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Digitale Barrierefreiheit – Die Herausforderung sind die Nicht-Technik-Affinen

In der digitalen Barrierefreiheit neigen wir oft zu Pauschalisierungen. Wir sagen X ist blind, also könnte X dieses Problem haben, Y ist querschnitts-gelähmt, könnte also diese Probleme haben. Die Wirklichkeit ist allerdings komplexer und ignoriert die tatsächlichen Probleme. Die Spaltung verläuft nach meiner Meinung nicht zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten, sondern zwischen technisch Fitten und Unfitten. Leider haben wir zumindest in Deutschland keinen eleganteren Begriff dafür als Technik-Affinität.

Technik-Affinität der Gruppen

Grob kann man die Personen in vier Gruppen einteilen:

  • Die Super-Fitten: Das sind Leute, die über zumindest rudimentäre Skripting-Fähigkeiten verfügen und so gut wie jedes Problem lösen können, auf welches sie treffen. Das ist eine relativ kleine Gruppe.
  • Die technisch Fitten – dazu zähle ich mich – die durch einen Mix aus Erfahrungen und Strategien gelernt haben, mit Problemen umzugehen. Bis auf grafische CAPTCHA’s fällt mir wenig ein, was man nicht irgendwie umgehen kann.
  • Die technisch Bewanderten können grundlegende Aufgaben bewältigen, solange die Anwendungen relativ barrierefrei sind: Nachrichten lesen und schreiben, online bestellen, Überweisungen erledigen und so weiter. Sie scheitern an komplexeren Anforderungen wie etwa einem nicht-barrierefreien PDF oder einem komplexeren Web-Formular sowie an Web-Anwendungen.
  • Die technisch Unfitten können nur rudimentäre oder gar keine digitalen Aufgaen erledigen. Ggf. können sie noch mit Alexa arbeiten, wenn das jemand für sie einrichtet oder WhatsApp-Nachrichten nutzen, das war es aber auch.

Das ist eine sehr schematische Darstellung: Jede Gruppe ließe sich viel feiner aufgliedern. Das Problem besteht darin, dass wir keine geeigneten Daten haben, um die Gruppen zu quantifizieren. Aus meiner Erfahrung heraus würde ich die meisten behinderten Menschen den letzteren beiden Gruppen zuordnen. Da Gruppe Nr. 4 praktisch keinen Zugang zur digitalen Technik hat, kriegen wir von ihnen gar nichts mit. Für uns Digital-Fuzzis könnten sie ebenso gut in einem fernen Land leben. Sie schreiben keine Blogs, kennen weder Twitter noch X und LinkedIn ist für sie so fern wie der Mond.

Nun neigen wir dazu, diese Probleme eher Seniorinnen unterzuschieben. Da ist sicher was dran. Vor allem Personen, die längere Zeit in Rente sind hatten bisher kaum Berührung mit digitaler Technik und brauchen das vielleicht auch nicht mehr. Aber auch das ist zu schematisch: Es ist eben kein reines Altersproblem.

Während „Irgendwie kriege ich das hin“ früher noch okay war, wird es heute zum Problem: Banken-Filialen verschwinden oder analoge Dinestleistungen werden kostenpflichtig, gedruckte Fahrpläne verschwinden, viele Leistungen von Behörden sollen digitalisiert werden und stehen dann eventuell gar nicht mehr digital zur Verfügung. Und selbst wenn die analoge Welt bestehen bleibt, ist es nicht viel angenehmer, vieles digital zu machen, insbesondere wenn man auf dem Land mit schlechter analoger Infrastruktur lebt?

Konfomrität spielt eine untergeordnete Rolle

Für diese Gruppen ist nach meiner Einschätzung das Thema Usability wichtiger als 100% Konformität. Häufig gibt es das Mißverständnis, dass 100 % ein erstrebenswertes Ziel sei. Bisher konnte mir aber niemand schlüssig darlegen, dass 80 Prozent Konformität nur 4/5 so hilfreich ist wie 100 Prozent. Gewiss, wenn bestimmte Kriterien wie die Tastatur-Bedienbarkeit nicht erfüllt sind, sind bestimmte Gruppen ausgeschlossen. Allerdings sind nicht alle A-Kriterien oder alle AA-kriterien miteinander gleichwertig.

Das Konformitäts-Bingo spielt wie gesagt in der Praxis für diese Menschen keine Rolle: Ob 80 oder 100 Prozent Konformität, diese Personen kommen nicht zurecht und wir – damit meine ich die Barrierefreiheits-Profis – ignorieren diesen Umstand.

Was tun

Um ehrlich zu sein habe ich die Idee, dass wir das über Barrierefreiheits-Guidelines oder Usability-Heuristiken abdecken können mittlerweile aufgegeben. Wenn einige kluge Leute viel Arbeit reinstecken und dabei die WCAG als Minimal-Konsens herauskommt, dann wird das Problem auch nicht mit der x-ten Überarbeitung dieser Guidelines gelöst. Das World Wide Web ist fast 30 Jahre alt, wir reden seit sehr langer Zeit über Patterns, Ergonomie und Usability und es kommt immer noch massenhaft schlechte Software und Websites heraus. Diesbezüglich scheinen einige Leute lern-unwillig zu sein. Wenn Gedanken töten könnten, wären die Beteiligte an Software-Projekten bereits ausgestorben.

Ich hoffe tatsächlich auf intelligente Assistenten, welche die Oberfläche analysieren und die Nutzerin gezielt dabei unterstützen, eine bestimmte Aufgabe zu erledigen.

