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Interview mit Alide von Bornhaupt über Neurodiversität und digitale Barrierefreiheit


Das ist das Transkript zum Podcast. Ich spreche mit der UX-Expertin Alide Von Bornhaupt über Neuro-Diversität und digitale Barrierefreiheit. Das Transkript wurde mit KI optimiert. Alle Ungenauigkeiten und Fehler gehen auf mein Konto.

Domingos: Herzlich willkommen zu einem neuen Podcast über digitale Barrierefreiheit. Heute habe ich wieder einen spannenden Gast bei mir: Alide von Bonn Haupt. Sie wird sich gleich selbst vorstellen. Wir werden über digitale Barrierefreiheit für neurodiverse Menschen sprechen. Erst einmal herzlichen Dank, Alide, dass du dir die Zeit für den Podcast genommen hast.
Alide: Ja, vielen Dank für die Einladung. Ich freue mich sehr, hier sein zu dürfen.
Domingos: Sehr gerne. Stell dich doch bitte einmal unseren Zuhörenden vor.

Über alide

Alide: Sehr gerne. Also, ich sitze gerade in Nürnberg – ich finde es immer schön, wenn man auch hört, von wo aus jemand spricht. Ich bin seit über zehn Jahren selbstständig, fachlich aus dem Bereich UX und Produktentwicklung. Mein Schwerpunkt liegt auf digitaler Inklusion und Gleichstellung. Dabei orientiere ich mich sehr an den sieben Hauptdimensionen von Vielfalt, weil ich darin einen großen Hebel sehe, um gesellschaftlich etwas zu bewirken.
Da wir inzwischen unseren Alltag stark digital gestalten und viel Zeit im digitalen Raum verbringen, bietet dieser Raum eine große Chance, gesellschaftlichen Einfluss zu nehmen. Wenn eine Gruppe gesehen und berücksichtigt wird, wird sie auch wahrgenommen und kann besser am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.

Domingos: Vielen Dank. Wie kam es dazu, dass du dich speziell mit dem Thema digitale Teilhabe und Neurodiversität beschäftigst?

Alide: Ich bin selbst neurodivergent – das ist glaube ich die einfachste Antwort. Zusätzlich habe ich als weiblich gelesene Person das Problem erlebt, dass die Forschung zu dem Zeitpunkt, als ich meine Diagnose erhielt, noch sehr stark in Stereotypen gedacht hat und dies auch so abgebildet wurde. Meine allererste Diagnose habe ich in den Neunzigern bekommen.
Das führte dazu, dass ich mich immer wieder in Fachliteratur und Studien eingelesen habe. Dabei ist mir aufgefallen, dass es ein riesiges Defizit gibt zwischen dem, was die Gesellschaft weiß, und dem, was wissenschaftlich aktuell erforscht ist. Dazwischen agiert dann die Medizin – und ich habe gedacht: „Das muss doch irgendwie vermittelt werden.“
Parallel hatte ich meine fachliche Expertise aus der Produktentwicklung. Mir ist aufgefallen, dass Barrierefreiheit eigentlich ständig umgesetzt oder angestrebt wird, aber dass Neurodiversität oft nur unter dem Sammelbegriff „kognitive Beeinträchtigungen“ läuft. Dabei steckt so viel Vielfalt dahinter, dass es meiner Meinung nach gesondert betrachtet werden sollte.
So kam es dazu, dass ich begonnen habe, darüber zu referieren, Workshops zu geben und meine Expertise explizit in meine Arbeit einzubringen.

Was ist Neuro-Diversität

Domingos: Was verstehst Du selbst unter Neuro-Diversität. Ich habe keine einheitliche Definition gefunden.
Alide: Vielen Dank, dass du das so offen fragst. Unter Neurodiversität verstehe ich im Grunde alle Menschen, denn jede Person hat eine individuelle Gehirnstruktur. Jede Gehirnstruktur ist leicht unterschiedlich, und genau diese Unterschiede machen die Diversität aus. Anders gesagt: Jeder Mensch ist anders, und entsprechend gibt es verschiedene Gehirnstrukturen.
Daraus ergeben sich zwei weitere Begriffe, die ich kurz erklären möchte: „neurotypisch“ und „neurodivergent“. Ich finde diese Begriffe manchmal schwierig, weil sie auch ein gewisses „Othering“ vermitteln – also ein Gefühl, dass das eine „normal“ und das andere „abweichend“ sei. In der autistischen Community wird manchmal der Begriff „analytisch“ verwendet, was ich passender finde, weil es einfach verschiedene Gehirne gibt, ohne dass eines als Norm gilt.
Zu den neurodivergenten Strukturen gehören zum Beispiel Autismus, ADHS oder Epilepsie. Unsere Gesellschaft, unsere Strukturen, unser Denken und unsere Logik sind auf bestimmte neuronale Muster ausgelegt – andere Strukturen werden einfach nicht berücksichtigt. Ich nenne diese Sichtweise „analytisch“, um zu verdeutlichen, dass es keine Wertung gibt, sondern einfach unterschiedliche Funktionsweisen.
Ich hoffe, das macht es ein bisschen verständlicher.

