche Herbeiführung dieser Situation bewusst zur Kenntnis nehmen. 

2.3. Die Rolle des Publikums

Bei solchen Machtspielen ist die Rolle des Publikums eher zwiespältig. Das Gros der Zuschauer spielt keine Rolle (deshalb heißen sie auch Zuschauer).

Aber der Provokateur muss auch die Interpretationsmuster seiner Zuschauer kennen. Er läuft sonst Gefahr, dass seine Handlung als Provokation, als ein niedriger Akt erkannt und geahndet wird.  Andererseits kann es auch sein, dass eine Handlung, die nicht als Provokation gemeint war, vom Publikum als solche aufgefasst wird. Die Reaktion des anderen würde dann als legitim erachtet, weil er provoziert worden ist. Der Andere wiederum muss, wenn ihm die Ansichten des Publikums wichtig sind, seine Reaktion darauf abwägen, wie das Publikum sie interpretieren wird, schlechte Zeiten für Choleriker. Wenn man zum Beispiel unterschiedliche Presseberichte zu einer politischen Entscheidung betrachtet, wird diese Aktion von unterschiedlichen Beobachtern als Schwäche, Resignation oder Stärke ausgelegt. Genauso hätte man Nichthandeln als Demonstration von Stärke oder Schwäche interpretiert. Der Angegriffene muss also seine Reaktion sorgfältig abwägen. Besitzt er genug Erfahrung und Geschick, kann er die Situation einfach umdefinieren, und so seine eigene Realität durchsetzen.

Mit entsprechenden rhetorischen und geistigen Fähigkeiten lassen sich leicht Sympathien gewinnen, in diesem Falle ist die Schlacht bereits entschieden.

2.4. Provokation als die Waffe der Schwachen?

Paris meint, dass die Provokation eher in Beziehungen mit Machtgefällen auftreten und meistens von der schwächeren Seite angewandt werden (Paris 1998, 68). Eher nebenbei macht er eine in unserem Kontext wichtige Anmerkung:

„Für den angefochten Mächtige hingegen sind Provokationen oftmals durchaus opportun, wenn es darum geht, Sanktionsanlässe zu schaffen oder Legitimationsbarrieren wegzuräumen, die der Aktivierung der eigenen Machtressourcen im Wege stehen. Solche Provokationen von oben haben den klaren instrumentellen Sinn, die Anführer zu kriminalisieren und sozial auszugrenzen. Indem sie die Situation bewusst eskalieren, streben sie gleichzeitig, zumindest punktuell den Ausnahmezustand an… Freilich verweist die Tatsache, dass der Mächtige meist nicht selbst als Provokateur in Erscheinung tritt, sondern die schmutzige Arbeit von einem eingeschleusten agent provocateur erledigen lässt, darauf, mit welchem erheblichen Risiken diese Konfliktstrategie auch für den Mächtigen verhaftet ist.“ (Paris 1998, 68)

Wir werden später noch einmal darauf zurückkommen. Provokation ist also die Waffe des Schwachen, Er hat viel zu gewinnen und wenig zu verlieren, der Mächtige hingegen hat viel zu verlieren und wenig zu gewinnen. Seine Legitimität und seine Macht wird tollkühn in Frage gestellt. Reagiert er nicht angemessen darauf, droht ihm ein Gesichts- und damit Machtverlust, reagiert er unangemessen hart, kann auch dies seine Kompetenz, seine Macht und Autorität in Frage stellen („warum reagiert er so übertrieben, wenn er doch so stark ist?“). Auch die Notwendigkeit der Machtdemonstration kann als Zeichen von Schwäche oder Hilflosigkeit gedeutet werden.