Bis dahin muss man an verschiedenen Stell-Schrauben arbeiten:

  • Software und Websites müssen besser werden: Einfachheit, Erwartungs-Konformität und Fehler-Toleranz sind hierbei drei Stichworte.
  • Die Betroffenen müssen besser geschult werden, sowohl im IT-Umgang allgemein als auch im Umgang mit assistiven Technologien.
  • Methoden der QS wie ein brauchbares Feedback-System müssen etabliert werden. Bislang wird Feedback wenn überhaupt beachtet von den Verantwortlichen in der Ablage P verstaut. Wenn die QS verwendet würde, um häufige Pain Points zu finden, könnte sich in diesem Bereich viel tun. Dabei muss das Feedback so einfach wie möglich sein. Auch sehe ich hier gute Chancen für Analytics und automatisierte Analysen, also die automatisierte Testung sowie die Beobachtung einer großen Zahl von Nutzerinnen und der darauf basierenden Verbesserung.

Wir Barrierefreiheits-Profis müssen dieses Thema aber mehr ansprechen. Erhebungen wie die von WebAIM suggerieren, alles werde gut sein, wenn alles konform mit der WCAG 2.x AA ist. Das ist nicht der Fall.

Barrierefreiheit in den Mainstream bringen – Ein Interview mit Anne Bovelett

Dies ist das Trannskript des oben eingebettteten Podcasts. Ich spreche mit der Web-Entwicklerin und Aktivistin für digitale Barrierefreiheit Anne Bovelett. Wie immer gehen alle Ungenauigkeiten und Tipffehler auf mich und meine Transkriptions-Software.

Domingos: So herzlich willkommen zu einem neuen Podcast zur digitalen Barrierefreiheit. Heute habe ich wieder einen spannenden Gast dabei, die Anne Bovelett. Anne macht viel im Bereich digitale Barrierefreiheit und WordPress, macht ganz viele Vorträge und so weiter. Anne, erstmal vielen Dank, dass du dir die Zeit für diesen Podcast nimmst, vielleicht stellst du dich den zuhörenden einmal kurz vor, also Was ist dein Hintergrund, wo kommst du her was machst du.

Annes Hintergrund

Anne: Vielen Dank, dass du mich eingeladen hast. Ich bin sehr geehrt. Dein Podcast ist ein bekannter Podcast in diesem Bereich und bin ich immer froh, wenn dann jemand mich einlädt und sagt, mit dir möchte ich mal reden.

Ja, also der gute Versteher hört vielleicht ziemlich schnell, dass ich einen Akzent habe. Ich bin gebürtige Niederländerin. Das heißt, dass bei mir Dativ und Genitiv sich gegenseitig umhauen. Und Akkusativ ist der lachende Dritte. Und ich übersetze sehr viel buchstäblich aus dem Niederländischen nach Deutsch. Also wenn da irgendwas ist, wo du meinst, also Anne, was du da sagst, das kann ich nicht verstehen, dann sag’s mir.

Also ich bin im Bereich Web-Erstellung schon lange unterwegs, seit 1998. Im Jahr 2008 habe ich mich voll selbständig gemacht. Ich habe fröhlich gearbeitet und was für viele der großen Schocker ist, dass ich erst im Jahr 2020 entdeckt habe, dass ich nichts über Barrierefreiheit wusste, aber sowas von. Und das war echt schockierend.

Ich hatte schon öfter so Berichte gesehen auf Social Media und so, aber irgendwie kamen die alle nicht so an. Und dann kam Ein Twitter Bericht von einer Dame, die heißt Labrine. Ich habe diesen Bericht auch mal auf meiner Webseite im Blog erwähnt, wo ich erzähle wie ich da reingerollt bin und die hat beschrieben, wie ihr Vater so traurig war, dass er endlich mal eine Woche ohne Hilfe ins Netz gehen wollte und dass wieder nicht ging und dass er blind ist und dass wenn wir uns gerade beim Lesen von dem Tweet fragen, ob unsere Seite barrierefrei ist. Ja, das war bei mir ein Hammer auf dem Kopf sowas. Ja und dann habe ich mich da drinnen vertieft, das ist ein bisschen meine Art, alles oder nichts. Rein dran abgetaucht und hab das auf technischer Ebene angeguckt. Also ich bin kein Top-Entwickler, aber ich weiß viel über HTML und CSS und das ist eigentlich Eine der wichtigsten Sachen, dass man semantisches HTML nutzt. Und dann habe ich entdeckt, Oh, warte mal, das ist nicht eine all in Ohne-Sache. Da sind ganz viele bewegende Teile in so einem Prozess, einen digitalen Auftritt, ne, sagen wir mal eine Webseite barrierefrei zu machen. Und dann feststellte. dass viele sich fühlen, als ob da ein Tsunami auf sie zukommt. Das ist vielleicht in meiner Welt, lass mal so sagen, meine WordPress Welt vielleicht noch ein bisschen mehr als anderswo, denn bei uns ist durch diese ganzen Templates, Marktplätze und so weiter und diese Page Builder ist auch so eine all in Ohne Gedanke entstanden und man hat Demokratie Publishing bisschen gedreht nach Demokratie Website Création.

Und zur gleichen Zeit stellt sich dann raus, ja da sind aber ganz viele nette junge Entwickler dran die eigentlich nicht Weiterkommen als div und span ganz technisch für Leute, die nicht so webtechnisch unterwegs sind in HTML gibt es so ungefähr grob gesagt so 50 bestimmte Elemente und die funktionieren ja eigentlich, wie eine Landkarte, wenn man sie richtig einsetzt.

