Corona und Barrierefreiheit – ein vorläufiges Fazit

Schematische Darstellung des Corona-Virus
Wie es aussieht, wird uns der Corona-Virus noch weit ins Jahr 2021 beschäftigen. Dennoch können wir nach fast einem Jahr ein vorläufiges und subjektives Fazit ziehen zu der Frage, wie sich Corona auf die Barrierefreiheit ausgewirkt hat.
Vorneweg sei gesagt, dass Barrierefreiheit natürlich ein wichtiges Thema für viele behinderte Menschen ist. Dennoch ist es nicht der einzige Aspekt. Viele chronisch kranke Personen sind seit März in einer dauerhaften Isolation. Für Andere sind die Corona-Maßnahmen eine Belastung in jeder Hinsicht. Welche psychischen Langzeitfolgen Corona und die ergriffenen Maßnahmen haben werden, ist heute noch nicht absehbar. Hinzu kommen natürlich ökonomische Folgen durch Entlassungen, Kurzarbeit und weitere Belastungen.
Es ist leider immer so, dass solche Katastrophen die Armen, zu denen behinderte Menschen häufig gehören, stärker treffen als die reicheren Zeitgenossen.

Mehr Barrieren für die einen, weniger für die anderen

Persönlich kann ich tatsächlich nicht klagen. Nachdem ich in den letzten Jahren viel gereist bin, meist mit Assistenz, habe ich es doch immer mehr als belastend empfunden. Die Unzuverlässigkeit der Deutschen bahn, volle Bahnhöfe und unbekannte Umgebungen waren immer ein Stress-Test für mich.
Corona hat gezeigt, wie viel doch online geht. Ich habe von Mai bis Dezember 2020 mehr Vorträge und Schulungen durchgeführt als in den drei Jahren zuvor. Ich habe an zahlreichen Meetups virtuell teilgenommen, die anderswo stattfanden und für mich nicht zugänglich gewesen wären.
Durch meine Schwerhörigkeit war für mich die Online-Kommunikation ein Vorteil: Ich konnte die Lautstärke der Sprecher:Innen immer für mich passend einstellen.
Ich bin zugleich an meine Grenzen gestoßen, was die Computerbedienung angeht. Der ständige Wechsel zwischen mehr oder weniger unzugänglichen Kommunikations-Plattformen ist eine Belastung. Man arbeitet sich natürlich nicht in Lösungen wie WebEx ein, wenn man weiß, dass man sie vielleicht zwei Mal im Jahr benutzen muss. Microsoft Teams mag für Blinde zugänglich sein, aber es ist eine Zumutung, darin mit anderen Zusammenzuarbeiten. Das Koordinieren zahlreicher Termine via Mail ist eine Herausforderung, aber ich habe dafür noch keine zugängliche Alternative gefunden.
Auch wenn ich die Vorzüge der Onlinekommunikation zu schätzen weiß, ziehe ich doch persönliche Treffen vor, gerade wenn ich die Leute schon länger kenne. Einerseits scheint die Kommunikation online oft fokussierter zu sein. Aber es fehlen die Gespräche, die vor, während und nach den Meeting stattfanden und den eigentlichen Charme von Meetings ausmachten. Ich hatte unter anderem auch mit den Schulungen angefangen, weil mich das dauerende Arbeiten am Computer ohne Kommunikation mit anderen Leute genervt hat. Online-Schulungen erinnern mich gerade bei einer sehr inaktiven Gruppen an einen endlosen Monolog.
Und man neigt bei Online-Meetings eher dazu, viele Termine eng zusammenzuquetschen. Es ist eine Sache, den ganzen Tag am Computer zu arbeiten. Aber einen halben Tag von einem Online-Meeting ins nächste zu wechseln – das muss ich auf Dauer nicht haben. Die ganze Zeit auf einen Bildschirm zu schauen ist keine Sache, die ich langfristig machen möchte. Das ist kurios, weil ich die Menschen ja auch nicht sehen könnte, wenn ich ihnen gegenüber sitzen würde.
Von anderen behinderten Menschen weiß ich, dass sie es ähnlich empfinden. Das ganze Online-Zeug schafft sozusagen eine neue Barriere. Es gibt einen Punkt, an dem man sagt, lieber weniger, aber dafür persönlich. Das mag aber tatsächlich ein Problem des Alters sein. Mit 20 schafft man das vielleicht einfacher als mit 50.
Von wiederum anderen behinderte Menschen weiß ich, dass für sie die Online-Kommunikation die Barrieren sogar verschärft haben. Viele Sehbehinderte haben sich extrem schwer damit getan, weil sie mit den Lösungen nicht zurecht kamen.
Auch Gehörlose haben sich teils schwer getan. Zu zweit kann man gut online kommunizieren. Allerdings erkennen die meisten Lösungen bis heute nicht, dass jemand mit Gebärden spricht, während eine lautsprachlich kommunizierende Person automatisch eingeblendet wird.
Auch für Menschen mit Lernbehinderung sind Präsenz-Situationen häufig leichter zu bewältigen. Mir ist keine Kommunikations-Lösung bekannt, die ohne Weiteres von ihnen bedient werden kann. Persönlicher Support ist aufgrund von Corona eher schwierig zu realisieren.
Leider sind viele der Tools zur Kommunikation und Zusammenarbeit entweder gar nicht barrierefrei oder haben eine sehr hohe Lernkurve. Irgendwie erwartet jeder Auftraggeber, dass man diese Tools entweder schon beherrscht oder sich die Nächte um die Ohren haut, wenn man sie nicht intuitiv versteht.
Mich hätte tatsächlich interessiert, wie es etwa Menschen mit Autismus oder anderen Behinderungen geht. Leider habe ich dazu bisher wenig in Erfahrung bringen können. Hier gibt es Infos zu Lernbehinderung und Barrierefreiheit.
Corona hat allerdings auch gezeigt, wie weit wir von Barrierefreiheit entfernt sind. Das fängt an mit mangelnden Informationen in Gebärdensprache oder Leichter Sprache und endet nicht bei nicht taktil erfassbaren Bodenmarkierungen fürs Abstandhalten. Zudem gibt es eine teils hohe Aggressivität von Menschen, die nicht verstehen, dass man als behinderte Person nicht ohne Weiteres Abstand halten kann.

Fazit

Das Fazit ist leider sehr durchmischt: Für technisch fitte Personen hat sich die Situation in der Regel sogar deutlich verbessert. Von zuhause aus zu arbeiten hat für mobilitäts-Bhinderte Menschen seine Vorzüge, wenn sie technisch ausreichend gut ausgestattet sind. Für technik-unaffine Menschen hat sich die Situation hingegen verkompliziert.
Einerseits ist es toll, wie viel online schon geht und wir sollten darauf hin arbeiten, dass es stärker genutzt wird. Andererseits glaube ich noch nicht, dass Corona zu einem dauerhaften Kulturwandel geführt hat: Also mehr Online-Veranstaltungen, weniger kurze Dienstreisen. Ich vermute eher, dass wir ab 2022 doch eine Rückkehr zu den alten Verhaltensweisen erleben werden bzw. zu einer stärkeren Mischung aus offline und online.
Ich meine aber auch, dass man den Mitarbeitenden mehr Zeit geben sollte, sich an die neuen Formen der Zusammenarbeit anzupassen. Die Veränderung ist doch größer, als die digitale Boheme denken mag.