Paris fasst abschließend zusammen:

„Provokationen sind Initiativen des Neuaushandelns von Normalität. Sie wollen Legitimität umverteilen und dadurch die Karten im Machtspiel neu mischen… Der vorsätzliche Normbruch kann den anderen in die Defensive drängen und den Provokateur, vor allem in den Augen Dritter moralisch aufwerten.  Ob aber die Gegenstigmatisierung des Mächtigen seine Macht auch auf Dauer unterhöhlt, wird zum einen von der Gesamtkonstellation der Kraftverhältnisse in der Figuration der allgemeinen Verteilung der Ressourcen und Machtmittel und des Zugriffs auf organisatorische Machtquellen abhängen und zum anderen nicht zuletzt dadurch entschieden, inwieweit die Provokation als Element einer übergreifenden Strategie der Gegenmacht gleichzeitig Ansprüche artikulieren, die prinzipiell verallgemeinerfähige Interessen repräsentieren.“ (Paris 1998, 71)

Im Klartext: Als Strategie zur Änderung der Machtverhältnisse dürfte Provokation in der Regel nicht ausreichen. Sie kann aber Teil einer größeren Strategie sein, also durchaus funktional in Verknüpfung mit anderen Machtmitteln. Offenbar benötigt man aber auch Verbündete, die dass angestrebte Ziel unterstützen.

3. Soziale Bewegungen als Provokation

In einem Staat, in dem eine stabile Rechtsordnung herrscht, kann man das Verstoßen gegen Gesetze als Systemprovokation bezeichnen. Die asymmetrische Machtverteilung Bürger gegen Staat sticht ins Auge, in jedem Vergehen steckt auch die Herausforderung an die Ordnungshüter („ihr kriegt mich sowieso nicht“), Ausnahmen sind Mundraub, spontane oder Affekt-Vergehen, die ja auch in Deutschland zumeist geringer geahndet werden. Eindeutig ist die Provokation beim zivilen Ungehorsam und des zivilen bewaffneten Kampfes gegen einen Staat (also Terrorismus oder neutraler Rebellion). Wir wollen im folgenden nicht auf moralische Wertungen oder auf Fragen a la „rechtfertigt der Zweck die Mittel“ eingehen. Was die USA, Israel oder Russland als Terrorismus bezeichnen, wird von anderen als Befreiungskampf gesehen. Es soll keine Gleichsetzung von gewaltloser oder gewalttätiger Methoden erfolgen.

Die beiden genannten Strategien ziviler Ungehorsam und Terrorismus zielen auf eine Veränderung des Systems, ohne das System direkt bekämpfen zu wollen oder zu können.

3.1. Der zivile Ungehorsam

Der zivile Ungehorsam zielt in der Regel nicht auf die Zerstörung des Systems, sondern auf langfristige Veränderung. Ausnahmen waren Indien und Südafrika, wo das System aber auch nicht einmal den Anschein von Legitimität genoss. Das System soll gewaltfrei, nicht unbedingt friedlich, herausgefordert werden. Das System seinerseits steht vor der Herausforderung, auf die Provokation zu reagieren. Die nicht ganz unbeteiligten Dritten sind die Bürger, also eine anonyme nicht handelnde Masse, sowie die veröffentlichte Meinung, die in der Regel aber nicht als neutrale Beobachter auftreten. Ziviler Ungehorsam versucht auf dem schmalen Grat zwischen Legalität und Illegalität zu balancieren. Einerseits kann gegen geltende Gesetze oder polizeiliche Anordnungen gezielt verstoßen werden andererseits wird auf Gewaltausübung explizit verzichtet. Das Ziel besteht nicht darin, eine repressive Handlung des Staates zu provozieren oder ins Gefängnis geworfen zu werden. Ein solches Ergebnis wird aber durchaus in Kauf genommen. 

Dem allmächtigen Staat soll eine Macht entgegengesetzt werden, über die er nicht ohne weiteres hinweggehen kann. Die Provokation besteht darin, gezielt die Macht des Staates in Frage zu stellen. Während die meisten Menschen sich an die Gesetze halten, aus ethischen Gründen oder aus Furcht vor Bestrafung, wird hier offen und gezielt die Staatsmacht herausgefordert. Henry David Thoreau, ein Vordenker des zivilen Ungehorsams, wurde für eine Nacht ins Gefängnis gesteckt, weil er die Steuern nicht bezahlt hatte, er behauptete zumindest, diese aus Prinzip (aus Protest gegen die Sklaverei und den Krieg gegen Mexiko) nicht bezahlt zu haben.