Und man kann aber auch 2 Elemente benutzen. Der eine heißt Diff und der andere heißt Spam und die sind wie Chamäleons, die können aussehen wie alles, aber sie werden das nie sein, wonach sie aussehen. Also. Könnte man eigentlich vergleichen Wie heißen diese Dinger, die man auf das Dach legt, zumindest auf Deutsch Dach vorne?

Also was ich damit meine, damit es für die Zuhörer auch ein bisschen klarer wird ist, wenn man eine Dachpfanne nimmt, soll die ja eigentlich aus Stein sein zum Beispiel. Aber man kann ja auch wunderbar aus Pappe eine Dachpfanne machen. Und die lässt man genauso aussehen, wie eine Dachpfanne und damit belegt man sein ganzes Haus. Sieht super aus, es ist Sommer, alles fein und dann kommt der Regen und der Sturm. Und die Dachpfanne funktioniert nicht. Ja, das ist genau die Sache bei alles, was digital Auftritt. Das hängt alles mit HTML und CSS zusammen. Egal, die Programmiersprache was rauskommt ist HTML. Wenn das solche Pappe Dachpfannen sind, dann funktioniert das nicht. Nur die, die davon nicht abhängig sind, die merken das gar nicht. Und Sie denken ja, das sieht doch gut aus. Ne, ja. Als ich das gemerkt habe, habe ich gedacht, Oh, es ist vielleicht wichtig, dass man anfängt, den Leuten das klarzumachen, dass da diese verschiedenen bewegenden Teile sind und dass man auch nicht immer

auf Entwickler reinhackt, weil sie sich vielleicht erstens mal gar nicht bewusst sind, dass sie da was machen, was nicht richtig ist. Wenn sie zum Beispiel ein Framework benutzen, was Irgendwie nur DIVs und SPANs ausspuckt. Die gibt es ja.

Domingos: Ja, vielen Dank. Erstmal machst du jetzt in Anführungszeichen nur noch Barrierefreiheit oder hast du noch Kunden, die nichts mit Barrierefreiheit am Hut haben, sondern einfach nur irgendeine Website von dir haben möchten?

Anne: Nee, ich arbeite eigentlich nicht mehr Für Kunden, die sagen, das ist mir egal, das will ich nicht haben mit allen Ausreden, die wir schon mal gehört haben. Was im Moment leichter fällt als vor ein paar Jahren, weil jetzt natürlich auch das europäische Barrierefreiheitsgesetz da reinhaut im Jahr 2025. Ich werde zu jederzeit, wenn eine Agentur direkt zu mir kommt und sagt, kannst du mir helfen meine Webseite aufzubauen oder kannst du mich dabei beraten werde ich alles tun, um zu versuchen, dass sie sich für den barrierefreien Auftritt entscheiden. Aber ich verliere da nicht mehr so viel Energie dran wie am Anfang, weil da wollte ich alle davon überzeugen und Das hat mich fast runtergebrannt. Was ich aber mache, ist Dass ich Vorträge halte, für Menschen in jeglichem Schichten, Firmen oder Selbständige. Diese Argumente gegen Barrierefreiheit. Wie sagt man dann? Verschieben können oder umdrehen können oder ja, wie sie davon überzeugen können. Demnächst mache ich das in Asien auf World Camp auch wieder.

Ich habe das letztens auf Wordcamp Deutschland gemacht und das. Eher mehr meine Mission. Und ja, also ich werde auch häufiger angestellt als Coach für Barrierefreiheit.

Kulturelle Unterschiede

Domingos: Was mich auch interessieren würde, du bist ja mehrsprachig. Du kannst deutsch, Niederländisch und Englisch hast du auch aus all diesen, also zum Beispiel Kunden aus den Niederlanden oder aus dem englischsprachigen Bereich und gibt es da Unterschiede, was die Wahrnehmung von Barrierefreiheit angeht, oder sind es immer die gleichen Herausforderungen, die du bei den Kunden vorfindest?

Anne: Ja, da gibt es zwischen Europa und den Vereinigten Staaten und Kanada zum Beispiel einen Riesenunterschied. In den Vereinigten Staaten ist man sich mehr bewusst. In bestimmten Branchen, weil es da schon länger den ADA Americans with Disabilities Act gibt. Weil Leute da vor Gericht gezogen werden. Und das ist hier noch nicht so der Fall. Und hier auch in Europa zum Beispiel ist man ziemlich lässig, lass mal laufen, ist alles nicht so spannend und auch bei den Behörden. Das ist in meinen Augen der absolute Wahnsinn. Die, die das gute Beispiel geben sollten. Dass die das nicht richtig machen. Aber Es gleicht sich an. Ich merke in den Niederlanden, dass es mehr Bewusstsein gibt, weil da ein paar ganz große bekannte Agenturen da richtig auf die Pauke hauen. Die Ali Collective. Das zum Teil gegründet wurde von Level in Rotterdam. Also das ist eine super großartige Agentur, die echt spezialisiert ist in wunderbare Webseiten, die barrierefrei sind, Webshops und so weiter. Ich merke es hier in Europa auch an den Herstellern von Software, von Plugins zum Beispiel. Es wird Ihnen langsam klar. Im Moment gibt es hier in Deutschland eine, die ich gut kenne, die heißen Great, sind in München, und die haben sich darauf festgelegt, dass sie das Accessibility Ready Output hat und das bedeutet, dass der Grundlage unter der Haube schon mal stimmt. Dass man sich darüber nicht mehr sorgen muss, wenn man nicht Entwickler ist. Es gibt viele, ich sag mal Fahnenträger, ich denke, die kennst du auch alle, da können wir stundenlang ganz lange Listen machen. Das Bewusstsein kommt jetzt und ich glaube, das macht sich jetzt langsam bemerkbar.