Domingos: Auf jeden Fall. Würdest du sagen, dass es Probleme bei der durchschnittlichen Wahrnehmung gibt – also bei Dingen, die von manchen Menschen gar nicht als störend wahrgenommen werden? Zum Beispiel Animationen, automatisch startende Videos oder bewegte Werbung. Manche Personen können das einfach ignorieren, andere – insbesondere neurodivergente Personen – haben größere Schwierigkeiten, solche Elemente auszublenden.

Alide: Ja, genau. Ein gutes Bild dafür ist, dass man von einem Fisch verlangen würde, einen Baum hochzuklettern. Auf den ersten Blick denkt man vielleicht: „Ja, warum nicht?“ – aber ein Fisch lebt nun mal im Wasser, nicht an Land. Genauso ist es bei Menschen: Man stellt Anforderungen, die überhaupt nicht zu ihrer Lebensweise oder ihren Fähigkeiten passen, und wundert sich dann, dass sie damit Schwierigkeiten haben.
In der Accessibility-Arbeit nutze ich oft die „Löffeltheorie“ zur Veranschaulichung: Jeder Mensch hat eine begrenzte Energie – einen gewissen „Vorrat an Löffeln“. Je nachdem, welche Interaktionen oder Aufgaben man einer Person abverlangt, kann es für neurodivergente Menschen sehr viel Kraft kosten, Inhalte zu konsumieren, die für andere beiläufig und mühelos sind. Danach sind sie erschöpft und benötigen eine Pause.
Das Ziel sollte sein, dass alle Menschen möglichst flüssig und gleichberechtigt interagieren können. Deshalb ist es wichtig, die unterschiedlichen Bedürfnisse zu berücksichtigen und Barrieren so weit wie möglich zu reduzieren.

Neuro-Diversität berücksichtigen

Domingos: Entwickelst du selber Produkte oder bist du an der Entwicklung beteiligt? Wie ist dein Vorgehen dabei, wenn du das Thema Neuro-Diversität besonders beachten möchtest?

Alide: Ich arbeite mit verschiedenen Herangehensweisen. Zum einen bin ich Teil des Inkludur-Teams und des Include-Test-Teams, und zusätzlich arbeite ich selbstständig. Das sind also drei unterschiedliche Bereiche.
Bei Inkludur führen wir Workshops, Schulungen und Testings durch. Wir begleiten Unternehmen gemeinsam mit Fachexpert:innen, die selbst betroffen sind, und zeigen live, wie sich Software für Betroffene anfühlt. Dadurch können wir auf eine sehr emotionale und empathische Weise vermitteln, wie digitale Produkte wahrgenommen werden.
Beim Include-Test-Team gibt es einen Testing-Pool, in dem unter anderem auch neuroinklusive Personen beteiligt sind. Hier können wir live zeigen: „An dieser Stelle komme ich nicht weiter“, oder „Das ist für mich sehr anstrengend“ – und gleichzeitig aufzeigen, welche Verbesserungen hilfreich wären.
Zusätzlich arbeite ich selbstständig an Schulungen, die direkt in die Umsetzung fließen. Wenn ich beispielsweise eine Software konzipiere, achte ich darauf, dass bestimmte Standards eingehalten werden. Ein Beispiel: Bei einem Formularablauf sage ich frühzeitig, welche Dokumente man vorher bereithalten sollte. So muss die Person nicht nach jedem Schritt im Raum herumlaufen, um Unterlagen zu suchen, oder sich wieder einloggen, falls die Sitzung ausgeloggt ist. Ich achte darauf, dass die Struktur und die Verarbeitung der Daten inklusiv und nutzerfreundlich gestaltet sind, damit Barrieren reduziert werden.

Domingos: Man sieht ja jetzt auch immer mehr Empfehlungen und auch Designsysteme, die sich speziell mit dem Thema Neurodiversität beschäftigen. Hast du dich selber schon mal mit diesem Designsystem und so weiter beschäftigt und hast du da? Hast du eine Meinung dazu, ist das positiv oder negativ oder bin ich hilfreich?