Soziale Bewegungen stellen ein Zeichen für eine Krise des politischen Systems dar, es wird ein Defizit wahrgenommen, ein Loch, dass gestopft werden soll. Dabei muss es sich nicht um soziale Missstände handeln, in den USA gibt es Gruppen, die für das Recht kämpfen, Waffen zu tragen, andere möchten in Kneipen und Restaurants rauchen oder ohne Helm und Gurt am Straßenverkehr teilnehmen. Um Druck auf die Regierung auszuüben, ist die Medienpräsenz am ehesten geeignet, hier wird Öffentlichkeit hergestellt. Die Regierung kann auf die Forderungen eingehen oder radikal dagegen angehen, so oder so ist sie zu einer Reaktion gezwungen. Die besten Chancen, einen Platz in der Tagesschau zu bekommen, hat man durch spektakuläre Aktionen, das ist spätestens seit der RAF klar, Greenpeace, attac und die Studentenproteste des letzten Jahres haben dies deutlich gemacht.

Nach Paris hat die Provokation eine Identität stiftende Funktion:

„Soziale Bewegungen brauchen handliche Gegner, und Provokationen stellen diese Handlichkeit her. indem sie den anderen als Gegner identifizieren, identifizieren sich die Akteure selbst als Bewegung. Dabei wird die Physiognomie des anderen in der Regel eine mittlere Kontur aufweisen: Er muss einerseits klar identifizierbar sein …, andererseits aber müssen seine Züge doch so sehr verschwimmen, dass Reaktionen von ihm, die nicht ins vorgegebene Raster passen, das negative Fremdbild nicht gefährden.“ (Paris 1998, 73)

Dies gilt nicht nur für soziale Gruppen, sondern auch für Massenmedien und Politik. Es ist bekannt, dass Regierungen gelegentlich agent provocateure nutzen, also Personen in Gruppen einschleusen, die dann die Gruppe zu Gewalttaten oder kriminellen Handlungen drängen. Der Staat kann sich dann als Retter präsentieren, ein repressives Vorgehen ist legitimiert. 

Die soziale Bewegung, die sich für zivilen Widerstand entscheidet, verfügt über keine großen Machtmittel. Die National Rifle Association in den USA hat eine starke Lobby, prominente Anhänger und viel Geld, sie braucht daher nicht auf die Straße zu gehen.

Das Problem ist natürlich klar. Eine erfolgreiche Provokation lässt sich nicht wiederholen. Entweder muss sie gesteigert werden oder sie verliert an Wirkung. Greenpeace kann zwar einen Walfänger besetzen und damit Aufmerksamkeit erheischen, würde Greenpeace das jede Woche tun, würde das Interesse schnell nachlassen, ganz abgesehen davon, dass die Gegenseite Maßnahmen ergreift, die einer Wiederholung schwierig oder unmöglich machen. Nach dem die „Montags-Demos“ eine Zeit lang die Nachrichten dominierten, verlieren diese wieder an Aufmerksamkeit.

Man könnte einwenden, dass die Demokratie andere, legale und weniger konfliktträchtige Mittel zur Verfügung stellt, um gegen unterstellte Ungerechtigkeiten vorzugehen. Briefe an den Abgeordneten, Unterschriftenlisten oder gar Klagen vor den Gerichten oder eine eigene Partei gründen. Allerdings sind diese Mittel schnell ausgeschöpft: Briefe können nicht gelesen oder beantwortet werden, Parteien gründen kostet Geld und Zeit, Klagen tun dies erst recht.

Die Bewegung selbst kann durch die Provokation ihre Identität aufbauen. Gemeinsam einsam, durch den gemeinschaftlichen Ungehorsam grenzt sich die Gruppe nach außen ab. 

Die Provokation kann auch als Mutprobe fungieren, um festzustellen, wer dazu gehört und Heuchler zu enttarnen.