Der Mehr-Aufwand für Barrierefreiheit

Domingos: Du bist näher an der Praxis der Entwicklung als ich. Ich musste, immer nur sagen, was sie tun müssen, Aber ich musste es nicht umsetzen, deswegen würde mich deine Meinung interessieren wie hoch ist denn der Mehraufwand, wenn ich eine Website von Anfang an barrierefrei gestalte im Gegensatz zu, wenn ich das nicht machen würde.

Anne Das kommt drauf an. Erstens. Wann setzt man den Punkt? Was ist von Anfang an? Denn viele meinen, von Anfang an ist, wenn man den Designer schon mal drangesetzt hat, ne und der der Designer auch schon mal. Und das da eigentlich schon mal so ein Wireframe steht und so weiter. Dann ist man schon zu spät. Aber wenn man von Anfang an sich beraten lässt, wenn man diese Erfahrung noch nicht hat, wenn man sich beraten lässt von jemandem, der oder die Ahnung hat. Dann ist der Mehraufwand in meinen Augen meistens nicht mehr als 10 bis 15%. Es muss wild gehen. Wird das mehr sein? Aber man wird am Anfang relativ viel Zeit investieren, alle Leute in die gleiche Richtung zu kriegen. Das ist das Wichtigste, sobald man das hat, merken Entwickler. Das ist keine Raketenwissenschaft und Designer, die sich anfangs bedroht fühlen, weil die eigentlich ständig zu hören bekommen, das kannst du so nicht machen, Kontraste sind nicht gut, oder? Die Knöpfe sind zu nah aneinander. Oder Hey, denk mal daran, dass eine Webseite auch eingezoomt werden kann. Ne, dann sind die so in diesem Nein eingeengt. Also je schneller das ist man die Designer dazu bringt, inspiriert zu sein und das als eine ganz großartige kreative Herausforderung zu sehen, dann wird so ein Projekt Super laufen und dann ist der Mehraufwand eigentlich gar nicht zu viel. Ja, das finde ich auch hoffnungsgebend. Aber es heißt auch, dass Firmen sich überlegen müssen, ob sie nicht jetzt zum Relaunch übergehen.

Domingos: Ja, mein Eindruck ist auch, dass es ganz häufig eher an den Prozessen scheitert. Also man hat so einen etablierten Prozess wie man arbeitet Und eine Website der Agentur man hat bestimmte CMS bestimmtes Framework und weil man sich darauf sozusagen spezialisiert hat, möchte davon möchte man davon oder von diesem Prozess, den man einmal etabliert hat, nicht loslassen und da kommt halt selbst wenn man es agiles Projektmanagement nennt, kommt Barrierefreiheit immer am Ende. Ist das auch deine Erfahrung.

Anne: Ich versuche davon zu überzeugen, dass sie das vom Anfang anmachen müssen, weil es auch unglaublich viel Geld kostet, etwas nicht barrierefrei zu gestalten. Man merkt das aber zu wenig. Wenn man Selbst als Benutzer meint, ach ich brauch alles nicht, diese barrierefreien Sachen sind für mich nicht wichtig. Und bei denen fällt die Maus aus und sie müssen unbedingt was bestellen in einen Webshop ja und wenn das nicht geht mit Keyboard. du hast auch eine Conversion, die nicht gemacht wurde. Es ist auch schwierig mit Leuten zu diskutieren, die meinen, Ich brauche das nicht.

Leute für Barrierefreiheit begeistern

Domingos: Ja, auf jeden Fall. Genau du hast gesagt Ich glaube ich in unserem Vorgespräch schon, dass du dich jetzt mehr auf das Coaching vielleicht da so eine Art agiles Coaching zum Thema Barrierefreiheit konzentrierst. Ja, wie gehst du dabei vor? Die Leute, sagen wir mal, du hättest Leute, die jetzt nicht so richtig. Die das Thema umsetzen, einfach weil sie es wissen und eigentlich nicht so richtig Lust haben. Nicht so richtig begeistert sind. Wie würdest du da vorgehen, um die Leute zu überzeugen davon?

Anne: Na ja, , wenn ich in so eine Firma stehe, heißt es ja schon, dass ich das Management schon davon überzeugen konnte, dass es sinnvoll ist, da ein bisschen Geld in die Hand zu nehmen. Also die Hürde habe ich dann. Aber es ist mir eben noch nicht so lange passiert, da saß ich so 35 – 40 junge Leuten gegenüber. Und dann versuche ich die auf allen möglichen Arten in den Schuhen zu versetzen von anderen aber mit Erfahrungen, die sie kennen.

Und ein gutes Beispiel dafür ist, dass ich zum Beispiel sage, Na, ihr kennt das alle. Freitagabende de Ausgang, Samstagabend den Ausgang. Und Sonntag merkst du dein Kühlschrank ist leer und du bist hier in eine große Stadt, das heißt du kannst dich sogar sonntags was besorgen lassen und du kommst auf eine Webseite, weil du gerade dein Handy in der Disco verloren hast du kommst auf eine Webseite und der ist jetzt zu grell. Das ist das ist, wenn du müde bist, sind deine Augen sehr viel empfindlicher Auf allen möglichen Arten. Oder zum Beispiel frage ich Leuten, hey, wer war schon mal in einem Restaurant, wo die Musik so laut war? Dass man nicht mehr hinwollte . Dann gehen die Hände schon hoch oder Wer kann Zeitung lesen ohne Brille. Ja, oder? Und wer kann es nicht? Und wer es nicht kann, hebt dann die Hand hoch und da habe ich eine ganze Liste von Erfahrungen. Die die.

