Warum Sie Barrierefreiheits-Veranstaltungen boykottieren sollten


Gefühlt ist jeder Tag ein Diversity-Tag, eine Woche oder ein Monat. Aktuell ist der Disability-Pride-Month – was auch immer das sein mag, ich habe es gepflegt ignoriert. Vielleicht brauchen Nicht-Behinderte solche Ereignisse, damit sie sich so richtig inklusiv fühlen und das auch zeigen können. Den Rest des Jahres kann man dann mit dem guten Gewissen verbringen, etwas getan zu haben.

Symbolik ist etwas

Es wird heute – zumindest in meiner Blase – viel mehr über Inklusion und Diversität diskutiert, als sagen wir vor 10 Jahren. Ich sage bewusst Blase, weil das außerhalb unserer Gruppe die Wenigsten kümmert. ES ist nicht so, dass sie dagegen sind, es spielt in ihrem Leben einfach keine große Rolle. Viele mittelständische und einige große Unternehmen werden von Personen geführt, die nicht alte weiße Männer sind, auf der zweiten und dritten Führungsebene sieht es schon besser aus. Ob es Diversity war oder schlicht der Mangel an Alternativen lasse ich mal dahingestellt. Und die meisten Leute finden das in Ordnung oder akzeptieren es. Wir hören halt von den Fällen, wo es nicht funktioniert. Die Situation ist nach wie vor schlecht, aber sie wird langsam besser, zumindest für einige Gruppen.
Leider hat das Web und Social Media zu einem Übermaß an Symbolik geführt. Man zeigt seine Unterstützung für quere Menschen, indem man sein Profilbild in Regenbogenfarben einfärbt. Man zeigt Unterstützung für alle möglichen Themen, indem man auf Like oder Teilen klickt. Ich verrate euch mal was: Das Klima wird nicht durch Like-Buttons gerettet. Und Teilen von irgendwelchen Inhalten hat noch niemanden von dummen Ideen befreit. Das Teilnehmen am Christopher Street Day macht eure Organisation nicht querfreundlich. Das Nutzen der Ukraine-Flagge hilft den Ukrainern kein Stück in ihrem Kampf. Das Abgrenzen von Rechten hilft Personen mit Migrations-Hintergrund nicht dabei, einen Job oder eine Wohnung zu finden. Für meinen Geschmack ist das reine Selbst-Inszenierung: Man zeigt der eigenen Bubble, dass man auf der richtigen Seite steht und legt ansonsten die Hände in den Schoß. Narzissmus ist das Erfolgs-Geheimnis von Social Media.
Es mag richtig sein, Idioten auch öffentlich zu widersprechen. Meines Erachtens ist es aber wie Pudding an die Wand nageln. Einen eingefleischten Rechten wird man mit einer Diskussion wahrscheinlich nicht von seiner Einstellung abbringen, erst recht nicht,indem man ihn anschreit. Auch der eigenen Bubble mitzuteilen, wie blöd man dessen Einstellung findet, bringt niemandem was, denn die eigene Bubble ist ja sowieso auf deiner Seite. Sinnvoll wäre es, mit jenen zu sprechen, die zu einer Diskussion bereit sind, aber dafür sind wir zu bequem, dafür müsste man ja das Smartphone weglegen.

Aber Symbolik kann nicht alles sein

Gegen Symbolik ist an sich nichts einzuwenden. Das Problem beginnt dann, wenn man Symbolik mit Handeln verwechselt. Manchmal – so mein Eindruck – sollen solche Aktionen einfach überdecken, dass die jeweilige Organisation keine konkreten Handlungen ergreift, um mehr diverse Mitarbeitende einzustellen oder die Vorhandenen zu unterstützen. Es ist ein Green Washing für Inklusion. Heute bin ich eher misstrauisch, wenn Organisationen solche Dinge kommunizieren. Da sind mir die Leute lieber, die etwas Sinnvolles tun und nicht danach die dreifache Energie in die PR stecken, damit auch jede erfährt, was sie getan haben. Mir sind sogar die Leute lieber, die nichts tun und nichts sagen, die sind ehrlicher.
Eine Organisation ist nicht deshalb inklusiv oder barrierefrei, weil sie eine Kampagne nach der anderen für diese Themen durchführt – die Expertise lässt sie dann von Nicht-Behinderten vorführen. Es tut mir leid, wenn ich das immer wiederhole: Reden ist nicht Handeln, Worte sind geduldig: ich kann 1000 Mal am Tag sagen, dass ich inklusiv bin, aber das macht mich nicht inklusiv. Ich kann tausend PR-Kampagnen zur Barrierefreiheit durchführen, das macht mich nicht barrierefrei. Die Aktion Mensch ist mit ihrer aktuellen Kampagne für barrierefreie Onlineshops ein Beispiel dafür, wie man es nicht machen sollte.