Alide: Ich freue mich immer, wenn ich Menschen sehe, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen, denn es ist unglaublich wichtig. Die Herausforderung liegt darin: Wenn man eine neurodivergente Person kennt, kennt man genau eine – denn wir sprechen hier von Spektren. Häufig weist eine Person nicht nur eine Neurodivergenz auf, sondern ist mehrfach marginalisiert. Das in einem Designsystem abzubilden, ist natürlich sehr komplex. Ein „One-Fits-All“-Ansatz funktioniert hier nicht, und ein Designsystem, das alles perfekt umsetzt, gibt es derzeit nicht.
Es ist aber sehr wichtig, die unterschiedlichen Bedürfnisse anzuerkennen und soweit möglich zu berücksichtigen. Ein Beispiel: Menschen mit ADHS mögen oft Stimulation, also Animationen, Bewegung oder Inhalte in audiovisueller Form. Gleichzeitig können autistische Personen dadurch sehr schnell überreizt werden. Menschen mit Epilepsie oder Tourette könnten dadurch sogar getriggert werden.
Es gibt also viele Widersprüche, und es bedeutet nicht, dass alle Menschen mit Autismus automatisch überreizt werden – auch hier gibt es Unterschiede. Deshalb ist es sehr schwierig, pauschal zu sagen: „Wenn du das machst, machst du es für alle richtig.“
Domingos: Gibt es Tipps, die du generell Leuten, die sich für das Thema interessieren und das auch berücksichtigen wollen, mitgeben würdest?

Alide: Ja, natürlich. Generell kann man sehr strukturiert vorgehen. Ich arbeite so, dass ich mir zuerst die relevanten Standards anschaue – zum Beispiel die EU-Norm 301 549 oder die WCAG. Wie diese umgesetzt werden, ist dann natürlich teilweise Auslegungssache.
Danach überprüfe ich, wie die Struktur aufgebaut ist: Ist sie wiederkehrend? Kann man sich schnell orientieren, oder muss man sich oft neu orientieren? Letzteres kann sehr anstrengend sein. Außerdem schaue ich, ob es verschiedene Möglichkeiten gibt, den Content zu konsumieren.
Ein Beispiel ist der Screenreader: Es gibt Menschen mit Autismus, die lieber damit arbeiten, weil visuelle Inhalte für sie zu anstrengend sind. Andere wiederum möchten nicht hören, sondern lieber Untertitel nutzen. Es geht also immer darum, flexible Zugänge zu schaffen, damit unterschiedliche Bedürfnisse abgedeckt werden.

Es gibt auch Menschen, die sagen: „Ich möchte eigentlich keine Videos hören oder schauen, das ist mir zu anstrengend.“ Solche Bedürfnisse sind natürlich immer beachtenswert. Wenn man sich mit Accessibility auseinandersetzt, weiß man das grundsätzlich – aber besonders bei neurodivergenten Menschen ist es wichtig, zu verstehen, warum diese Bedürfnisse existieren.
In unseren Workshops lernen Teilnehmende genau das: Mit Betroffenen in direkten Austausch zu gehen, zu verstehen, wie sich bestimmte Anforderungen anfühlen und warum sie relevant sind. Frühzeitiges Testen ist dabei entscheidend. Es geht nicht nur um die technische Umsetzung, sondern auch um Mindset und Reflexion. So erkennt man, dass Menschen sich nicht „anstellen“ oder pingelig sind, sondern echte Bedürfnisse haben, die, wenn sie nicht berücksichtigt werden, Energie kosten und Ausgrenzung verursachen können.
Diversität ist wertvoll: Sie bringt viele Perspektiven ein, fördert Austausch und kann die Gesellschaft weiterentwickeln. Um neue Ideen zu entwickeln und inklusiv zusammenzuarbeiten, müssen wir akzeptieren, dass Menschen unterschiedliche Bedürfnisse haben. Das ist kein Problem, sondern ein entscheidender Punkt für eine gemeinsame, inklusive Interaktion.

Alides Channels

Domingos: Das ist ein gutes Schlusswort. Wo kann man dir persönlich folgen, wenn man weiteres Interesse an dem Thema hat?
Alide: Am besten auf linkedin. Ich bin gerade dabei, meine Webseite zu überarbeiten, also alidevonbornhaupt.com. Es kann sein, dass wenn du der. Ihr euch das anhört, dass die dann schon fertig ist. Aber auf linkedin bin ich auf jeden Fall auch sehr aktiv. Also da findet man mich auf jeden Fall.
Domingos: Alles klar, vielen Dank. Das werde ich dann in die Shownotes packen. Ja, dann vielen Dank für das informative Gespräch und viel Erfolg weiterhin bei deinen Workshops und deinenVorhaben zur Neurodiversität.
Alide: Danke für die Einladung.