Und dann fange ich an zu erklären, das ist aber, was wir antun. Für die, die das ständig haben. Die immer müde sind oder die nicht gut sehen können. Oder die. Nicht gut hören können oder jemand, der taub geboren ist, zum Beispiel. Da haben die Menschen keine Ahnung. Ich hatte auch keine, aber wenn du taub geboren wirst, du also, wenn du nicht die Sprache Mit Ton kennenlernst? Dann bist du eigentlich immer am Übersetzen, so hat es mir ein Freund erklärt. Die Gebärdensprache und wie wir sprechen sind eigentlich 2 verschiedene Sachen das ist nicht das gleiche, das heißt die lies Wahrnehmung ist anders als bei Menschen, die nicht angeboren sind. Dann erzähle ich die Menschen, dass sie eigentlich mit ganz wenig Einspannung ihrerseits. So viel Macht haben, dass sie die Macht haben, es für anderen Leuten einfach besser zu machen. Und dass das schon schrittweise geht mit kleinen Sachen sowie unterstreiche dann links. Mach verständliche links.

Ich habe auch schon mal einen Vergleich gemacht: Stell dir vor, du musst unglaublich dringend aufs Klo. du stehst im Ikea, du wirst da gezwungen einen bestimmten Weg zu gehen und die Close befinden sich ganz weit weg ja. Jetzt stell dir vor, du bist im Ikea und du fragst Leuten nach dem Weg, wo muss ich hin, um schnell zu diesem Klo zu gehen und alle sagen hier. Hier, hier, hier. Ja muss ich nach rechts oder nach Links, was steht dann da? Ja, da stand hier eine Mihm. Und du lachst jetzt und alle lachen und zur gleichen Zeit merken die auf einmal also, wenn ich eine Webseite mache und ich erzähle was über ein Produkt ich mache ein Blogartikel das muss ja auch konvertieren ne ich mach Blogger. Artikel und das handelt sich um verschiedene Bücher, weil ich bei Amazon irgendein Affiliate Account habe und dann anstatt zu schreiben mehr Info unterstrichen über dieses Buch. Nein, bestell dir. Bestell dir das Buch mit dem Titel. Da, da, da und dann den ganzen Satz unterstreichen. Warum auch nicht. Es sind so diese, diese kleinen Sachen. Wo zum Beispiel? Da kannst du aus deiner Erfahrung noch viel mehr von erzählen als ich.

Domingos: Ja klar. Also ich versuche auch immer, die Leute abzuholen. Und da gibt es auch einige Möglichkeiten, wenn man zum Beispiel sagt, OK, du möchtest ja auch, dass deine Großmutter und dein Großvater oder deine Eltern noch das Web benutzen können oder vielleicht auch von den Vorteilen der Digitalisierung, dass ihre Lebensmittel zum Beispiel online bestellen können, und das können die nicht, weil sie vielleicht nicht so technikaffin sind, aber sie trauen sich teilweise auch nicht, weil es so viele Möglichkeiten gibt, Sachen falsch zu machen. Oder Sachen halt nicht lesen zu können nicht hören zu können, was da in dem Video passiert. Und dann nutzen Sie es halt nicht, wenn sie es 2 dreimal ausprobiert haben und gescheitert sind.

Anne: Was beängstigend ist. Ich weiß nicht, wie das hier in Deutschland funktioniert, aber in Holland bekommst du eine bestimmte ID. Damit kannst du dich einloggen auf sämtliche Steuerseiten. Rente Seiten Staats Versicherungen. Diese id darfst du nie jemandem weitergeben. Wenn jemand von dir diesen Login hat mit dieser ID, dann kann er dein Leben umkippen. Auch da, das ist alles so komplex, dass ältere Leute oder Leute, die warum auch immer auch Unterstützung brauchen, dass die das abgeben müssen. Stell dir vor wie erniedrigend das ist. Das sage ich auch zu den Leuten. Möchtest du da ein Teil davon sein, dass du dich im späteren Alter oder jetzt deine Großmutter sie so erniedrigen lassen, indem sie die Schlüssel Zu ihrem gesamten haben und gut ein Assistent oder einen Nachbar in die Hand gibt. Denn wenn das schief geht, hast du gesetzlich keinen Fuß am Boden nix mehr, weil dann heißt es sie haben das abgegeben, selbst schuld. Ne und? Das ist, das ist auch den Leuten zu versetzen. Es gibt einen Hammer Artikel auf der Webseite von Elli Collectives auf Englisch, die heißt Blind People don’t visit my Website, und da hat Rian Riedfeld eine sehr bekannte Spezialistin in der Barrierefreiheit, die hat mal online die Leute gefragt, hey. Leute, wenn ihr vor allem nicht abhängig seid von der Barrierefreiheit, was sind eure Ärgernisse ins Netz oder insofern schwer. Und die hat tonnenweise Reaktionen gekriegt, und die hat sie gelistet und nachher hat sie gesagt, alles Sachen, die. Mit der richtige Coding und Content Management und Design gelöst hätten werden können oder vorgebeugt hätten werden könnten.

und das bringt mich zu einem anderen Thema. Manchmal fragen mich Leute ja, wenn ich dann. Ein Software Kaufe oder ein CMS kaufe oder was auch. Was Accessibility Ready ist, was merke ich dann davon? Und dann sage ich immer, das sollst du eigentlich nicht merken. Das muss einfach schon technisch so sein. Was du merken sollst, ist, wenn du mit diesem System dann auch noch dein Design aufbaust, dass du zum Beispiel die Gestaltung von Elementen, die ein Fokus bekommen kannst. Dass du die beeinflussen kannst.