Inklusion und Barrierefreiheit im Old-Style-Way

Auch die deutsche Barrierefreiheits-Community hat meine Kritik leider nicht verstanden: Es reicht heute nicht mehr zu sagen, dass man sich für Barrierefreiheit einsetzt: Es geht auch darum, dass man behinderten Menschen die Chance gibt, selbst als Expert:Innen zu sprechen. Das passiert nicht, wenn eine Diskussionsrunde aus lauter Nicht-Behinderten besteht. Wenn es diese behinderten Expert:Innen kaum gibt, dann liegt es unter anderem auch an den verkrusteten Strukturen, die kaum Neulingen die Chance gibt, sich zu etablieren. Es ist kein Zufall, dass Grauhaarige heute die Panels zur Barrierefreiheit dominieren und die jüngste Person in der Runde 50 ist. Auch Menschen, die sich glaubhaft für Barrierefreiheit einsetzen können verhindern, dass behinderte Menschen partizipieren.
Eigentlich ist man sich ja einig, dass Panels und andere Institutionen divers besetzt sein sollten, nur bei Inklusion und Behinderung scheint das nicht zu gelten. Jüngstes Beispiel ist die Barrierefreiheits-Konferenz 2024 des Rheinwerk-Verlages. Ein bisschen enttäuscht bin ich vom Rheinwerk-Verlag. Während das erste Programm vermutlich schnell zusammengestellt werden musste, hätte man bei der dritten Auflage mehr Chancen gehabt. Nicht nur die Vortragenden, auch die Themen sind so konventionell, dass man zwei Mal hinschauen muss, um die Unterschiede zu den vorherigen Konferenzen zu erkennen. Auch musste ich darüber nachdenken, ob das jetzt ein Barrierefreiheits-Panel oder eine Versammlung alter hellhäutiger Personen sein sollte – es ist beides.
Es scheint auch ein ungeschriebenes Gesetz zu geben, dass man Leute, die irgendwas mit Inklusion und Barrierefreiheit machen (oder so tun als ob) nicht kritisieren darf. Weil sie sind ja die Guten. Sorry Leute, jede darf jeden kritisieren und man kann auch mit guter Absicht Blödsinn machen. Genauso müssen auch Behinderten-Aktivistinnen damit zurechtkommen, dass sie kritisiert werden, wenn die Kritik konstruktiv ist.
Mir geht es nicht darum, dass Nicht-Behinderte etwas Falsches sagen, auch Behinderte können Unsinn von sich geben. Behinderte Menschen dabei zu haben ist kein Wert an sich, sondern zeigt einfach deutlich, dass es auch behinderte Expert:innen gibt. Es wird nicht nur über sie gesprochen. Natürlich sprechen behinderte Menschen auch ganz anders über Barrieren als Leute, die das nur aus dritter Hand kennen. Und schließlich zeigt die Anwesenheit behinderter Menschen, die sich kompetent äußern können ein Stück weit, dass Inklusion und Barrierefreiheit erfolgreich waren, ansonsten würden sie ja nicht dort sitzen. Natürlich sind auch behinderte Menschen wichtig, die sagen, dass dieses und jenes nicht funktioniert. Das Bild wird aber schief, wenn Behinderte sagen, was nicht funktioniert und der Nicht-Behinderte, wie man das repariert. Das verfestigt einmal mehr den Fürsorge-Gedanken.
Aktuell erzählt eine Dame von Google Deutschland in einem Video, wie wichtig Tastatur-Bedienbarkeit ist. Und ich frage mich, ob sie überhaupt weiß, wovon sie redet: Hat sie mal einen ganzen Tag lang versucht, ohne Maus zurechtzukommen? Google ist vielleicht das beste Beispiel, wenn es um mangelnde Barrierefreiheit bei einem großen Unternehmen geht, da hat man den Bock zum Gärtner gemacht. Vielleicht sollten sie Google-intern einmal eine Sensibilisierung machen.
Ich erinnere mich mit Grauen an eine Runde von Microsoft Deutschland, in der mehrere Personen über Barrierefreiheit diskutiert hatten. Keiner von denen hatte eine Behinderung und auch thematisch keinen echten Bezug zu digitaler Barrierefreiheit. Was für ein Bild gibt das ab? Ich hatte intern bei meinem damaligen Auftraggeber auf dieses Problem aufmerksam gemacht, was Microsoft aber ziemlich egal war. Das ist einige Jahre her, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie daraus etwas gelernt haben. Wahrscheinlich nicht. Bei solchen Events geht es mehr um Name Dropping – irgendwelche Leute bzw. Firmen, die man kennt und die deshalb einen Pull-Effekt haben. Von dem Thema müssen sie nichts verstehen, im Zweifelsfall haben sie Angestellte, die die Sprechzettel für sie schreiben.
Die Veranstaltungen sind auch deshalb wichtig, weil sie den Referentinnen Prestige verleihen. Für Newbies ist es recht schwierig, Bekanntheit zu erlangen. Da ist es sinnvoll, wenn sie die Chance haben, auf Konferenzen aufzutreten. Wie das nicht geht, sieht man bei der für 2024 geplanten Konferenz des Rheinwerk-Verlages, wo sie wieder die überwiegend männlichen Senioren der deutschen Barrierefreiheits-Szene eingeladen haben. Bei der dritten Auflage hätte man wirklich mal ein paar neue Gesichter und Themen reinmischen können, aber offenbar war das zu anstrengend. Aber der Umsatz wird trotzdem stimmen.

