Urheberrecht und Barrierefreiheit

Vor allem für Geisteswissenschaftler bedeutet das Studium drei Dinge: Lesen, Lesen, Lesen. Vor allem für Blinde und Sehbehinderte ist das ein Riesenproblem.

Als ich Politikwissenschaft studiert habe, das war von 2000 bis 2005, gab es so gut wie nichts. Es gab keine günstigen Computer mit günstigen Screenreadern, es gab so gut wie keine eBooks. Die Literaturversorgung für Sehgeschädigte war schlicht katastrophal. Die Uni hatte zwar einige Bücher auf Kassette – ja auf Audio-Kassette – auflesen lassen. Aber selbst einige hundert aufgelesene Bücher sind praktisch nichts im Vergleich zu den mehrere Millionen Bände umfassenden Bestand der Universitätsbibliothek. Dazu muss man wissen, dass es in einigen Fachbereichen praktisch jedes Jahr Neuauflagen von Büchern gibt und es verpönt ist, aus einer älteren Auflage zu zitieren. In der Politikwissenschaft spielt das weniger eine Rolle als etwa bei den Juristen oder Psychologen. Dafür muss ein Politikwissenschaftler aber auch auf einen wesentlich größeren Bereich von Büchern zugreifen können: für einen Politikwissenschaftler kann abhängig von seinem Thema praktisch jedes Buch wichtig sein.
An der generell schlechten Versorgungslage hat sich bis heute nichts gravierendes verändert. Das restriktive Verwertungsrecht hindert Bibliotheken daran, digitale Bücher in vernünftiger Weise bereit zu stellen. Oft genug darf nur eine begrenzte Zahl von digitalen Büchern ausgeliehen werden. Oder die eBooks müssen an den Terminals der UB gelesen werden, die natürlich nicht mit Screenreadern oder Vergrößerungssoftware ausgestattet sind.

Ich fühle mich immer an den Bibliothekar aus Umberto Ecos „Der Name der Rose“ erinnert, der eifersüchtig darüber wacht, dass die Mönche nur das zu sehen bekommen, was er für sie als relevant einschätzt. Es gibt keine Knappheit an digitalen Büchern, es gibt nur Organisationen, die einen vernünftigen Zugang verhindern.
Ich bewundere ja jeden Blinden, der es tatsächlich zu einem Doktortitel gebracht hat. Für meine Diplomarbeit habe ich mehrere Dutzend Bücher gewälzt. Es hätten wesentlich mehr sein müssen, aber das war für mich in der Zeit nicht zu schaffen. Ich habe damals um die 50 Stunden die Woche in der Bibliothek gesessen. Nicht, weil ich so ein fleißiger Student war, sondern weil ich drei Mal so lange wie ein Sehender brauche, um einen Text zu lesen.
Die technische Ausstattung ist eine nette Sache. Es gibt geschlossene Vorlesesysteme mit Scanner, Texterkennung und Vorlesefunktion. Für das Studium der Geisteswissenschaften sind die Vorlesesysteme nur schlecht geeignet. Im Wissenschaftsbereich wird zeichengenaues Zitieren verlangt, es reicht also schon, wenn ein Zeichen falsch erkannt und übernommen wurde, um falsch zu zitieren. Im Studium ist das weniger schlimm, erst wenn man eine wissenschaftliche Karriere einschlagen möchte, wird das hochproblematisch. Wer schlecht zitiert, ist zwar kein Plagiator, wird aber schnell für schlampig gehalten.
Als Sehbehinderter hat man einen Riesenspaß damit, Zitate aus Büchern abzuschreiben. Ärgerlich ist nicht nur, dass man das tun muss. Das Schlimme ist, dass man genau weiß, dass es wesentlich einfacher sein könnte, wenn das Buch in digitaler Form bereit gestellt würde.
Man glaubt es kaum, dass man im Jahr 2012 immer noch Leute damit beschäftigen kann, Bücher für Blinde einzuscannen oder gar aufzulesen. Man könnte wirklich schönere und sinnvollere Dinge mit seiner Zeit machen.
Im Grunde blockiert das Urheber- und Verwertungsrecht das effiziente Studium. Das trifft nicht nur Sehbehinderte und Blinde, sondern auch Menschen mit Lernstörungen wie Dyslexie, mit Lese-/Rechtschreibschwäche und auch Menschen, die wegen einer Bewegungseinschränkung keine Bücher umblättern können.
Die Situation könnte heute deutlich besser sein. Immerhin gibt es eBook-Reader, es gibt das Apple-System mit Screenreader und eingebautem Screen Magnifyer. Nur der Lesestoff fehlt nach wie vor, insbesondere im deutschsprachigen Raum.
Das ist besonders schlimm für Leute, die wissenschaftlich arbeiten wollen. Aber auch für Menschen, die in einem anspruchsvollen Beruf arbeiten. Wenn jemand nur auf die Bücher zugreifen könnte, die als eBook oder Hörbuch bereit stehen, hätte er als Autodidakt ein großes Problem. Es gibt kaum Sachbücher als eBooks, sieht man mal von den „Werde-reich-undglücklich-in-30-Tagen“-Ratgebern ab, auf die man auch gut verzichten kann. Die deutschen Verlage und ihre Interessensvertretungen sprechen gerne und viel über die Möglichkeiten der Digitalisierung, in der Praxis erscheinen sie aber als große Blockierer. Vor allem das Adobe-eigene System zum Digital Rights Management verhindert einen effizienten und komfortablen Zugriff auf digitale Bücher.
Was mich wirklich erstaunt hat ist die geringe Reaktion der Behindertenverbände. Man sollte meinen, DBSV, DVBS und wie sie alle heißen würden einmal die Notwendigkeit digitaler Bücher und das Recht auf Zugang zu ihnen deutlich machen. Allerdings höre ich bisher nichts. Das mag auch daran liegen, dass Blinde und Sehbehinderte auf Zugangserleichterungen hoffen können, freilich auf Kosten anderer benachteiligter Gruppen.
Von daher erstaunt es mich auch nicht so sehr, dass sich auch keiner der Künstler dafür einsetzt. Es gibt keinen Regener, der eine kleine Wutrede zur besten Sendezeit hält. Es gibt keinen Dingenskirchen, der das in einem banalen Manifest zusammenfasst, und es gibt niemanden bei Zeit Online oder sonst wo, der das veröffentlichen würde.
Was mich angeht bin ich durchaus bereit, für diese Produkte zu bezahlen. Ich bezahle den gleichen Preis, wie ihn ein Sehender bezahlen würde. Mir soll einmal jemand erklären, warum ich mehr bezahlen sollte, z.B. einmal für das gedruckte Buch und noch einmal für eine digitale Fassung.

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