Die Provokation war erfolgreich, wenn der Gegner „entlarvt“ worden ist. Während ein solcher Erfolg in einer Zweierkonstellation an der Reaktion des Publikums leicht feststellbar ist, lässt sich dies bei einer Provokation der Staatsgewalt weniger leicht beantworten. Reagieren die Staatsorgane mit Repression, könnte dies beweisen, das der Staat der eigentliche Bösewicht ist, den es zu bestrafen gilt. Gelingt es dem Staat jedoch, die Provokateure als Terroristen, als die eigentlichen Feinde der Gesellschaft darzustellen, erscheinen seine Repressionen ganz klar als angemessen, es wird dann noch immer Leute geben, die ein härteres Durchgreifen fordern. Das Beispiel Südafrika mag genügen: Der ANC begann eine Kampagne des passiven Widerstandes, der vom Staat massiv kriminalisiert und schließlich abgebrochen wurde. Vor nicht all zu langer Zeit reichte es aus, jemanden als Kommunisten zu bezeichnen, um dessen Ruf zu ruinieren. Andererseits können tatsächlich Veränderungen herbei geführt werden; zwar waren die Anti-Kriegs-Demonstrationen gegen den Irak-Krieg der USA nicht erfolgreich in dem Sinne, dass sie diesen Krieg verhindert hätten. Sie haben jedoch gezeigt, dass es vor allem Regierungen und nicht „das Volk“ waren, die diesen Krieg wollten; als indirekte Folge hat Spanien seine Regierung abgewählt, Bush und Blair wackeln zumindest, die USA haben an Ansehen kräftig einbebüßt.

3.2. Terrorismus

Der Terrorismus zielt darauf ab, das System mit Gewalt zu verändern. Dabei zielt er nicht auf eine militärische oder sonstige Konfrontation ab, er nutzt das Überraschungsmoment aus, um an einem Ort eine Aktion durchzuführen und sich danach zurückzuziehen. Das Ziel ist dabei, den Staat durch sich selbst zu Fall zu bringen:o

„Sie [die Terroristen] müssen, wie die einprägsame Metapher lautet, bewirken, dass er [der Staat] durch sein eigenes Gewicht zu Fall kommt. Konkret soll dies so aussehen, dass die Staatsführung durch terroristische Anschläge zu einer repressiven Überreaktion verleitet wird, die dann die angestrebte Volkserhebung auslöst. Waldmann 1998, 32

Die Guerillastrategie zielt hingegen auf eine militärische Konfrontation und die Vertreibung der Regierung ab. Waldmann setzt die Strategie der Terroristen in Bezug zu Paris´ Studie:

„Wer provoziert, sucht den Konflikt. Er visiert den Feind an, jedoch in einer spezifischen Weise: Indem er die andere Seite reizt, bis diese zum Gegenschlag ausholt, so dass es so aussieht, als sei sie der aggressive Part.“ (Waldmann 1998, 34)

Waldmann sieht drei Voraussetzungen für den Erfolg der Provokationsstrategie:

„Die Terroristen müssen, damit das „Provokations-Repressions-Schema“ in ihrem Sinne funktioniert, dafür sorgen:

– dass ihre Gewaltbotschaften eindeutig sind;

– dass sie von den anvisierten Adressatengruppen verstanden, d. h. dechiffriert werden.

– schließlich, dass diese willens und in der Lage sind, darauf so zu reagieren, wie sich dies die Gewaltaktivisten vorstellen.“ (Waldmann 1998 ,35)

Der 11. September 2001 ist leider nur begrenzt als Beispiel geeignet, das Problem besteht darin, dass die Motive der Täter unklar sind, wenn man davon ausgeht, dass diese Motive rational waren (was angesichts der exakten Planung und Finanzierung anzunehmen ist). Mit Sicherheit bestand das Ziel der Täter nicht darin, einen militärischen Angriff auf Afghanistan oder den Irak zu legitimieren. Die westlichen Medien und Diskussionen fixieren sich zu stark auf die Terroranschläge – von New York über Bali bis Madrid, es werden Zusammenhänge hergestellt, die zumindest fragwürdig sind. In den ärmeren Teilen der Welt liegt der Fokus auf der militärischen Strategie und der arroganten Rhetorik der USA. Unabhängig davon, welche Motive die Anschläge auf das WTC gehabt haben mögen, dreht sich hier die Rolle um: die Terroranschläge werden als einziges und daher legitimes Kampfmittel gegen die militärisch und ökonomisch Übermächtigen angesehen. Hinzu kommt eine fast schon imperialistische Rhetorik und der Versuch der wissenschaftlichen Rechtfertigung der amerikanischen Machtstrategie (Rumsfeld, Robert Kagan, Samuel Huntington, Brzezinski etc). [1] Die von den USA angeführten Kriege werden nicht als Folge des 11. September oder gar als Befreiungskriege gesehen, die Terroranschläge haben nur die wahren Absichten und Methoden der Imperialisten deutlich gemacht. Ein Drittel der Staatenwelt wird als potentielle Kriegsziele in Erwägung gezogen.