Mehr handeln, weniger reden

Eine Organisation kann sich dann inklusiv und barrierefrei nennen, wenn sie ihre Angebote barrierefrei gestaltet und behinderte Menschen nicht nur als Testimonials verwendet, sondern sie auch zu Themen sprechen lässt, die nicht unmittelbar mit der eigenen Situation zu tun haben. Es geht meines Erachtens nicht darum, perfekt inklusiv und barrierefrei zu sein. Das sind Prozesse, keine Zustände.
Es geht darum, eine Strategie zu entwerfen, Maßnahmen einzuleiten, Fortschritte zu messen und problematische Bereiche aufzuzeigen. Die kann man kommunizieren. Alles andere ist reine PR. Practice what you preach, Wasser predigen und Wein saufen – leider gibt es in unserem Sektor sehr viele Organisationen, die sich ihrer Doppel-Moral nicht bewusst sind. Oder sie sind sich dessen bewusst und kümmern sich nicht darum. Wenn die größten Betreiber von Behindertenwerkstätten eben jene Werkstätten kritisieren, passt das nicht zusammen.
Ohne jemandem zu nahe treten zu wollen: Der gesamte Nonprofit-Bereich ist alles andere als divers. Viele stehen auf dem Standpunkt, dass sie eine gute Sache vertreten und schon deshalb inklusiv und divers sind und dass man sie nicht kritisieren darf, weil sie ja Nonprofit sind und das Gute wollen. Allerdings sind einige Privat-Unternehmen deutlich weiter, was die Diversität ihrer Belegschaft angeht.
Wie viele von den großen Nonprofit-Organisationen werden von Frauen, Queren, Behinderten oder Migrations-Hintergründigen geführt? Mir fällt spontan keiner ein. Wie viele haben einen Aktionsplan zur Inklusion? Eine öffentlich zugängliche Diversity-Strategie? Eine Strategie zur allgemeinen Barrierefreiheit? Wie viele von den großen Wohlfahrtsverbänden folgen in ihren lokalen Einrichtungen noch dem Fürsorge-Gedanken und haben einfach nur Inklusion vorne draufgeklebt? Bei wie vielen Organisationen stimmt das öffentlich gezeigte Bild nicht mit den internen Verhältnissen überein?
Ich weiß es tatsächlich nicht. Aber es dürften mehr Exklusive sein, als uns lieb ist. Und wie gesagt ist das nicht das Problem. Das Problem ist, dass das Problem nicht wahrgenommen und keine Maßnahmen dagegen ergriffen werden. Nonprofits sind im Endeffekt ebenso macht- und eliten-orientiert wie Wirtschafts-Unternehmen oder Behörden, nur dass sie das besser kaschieren können. Um hier aufzusteigen, muss man den richtigen Hintergrund haben und frühzeitig sein Netzwerk gesponnen haben. Leider haben das die meisten Personen aus Minderheiten nicht und insofern keine Chance, außerhalb der Selbsthilfe-Organisationen eine führende Position zu erlangen.
Man muss seine Rechte einfordern und dafür kämpfen. Der gute Wille der Barrierefreiheits-Senior:Innen wird nicht dazu führen.
Für mich persönlich habe ich den Schluss gezogen, dass ich nur noch als Experte und nicht mehr als Testimonial auftreten werde. Mehr kann ich leider nicht tun.