Entwicklerinnen überzeugen

Domingos: Wie kann man speziell Entwickler und Entwicklerinnen von Barrierefreiheit überzeugen? Hast du da ein großartiges Argument gefunden, weil ich glaube das ist eine der Gruppen. Die teilweise schwierig zu überzeugen sind, aber die einfach super, superwichtig sind.

Anne: Ja, das ist an sich nicht so leicht. Ich denke, dass man da auch nicht generalisieren kann. Also wenn ich mit Entwickler spreche auch da benachrichtig ich dann noch mal gerne. Also weißt du, du hast ja die macht, du hast ja die Möglichkeit einen Button zu machen und nicht einen Diff mit einer Rolle als Button, weil das heißt ja nichts und manchmal. Drücke ich dann auch ein bisschen auf diesen ehren Gefühl, dass ich sage, ja wenn du meinst, dass du einen supertollen Entwickler bist, warum ist es dann für dich so schwierig 50 HTML-Elemente auswendig zu lernen. Ne, bist du da vielleicht zu doof hier, oder? Aber das dann ist man schon ein bisschen auf der aggressiven Ebene, weißt du, und?

Anne: Das ist genau das, was ich vermeiden möchte. Also. Ich bin auch Teil von einer Firma, die heißt relaunchberatung.de und da auch dann häufiger Anfragen. dann telefoniere ich meistens zuerst noch mal mit den Leuten und dann frage ich auch danach, wie ist eigentlich die Situation, habt ihr das Gefühl ihr müsst das machen oder habt ihr Bock oder habt ihr jetzt noch eine Frage? Ihr kriegt von mir 15 Minuten, dürft mich alles Fragen, was ihr wollt, kostet nichts. Weil wichtig ist, dass man aus dem Jahr kommt. Ich glaube nicht, dass das heißt, auf Deutsch, auf Englisch heißt das tough Love, weißt du, was ich meine? Wenn du an jemand negativ rangehst, um ihn zu motivieren. Ich glaube auch lange Abstand funktioniert das gar nicht und Angst funktioniert auch nicht. Angst ist ein schlechter Ratgeber, Man sieht, dass in Webseiten. Ich musste jetzt erst mal was fragen, weil auch für dich, nicht nur für das Publikum. Bist du blind geboren oder hast du mal gesehen?

Domingos: Ich bin gesetzlich blind, hab aber noch einen kleinen Sehrest, aber das von Geburt an. Es ist altersspezifisches bisschen schlechter geworden, aber es ist jetzt nicht viel schlechter als von der Geburt an.

Anne: Ja gut, weil der Grund, dass ich dich frage, ist, um festzustellen, ob du da zustimmen kannst oder nicht, aber worum es eigentlich geht, Ist, wenn man voll sehen kann. Dann wirst du von all dem, was du siehst, auch beeinflusst, bewusst oder unbewusst. Ein Freund von mir ist Entwickler und der ist rasend schnell auf dem Rechner, braucht keinen Bildschirm und ich habe ihn mal gefragt, Hey. Ich kenne Entwickler, die schnell sind, sehende Entwickler. Du bist viermal so schnell, hat er gelacht und hat er gesagt, ja, weil ich nicht abgelenkt werde von dem, was ich sehe. Und so hatte ich das noch nie betrachtet. Aber was sehr wichtig ist, wenn man sehen kann, ist, dass man auch das Bedürfnis hat. Geführt zu werden in einem Design. Das ist, was uns beeinflusst. Und das ist, womit man uns als Seele, Person verführen kann, etwas zu machen. Oder nicht zu machen. Und was dann kommt, dann kommt die Barrierefreiheit Tante oder Herr und sie sagen ja das darfst du nicht und das darfst du nicht und diese Farben kannst du nicht benutzen und das kannst du nicht. Und dann kommen die Angstdesigns. Und Daher kommt jetzt das Vorurteil. Ja, wenn es barrierefrei sein muss, wird das aber alles einschränken. Du kannst doch kein schönes, spannendes Design machen, grafisches Design, wenn es barrierefrei sein muss, aber das ist, weil man aus dieser. Angst gekommen ist, weil man Angst hat, es falsch zu machen. Und das muss auch nicht sein. Verstehst du, was ich meine? Weil das finde ich einen spannenden Dialog mit jemand, der gesetzlich blind ist.

Barrierefreiheit und Ästhetik widersprechen sich nicht

Domingos: Nee, kann ich 100% unterschreiben. Also das ist einfach so ein Vorurteil, das glaube ich aber auch, daherkommt, weil viele Sachen, die barrierefrei sind, einfach nicht schön aussehen, also viele Behördenseiten, aber auch viele Gebäude, wo du dann hinterher noch eine Rollstuhlrampe dran machst. Das sieht halt nicht ansprechend aus. Ich muss aber immer sagen, dass nicht Barrierefreiheit, sondern eine lieblose Umsetzung das Problem ist.

Anne: Eine Frage, die ich oft bekomme: Können wir das nicht ein bisschen barrierefrei machen? Und dann muss ich mich und wahrscheinlich viele die in meinem Bereich tätig sind richtig zurücknehmen und auch für diese Menschen Mitgefühl entwickeln. Weil die einfach reden von einem Standpunkt aus, wo wir schon längst dran vorbei sind. Und dann kommt ja auch diese Sache. Ja, es ist zu teuer, das zu machen oder was auch immer. Und zum Beispiel, wenn du in der Marketingabteilung stehst und du sagst, Hey, liebe Leute, bitte die Bilder einen guten All Text drin, ne beschreibenden All Text und nicht Keyword stuffing machen. Das bringt dir nichts. Ja, und manchmal kommt dann so jemand aus einer Abteilung auf mich zu und sagt ja, aber, wir können das nicht machen, das ist so viel Arbeit, dafür haben wir keine Zeit, das ist zu teuer. Und dann habe ich gesagt, aber das musst du nicht entscheiden, das muss dein Management entscheiden.