Eine der vielen Fehleinschätzungen der RAF basierte darauf, dass sie ihre Wirkung auf die als interessiert unterstellten Dritten und auf die Gesamtbevölkerung nicht einschätzen konnten. Daher blieben die beiden entscheidenen  Faktoren, die zu ihrem Erfolg hätten führen können aus:

„Die Vertreter des Staatsapparates müssen zu übertriebenen Abwehrmaßnahmen greifen. Und diese repressive Überreaktion muss dazu führen, dass der bis dahin passiven Bevölkerung klar wird, wie unerträglich ihre Lage ist. Nur dann macht sie mit den Terroristen gemeinsame Sache und sagt dem Regime den Kampf an. (Waldmann 1998 , 37)

Das Problem liegt darin, dass in demokratischen Regierungen repressive Maßnahmen schwerer durchzusetzen sind, wobei es da auch Ausnahmen gibt, wie etwa in Italien. Andererseits sind die Menschen eher träge, eine versammelte Menschenmasse lässt sich leicht aufpeitschen. Die Erregung über die abendlichen Nachrichten lässt meistens beim anschließenden Krimi nach. Last but not least gibt es hier eine Art Schweigespirale. Potentielle Sympathisanten schweigen lieber, um nicht die Schmähungen von Bekannten, Nachbarn, Arbeitskollegen etc. über sich ergehen zu lassen. Die entscheidende Schwäche der Terroristen liegt in ihrer Reaktionsabhängigkeit. Möglicherweise war der Anschlag auf das WTC eine Art Paukenschlag, mit dem der heilige Krieg der Gläubigen gegen den Westen eingeläutet werden sollte, in diesem Falle hätten sich die Anschläge in Ländern mit großer muslimischer Bevölkerung häufen müssen, was nicht der Fall war. Zwar wird der Staat für die Terroristen, Sympathisanten und Verdächtige tatsächlich zu der Repressionsmaschine, für die sie ihn halten, jedoch ist diese Zahl im Vergleich mit der Gesamtbevölkerung so gering, dass sie nicht ins Gewicht fällt.

4. Zusammenfassung

Nach Dörner entscheidet sich die Größe der Komplexität einer Situation über die Zahl der relevanten Faktoren sowie deren Vernetztheit, d. h. wenn Faktor A beeinflusst wird, kann auch B sich verändern, oder umgekehrt. Provokation kann als komplexes Handlungsmuster beschrieben werden, die folgenden Faktoren müssen durch den Provokateur Berücksichtigung finden: Gehen wir davon aus, dass Provokateur und Provozierter ein soziales System bilden, dann besteht ihre Umwelt in den Zuschauern und der Umgebung. Für den Erfolg des Provokateurs sind folgende Fragen entscheidend:

1. A muss B gut genug kennen, um seine Mittel ökonomisch einsetzen zu können. Wenn er die magische Schwelle überschreitet, verliert er die Sympathie des Publikums.

2. B muss die Reaktion zeigen, die von A erwartet wird. Bleibt die von A intendierte „Selbstentblößung“ von B aus, muss A spontan einen neuen Plan entwerfen und immer noch darauf achten, nicht zu weit zu gehen.

3. Wenn B sich zu einer negativen Reaktion hinreißen lässt, bleibt noch die schwer einzuschätzende Reaktion des Publikums. Bekanntermaßen lassen sich Anwesende leicht durch eine ausgereifte Rhetorik und Gestus beeindrucken. Es kann aber passieren, dass die Sympathisanten von B die Aufmerksamkeit auf den Faupax von A, seinen Moralverstoß lenken. Die Provokation kann also erst erfolgreich sein, wenn die Absicht von A, B vor den Zuschauern zu diskreditieren, erfolgreich war. Ein solcher Erfolg währt selten besonders lang. Die Entrüstung ist groß, flammt aber sehr schnell wieder ab.

