Crowdsourcing und Barrierefreiheit


Kann die Masse – die Crowd – zur Barrierefreiheit beitragen?
Die Crowd erscheint vor allem dort hilfreich, wo es um einfache, aber zeitaufwendige Aufgaben geht. Das sieht man zum Beispiel an Wheelmap.
Auf Wheelmap können Menschen schnell und einfach bewerten, wie rollstuhlgerecht eine bestimmte Örtlichkeit ist. Man hätte die Menschen auch mit einer seitenlangen Checkliste, einem anständigen Training in der DIN 18040 und einem Maßband losschicken können. Nur wäre dann aus der Crowd ein Häuflein geworden. Für eine Stadt wie Bonn würde es wahrscheinlich zehn Jahre dauern, bis eine kritische Zahl von Gebäuden bewertet worden wäre. Nichts gegen valide Daten, es wäre phantastisch, wenn wir von allen öffentlich zugänglichen Einrichtungen exakt wüssten, wie barrierefrei sie sind. Das Problem ist nur, dass in der Zeit, die man dafür bräuchte ein Großteil der Gebäude umgebaut würde, Cafés würden schließen, Geschäfte zu machen und neue aufmachen. Auch für öffentliche Gebäude wäre interessant zu wissen, wie barrierefrei sie sind. Nur: wie oft geht man ins Bürgerbüro oder ins Rathaus?
Deshalb sind schlechte Daten besser als gar keine. Wer die Anwendung benutzt hat, um einen angeblich barrierefreien Ort zu finden und vor Ort feststellt, dass die Bewertung falsch ist kann die Angaben korrigieren, auch das ist Crowdsourcing.
Der Dienst Amara erlaubt es, Untertitel für Videos auf YouTube per Crowdsourcing zu erstellen. Ein ähnlicher Service ist Opensubtitles.org.
Der Dienst YouDescribe erlaubt die Erstellung von Audiodeskriptionen für YouTube-Clips.
Bilder für die blinden erstellt Bildbeschreibungen für blinde und sehbehinderte Menschen.
Die Crowd kann aber auch eingesetzt werden, um die Barrierefreiheit von Webseiten zu verbessern. Die Firefox-Erweiterung WebVisum erlaubt es zum Beispiel, Webseiten mit Informationen wie Bild- oder Formularbeschreibungen auszustatten, damit sie von Blinden besser genutzt werden können. Viele werden hier einwenden, dass solche Beschreibungen nicht die Qualität professioneller Dienste haben können. Dagegen lässt sich anführen, dass eine mittelmäßige Beschreibung immer noch besser ist als gar keine. Immerhin gibt es hier die Möglichkeit, dass Menschen mit und ohne Behinderung sich darüber austauschen, um gemeinsam die Qualität der Beschreibungen zu verbessern. Die Nicht-Behinderten werden dadurch ganz nebenbei für mögliche Barrieren und die Auswirkungen von Behinderungen sensibilisiert. Leider gibt es den Dienst nicht mehr, aber technisch wäre so etwas gut umsetzbar.
Die App BeMyEyes erlaubt es Blinden über ihre Smartphone-Kamera, sich freiwillige sehende Hilfe zu organisieren, zum Beispiel beim Einkaufen oder bei der Orientierung.
Es ist praktisch unmöglich, eine große Gruppe von Menschen mit Behinderung für den Test einer Webseite auf Barrierefreiheit zu gewinnen. Das Problem besteht darin, dass es eine große Bandbreite an Behinderungen gibt und innerhalb dieser Gruppen die Auswirkungen der Behinderung und die technischen Fähigkeiten stark variieren. Allein bei den Sehstörungen gibt es unzählige Varianten. Mit normalen Ressourcen ist es praktisch nicht möglich, diese Bandbreite in Usability- oder Barrierefreiheitstests abzubilden.
Warum also nicht die Crowd für den Test auf Barrierefreiheit gewinnen? Das hat gleich zwei Vorteile: Tendentiell werden eher Menschen erreicht, die
das Angebot sowieso nutzen und deshalb daran interessiert sind, dass es barrierefrei ist. Außerdem sitzen die Menschen in ihrer gewohnten Umgebung, setzen die Technologien ein, die sie sowieso nutzen und gehen damit sehr viel entspannter an die Aufgabe als sie das in einem Usability-Labor tun würden. Bei einer kleinen Testgruppe ist es häufig schwierig zu sagen, ob an einer bestimmten Stelle tatsächlich ein Problem vorliegt oder ob nur die jeweilige Person nicht damit zurecht kommt. Wenn hingegen eine größere Zahl von Menschen unabhängig voneinander an einer bestimmten Stelle ein Problem findet, ist es auch ein Problem. Es geht natürlich nicht darum, ein völlig barriereunfreies Angebot barrierefrei zu machen, da kann die Crowd auch nicht weiterhelfen. Vielmehr soll die Crowd eine Webseite prüfen, die nach den Regeln der WCAG 2.0 gestaltet wurde. Die Crowd soll mögliche Probleme aufspüren, nicht die Unfähigkeit der Webentwickler kompensieren.
Das war jetzt nur ein kurzer Überblick über Services, die mir bekannt sind. Das Potential ist riesengroß, es fehlt nur noch jemand, der dieses Potenntial erschließt. Bei einigen Screenreadern kommt es z.B. vor, dass sie Wörter falsch aussprechen. Hier wäre es von Vorteil, wenn die Nutzer die Aussprache korrigieren und diese Korrekturen über einen Server direkt teilen könnten. Um blödsinnige Korrekturen zu verhindern – manche Menschen langweilen sich halt – können statistische Methoden eingesetzt werden, so dass eine Änderung erst gültig wird, wenn sie von genügend Leuten umgesetzt wurde.
Das Schöne an der Crowd ist die intrinsische Motivation. Es geht darum, dass Menschen gerne bereit sind, anderen Menschen zu helfen, ohne dafür eine direkte Gegenleistung zu erwarten. Die Angebote sind relativ niedrigschwellig, niemand muss sich in WCAG oder andere komplexe Regularien einlesen, sondern er oder sie kann sofort einsteigen und loslegen.
Das Spannende am Crowdsourcing ist meiner Ansicht nach der proaktive Ansatz. Die Behindertenszene in Deutschland ist für meinen Geschmack zu passiv. Crowdsourcing verschafft ihnen die Instrumente, um selbst etwas zu verbessern – eben wie bei Wheelmap.

Crowdsourcing and Accessibility