Annes Channels

Domingos: Generell die Frage, du bist ja viel auch auf bar Camps, Hackathons und so weiter unterwegs. Das heißt man kann sich gut persönlich treffen, aber wo kann man dir denn generell auch Social Media folgen? Ich weiß gar nicht, bist du noch auf x/Twitter oder auf LinkedIn?

Anne: Ja, ich habe es eine Weile auf Mastodon versucht, aber irgendwie krieg ich das nicht in meinem Gewohnheitssystem leider. Also ich bin auf x/Twitter zu finden unter Bovelet. Also mein Nachname BOVELETT. Man findet mich auch auf LinkedIn und man findet auch meine Kontaktdaten über meine Webseite. Die englische Version ist Punkt EU und die deutsche Version ist .de. Ja, und auf meiner Website kann man sich auch ein Gespräch buchen, wenn man will, zum ersten Kennenlernen. Und das kann man gerne machen. Wenn ich keine Zeit habe, kenne ich die, die es haben, obwohl die Anzahl Menschen, die den Markt bedienen können, schnell kleiner wird, also eigentlich wachsen muss.

Annes Website

Das Scheitern der Barrierefreiheits-Veteranen

Schild mit dem Text Goodbye

Die Stimmung in der Accessibility-Szene hat sich nach meiner Wahrnehmung in den letzten Jahren ins Negative gewandelt. Die latente Aggressivität, die wir sonst auch in der Gesellschaft finden hat sich auch in diesem Bereich verbreitet. Leider tragen auch einige Personen aus der internationalen Barrierefreiheits-Szene dazu bei.

Toxische Kommunikation

Gemeint sind nicht alle Profis. Ich habe von vielen Personen überwiegend konstruktive Beiträge gelesen. Ein Beispiel ist Eric Eggert, den ich als sehr sachlich erlebe, auch wenn ich die meisten seiner Einschätzungen nicht teile und es umgekehrt vermutlich auch so ist. Ich kann anderer Meinung sein, ohne jemanden persönlich anzugreifen.

Ich erkenne durchaus die Leistungen dieser Personen an und möchte nicht despektierlich erscheinen. Dennoch glaube ich, dass der Punkt überschritten ist, an dem man alles kommentarlos durchgehen lassen sollte. Die Kommunikation dieser Personen schadet auch der Barrierefreiheit. Da es ja überwiegend diese Personen sind, die auf Konferenzen reden und öffentlich mit dem Thema verbunden werden, haben sie eine große Verantwortung. Dieser Verantwortung werden sie nicht mehr gerecht.

  • Sie verfälschen und verengen den Diskurs, indem sie die Argumente kritischer Personen falsch oder verzerrt darstellen.
  • Sie schrecken Personen ab, die diesen Diskussionsstil nicht mögen oder es nicht wagen, sich kritisch dazu zu positionieren.
  • Sie schrecken Personen vom Thema digitale Barrierefreiheit ab. Warum soll man sich mit neuen, innovativen Ideen dort einbringen, wenn die Oldbies ohnehin alles blöd finden außer der WCAG?
  • Sie fördern die allgemeine Verdrossenheit durch ihre Negativität. Die Aussage, alles würde schlechter werden oder Politikerinnen würden nichts tun ist pauschalisierend und sachlich größtenteils falsch, wirkt aber demotivierend auf Leute, die in diesem Bereich arbeiten oder damit zu tun haben.

Leider ist es so, dass allgemein aggressive und negative Postings mehr Reichweite haben: Sie werden mehr geteilt, von den Algorithmen hochgespült, noch mehr verbreitet und so weiter. Wer nicht schimpft, sondern konstruktiv ist taucht in den Timelines nicht auf.

Es stimmt , dass ich auch viel schimpfe oder mich über bestimmte Dinge lustig mache. Allerdings bemühe ich mich immer, konstruktiv zu sein. Auch greife ich keine Einzelpersonen an oder versuche, ihre Integrität in Frage zu stellen. Man muss eine Person nicht niedermachen, weil man anderer Meinung ist als sie. Auch die Kritik behinderter Menschen möchte ich ausnehmen: Es ist oft frustrierend, wenn man auf Barrieren trifft. Auch hier gilt aber, dass man eine Institution kritisieren sollte, nicht Einzelpersonen und dass man immer versuchen sollte, sachlich zu bleiben.

Ich weiß, dass man viel davon hierzulande oder außerhalb der Accessibility Bubble gar nicht mitbekommt, deswegen lassen Sie mich drei Beispiele aus den letzten Monaten nennen:

