Assistive Technology als Bremse für digitale Barrierefreiheit

„Eine Minderheit ist machtlos, wenn sie sich der Mehrheit anpasst; sie ist dann noch nicht einmal eine Minderheit; unwiderstehlich aber ist sie, wenn sie ihr ganzes Gewicht einsetzt.“ henry David Thoreau.

Wir reden zwar gerne und viel über die Barrierefreiheit, aber selten über die verfügbaren Hilfsmittel. Auf der einen Seite hat sich dank mobiler Computer/Smartphones und der ständigen Verfügbarkeit des Internets viel getan. Andererseits müssen wir heute noch für die einfachsten Sachen viel Geld ausgeben, weil die Krankenkassen sich mehr oder weniger aus der Hilfsmittelversorgung verabschiedet haben. Es gibt nicht nur die Barrieren in der Umwelt, auch die Hilfstechnik ist oftmals eine Barriere. Christian Heilmann zeigt in dieser etwas älteren Präsentation, was alles möglich ist.
Es war schon vor zehn Jahren nicht ganz einfach, mit veralteten Programmen und Uralt-Screenreadern unterwegs zu sein. Heute ist es nicht nur unbequem, es behindert uns. Oft genug ist nicht die Internettechnik das blockierende Element, sondern die Hilfstechnik, die dies nicht kann und jenes nicht kann und damit eine an sich barrierefreie Lösung barriereunfrei macht.

Die Innovationen finden woanders statt

Viele Innovationen in der Hilfstechnik kommen nicht von klassischen Hilfsmittelherstellern. Die Marktführer für Screenreader und Screen Magnifier zum Beispiel halten es schon für innovativ, eine Version für ein neues Betriebssystem auf den Markt zu bringen. Bei den Hörhilfen sieht es ähnlich aus.
Apples Eingabehilfen haben für viele Blinde – und andere Behindertengruppen – den Umgang mit dem Internet und der Umwelt entscheidend vereinfacht. Auch Microsoft hat mit Kinect, ohne es eigentlich beabsichtigt zu haben, einen Beitrag zur Barrierefreiheit geleistet. Falls ich mich nicht irre, gab es zuvor keine echten elektronischen Hilfsmittel für Menschen mit Lernbehinderung – korrigiert mich gerne.
Barrierefreiheit und Hilfstechnik wird in Zukunft immer wichtiger. Einerseits werden Menschen immer älter und Behinderungen nehmen im Alter zwangsläufig zu. Andererseits wird es immer schwieriger, Hilfstechnik finanziert zu bekommen. Zudem sind nur wenige Menschen bereit oder in der Lage, sich in komplexe Technik einzuarbeiten.

Innovationskultur fördern

Viele Innovationen kommen heute nicht von großen Unternehmen, sondern von jungen Startups. Startups im Internet-Bereich bekommen große Aufmerksamkeit.
Ein relativ neuer Trend sind Startups im sozialen Bereich. Sie beruhen auf dem Social Business-Gedanken.
Unternehmen im Social-Business-Bereich arbeiten nach den üblichen Regeln wie andere Unternehmen, widmen sich jedoch der Lösung sozialer Probleme. Das klassische Beispiel dafür ist das Mikrokredit-System der Grameen-Bank in Bangladesh. Mittlerweile widmen sich auch eine Reihe von Startups sozialen Problemen. Sie entwickeln zum Beispiel Lösungen für soziale oder ökologische Probleme.
Viele Startups gehen aus universitärer Forschung hervor. Es wird oft kritisiert, dass aus staatlich finanzierter Forschung kommerzielle Produkte werden. Das ist aber immer noch besser als brauchbare Lösungen, die mangels Interesse in den Uni-Schubladen verstauben, weil keiner was davon mitbekommt.
Der maarkt für Hilfstechnik ist größer, als es auf den ersten Blick erscheint. Die Spracheingabe zum Beispiel zielt gerade nicht darauf ab, Menschen mit motorischen Einschränkungen zu helfen – ansonsten würde sie schätzungsweise 20 Mal mehr kosten. Das sie ihnen trotzdem helfen kann ist ein netter Nebeneffekt. Eine schwedische Firma arbeitet an Eye-Tracking-Systemen für alle, ebenfalls eine Technologie, die für Menschen mit eingeschränkter Bewegungsfähigkeit interessant und wahrscheinlich auch erschwinglich sein wird.
Wichtig ist vor allem, dass die Communities anfangen, ihre Interessen laut zu artikulieren. Niemand entwickelt eine Lösung für ein Problem, dass er nicht kennt.

Ist Open die Zukunft

Damit will ich keinesfalls die Arbeit der OpenSource-Bewegung schmälern. Der Screenreader NVDA zum Beispiel gehört neben Apples VoiceOver zu dem besten, was Blinden in letzter Zeit zugute kam. Wir vergessen gerne, wie gut wir es im Vergleich zu Menschen aus armen Ländern haben, die sich nicht einmal einen eigenen Computer leisten können. Für sie gibt es kaum etwas anderes als OpenSource-Lösungen, weil die kommerziellen Lösungen des Westens für sie unerschwinglich sind.
Aber OpenSource hat stets mit zwei Problemen zu kämpfen: zu wenig Geld und zu wenige Ressourcen. Auf jeden Fall brauchen wir OpenSource, aber wir brauchen auch kommerzielle Lösungen, wenn sich kein OpenSource-Produkt etabliert. Und Dienstleistungen, die wir ebenso brauchen, können auch schlecht Opensource umgesetzt werden.
Als Beispiel kann man VerbaVoice nehmen, ein Dienstleister, der sich um die Umwandlung gesprochener Sprache in Schrift für gehörlose und schwerhörige Menschen kümmert. Die Firma Serotek bietet ihren Screenreader System Access für 400 Dollar an, statt 1000 Dollar wie der Marktführer Freedom Scientific zu nehmen. Die deutsche Version von Jaws kostet übrigens 2600 Euro, niemand weiß, warum.
Ein anderes Projekt möchte ein Braille-Display für 300 Pfund bauen. Spottbillig, wenn man bedenkt, dass kaum eine Braillezeile weniger als 5000 Euro kostet.

Hilfsmittel müssen für alle erschwinglich sein

In Indien wurde vor 40 Jahren der Jaipur-Fuß entwickelt, eine Prothese für schlappe 40 Dollar für Menschen, die ein Teil ihres Beines eingebüßt haben. Was die Hightech-Prothesen kosten, die etwa von Sportlern mit Behinderung eingesetzt werden, kann ich leider nicht sagen, aber wirklich günstig werden sie nicht sein.
Im Blindenbereich haben sich die Hilfsmittelhersteller darauf eingerichtet, ihre Produkte teuer zu verkaufen. Entweder haben die Blinden das Geld oder die Krankenkasse hat die Produkte bezahlt. Mit der Entwicklung von Smartphones sind sie ein wenig in Bedrängnis geraten. Ein Smartphone oder Tablet lässt sich z.B. als mobiles Vergrößerungssystem für Sehbehinderte benutzen, als blindengerechtes Navigationssystem, als mobiler Scanner oder als Gerät zum Lesen von Preisen. Irgendwann wird kein Blinder mehr einsehen, warum er tausende Euro für Hilfsmittel ausgeben soll, wenn ein Smartphone für ein paar Hundert Euro den selben Dienst leistet.
The Role of assistive Technology in digital Accessibility