Mit diesem Schema können wir auch den relativen Erfolg von Terrorgruppen bzw. sozialen Bewegungen erklären. Die Tierschützer von PETA initiierten vor einiger Zeit eine Kampagne, in der sie versuchten, die landwirtschaftliche und wissenschaftliche Tierhaltung mit dem Holocaust gleichzusetzen. Die italienische Firma Benetton hat mit Kriegsbildern und Bildern AIDS-Kranker geworben. Publizität war ihnen sicher, vermutlich sind Spendenaufkommen, Mitgliederzahlen bzw. Verkaufszahlen auch angestiegen. Die RAF hat zumindest erreicht, dass ihre Führer, vor allem nach ihrer Verhaftung wie eine Mischung aus Robin Hood, Bonnie und Clyde und Nelson Mandela wirkten. Die zweite Generation arbeitete schließlich nur noch an deren Befreiung, mit dem Tod der Gefangenen endete auch die Geschichte der RAF. 

Dadurch wird auch deutlich, wie beschränkt die Provokation als Eskalationsstrategie wirksam ist. Greenpeace hat wohl festgestellt, dass man mit lokaler Arbeit mehr erreicht als mit PR-trächtigen Aktionen und auch Attac konnte sich nicht mehr auf die Wirkung seiner  Anfangszeit ausruhen.

Soziale Bewegungen können also Provokationen verwenden, um vom Staat und der Gesellschaft  die von ihnen gewünschten Veränderungen zu erreichen. Da ihre Machtmittel begrenzt sind und ihre Gegner nicht direkt angreifbar sind (was ist der „Staat“ und wo befindet sich die „Gesellschaft“?), können sie sich gezwungen sehen, über das indirekte Einwirken auf die öffentliche Meinung Einfluß zu nehmen, also im wesentlichen über die Massenmedien. Manches Ereignis findet nur statt, damit die Massenmedien darüber berichten können, viele Provokationen und viele Terroranschläge dienen ausschließlich oder in erster Linie dem Zweck, das jeweilige Ereignis in die Nachrichten zu bringen. Die Gruppe, die auf Dauer auf diese Strategie setzt, wird jedoch früher oder später aus dem Medienfokus verschwinden, weil Provokationen irgendwann ihre Wirkung verlieren.

5. Provokationen als ziviler Ungehorsam

Wie sich gezeigt hat, lassen sich viele Sachverhalte als Provokation bezeichnen, die man auch anders benennen könnte. Die Punks der 70er und 80er Jahre provozierten das Establishment, indem sie gegen bestimmte Normen von Kleidung und Aussehen systematisch verstießen. Jugendliche provozieren ihre Eltern, indem sie gegen deren Vorschriften rebellieren. Homosexuelle provozieren, indem sie in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten austauschen usw. In diesen Beispielen wird das positive an der Provokation hervorgehoben: Sie kann dem Zweck dienen, sich von Autoritäten zu befreien, alte und überkommene Konventionen zu brechen, mit ihnen kann auf Probleme und Doppelmoral aufmerksam gemacht werden, sie können zu Diskussionen und so zu einer Modernisierung der Gesellschaft führen. Die Schattenseite der Provokation ist vor allem darin zu sehen, dass der Provokateur das Risiko trägt, sich zu irren, dass seine Annahmen über den Gegner falsch sind oder das sein Verhalten erst den Gegner zu dem macht, für den er ihn gehalten hat (die selffullfilling prophecy). Erst die RAF hat den Anlass geliefert, das BKA auszubauen und Herolds Rasterfahndung salonfähig zu machen. Dennoch muss man sehen, dass in einer Welt, in der Konformismus und Gehorsam als Tugend gelten, in der die Bürger dem Staat immer ohnmächtiger gegenüber stehen und in der die Eliten jede Veränderung des Systems aus eigenen Interessen verhindern, der Ungehorsam und die Provokation die ungefährlichsten und erfolgversprechensten Mittel zur Veränderung der Gesellschaft darstellen. Wenn eine Gesellschaft tatsächlich ohne Krisen auskommt, liegt der Verdacht nahe, dass es um diese Gesellschaft nicht zum besten steht.

6. Literatur

Dörner, Dietrich (1999): Die Logik des misslingens – strategisches Denken im komplexen Situationen. Rowohlt-Verlag. Reinbek bei Hamburg

Paris, Rainer (1998): Stachel und Speer – Machtstudien. Suhrkamp. Frankfurt

>Thoreau, Henry David. Civil Disobidience.

Waldmann, Peter (1998): Terrorismus – Provokation der Macht. Gerling-Akademie-Verlag. München