  • Mike Paciello, Begründer der Paciello Group, hat zur Firma Audio Eye gewechselt. Audio Eye gehört zu den Accessibility-Overlay-Anbietern und ist deshalb viel kritisiert worden, ebenso wie Paciello wegen seiner Entscheidung, dort anzufangen. Nun kenne ich ihn nicht persönlich und möchte über seine Motive nicht urteilen. Man kann aber sicher sagen, dass er für Barrierefreiheit engagiert ist. Was er bei Audio Eye bewegen wird, wissen wir nicht, aber man sollte ihn nicht persönlich angreifen, wie man es in vielen Social Media-Kanälen gesehen hat.
  • Überhaupt die Overlay-Anbieter: Ja, viele von ihnen haben eine fragwürdige Strategie und die rechtlichen Schritte gegen ihre Kritikerinnen wirft auch kein gutes Licht auf sie. Es macht aber keinen Sinn, sie alle über einen Kamm zu scheren. Einige von ihnen scheinen wirklich ein Interesse an Barrierefreiheit zu haben. Sie pauschal als „Scamming Scammers“ (betrügerische Betrüger) zu bezeichnen, wie es Paul Adam auf Facebook getan hat, ist wenig konstruktiv. Wenn mal ein Vertreter eines solchen Anbieters etwas schreibt, wird er oder sie unabhängig von dem Inhalt häufig persönlich angegriffen. Die Overlay-Anbieter bieten genügend Angriffspunkte für eine sachliche Kritik.
  • Last but not least wäre die Diskussion um Jakob Nielsen, die ich hier ein wenig dargestellt habe. Adrian Roseli schreibt „Jakob has jumped the shark“, im Deutschen sinngemäß etwa „Jakob hat seinen Zenit überschritten“, in dem Artikel werden teils weitere Angriffe auf Nielsen geäußert, so wird er in die Nähe von Rechten gerückt, weil er auf Substack veröffentlicht. Ein anderer übertitelt seinen Beitrag „Shut up Jakob“, also „Halt die Klappe“. Ist das der Diskurs-Stil, den wir haben wollen? Die wenigsten Kritiken waren tatsächlich auf den Inhalt von Nielsens Beitrag bezogen, sondern haben sich an Nielsen und der Überschrift seines Beitrags abgearbeitet. Für die nüchterne Leserin ist klar, wer hier offensichtlich seinen Zenit überschritten hat. Eine selbstbewusste Szene hat solche Töne nicht nötig.

Gibt es keine Beispiele aus Deutschland, weil die Szene hierzulande konstruktiv ist? Nun ja, der deutsche Diskurs ist mausetot. Mit wenigen Ausnahmen kann ich mich an keinen lesenswerten Beitrag aus den letzten paar Jahren erinnern.

Der Ton macht die Musik

Natürlich darf jede Person alles kritisieren und die Kritik muss auch nicht immer sinnvoll sein. Aber sachlich und konstruktiv sollte sie schon sein. Nun steht es natürlich jedem frei, auch unsachliche und sogar beleidigende Kritik zu äußern, solange es im rechtlichen Rahmen bleibt. Was mich wundert ist allerdings, dass solche Beiträge so exzessiv geteilt werden, vermutlich auch wieder von Leuten, die nur Überschriften gelesen haben. Aber selbst das sollte reichen, um kritisch zu werden. Immerhin haben wir es mit gebildeten und qualifizierten Personen zu tun, die überwiegend privat vermutlich auch einen höflichen Umgangston pflegen.

Der leider bereits verstorbene schwedische Mediziner Hans Rosling hat die Motive gut zusammengefasst. Die Leute glauben, moralisch im Recht zu sein. Anschaulich wird das am Beispiel der Letzten Generation: Wenn man glaubt, die letzte Bastion vor der Klima-Apokalypse zu sein, scheint jedes Mittel gerechtfertigt, auch Nötigung und die Infrage-Stellung demokratischer Prozesse. Gleiches treibt dann auch die Gegner dieser Gruppen: Weil sie sich moralisch im Recht glauben, erscheinen Beschimpfungen und körperliche Übergriffe in deren Augen gerechtfertigt. Wenn man recht hat, ist alles erlaubt. Die Spanne zwischen moralisch im Recht und selbstgerecht ist sehr schmal. Das gleiche Phänomen sieht man auch bei einigen Barrierefreiheits-Profis, die vielleicht auch deshalb eine so große Reichweite haben. Wer was Gutes will und laut ist, muss ja irgendwie doch im Recht sein oder?

Das zweite Motiv könnte man mangels anderer Begriffe als „Beleidigtes-Leberwurst-Syndrom“ bezeichnen. Jahrzehntelang haben die WCAG-Nerds den Ton in der Barrierefreiheits-Diskussion angegeben. Behinderte Menschen wurden als Stichwort-Geber ab und zu geduldet, aber diese frechen Overlay-Anbieter, KI-Fuzzis und dann auch noch Nielsen, der scheinbar alles infrage stellt, was sie die letzten 25 Jahre gemacht haben – das war wohl zu viel. Wahrscheinlich hat Nielsen alleine mehr Reichweite als alle BF-Profis zusammen.

Bei einigen Leuten sehe ich aber auch einen lupenreinen Paternalismus gegenüber behinderten Menschen. Karl Marx liebte die Arbeiterschaft und verabscheute den Arbeiter als Indiduum. Viele BF-Profis liben die Barrierefreiheit und glauben, behinderte Menschen verteidigen zu müssen, die sich nach deren Ansicht nicht selbst verteidigen können. Bei vielen von ihnen insbesondere in Deutschland, aber auch global spüre ich diese leichte Herablassung, die man auch kleinen Kindern gegenüber an den Tag legt. Das sind wie gesagt bei weitem nicht alle, leider aber ein paar bekannte Namen, die man häufig auf Veranstaltungen sprechen lässt. Sie sind sich dessen oft nicht bewusst, aber man merkt es an ihren Äußerungen und ihrer Haltung. Aber sie würden es empört von sich weisen, wenn man sie darauf anspricht. Es ist zum Beispiel daran zu erkennen, dass kaum eine deutsche Agentur eine behinderte Person beschäftigt oder regelmäßig mit ihr zusammenarbeitet. Behinderte Menschen werden fast immer als Betroffene angesehen und sehr selten als Expertinnen behandelt. Deswegen äußere ich mich kaum noch in Online-Foren.

Viele glauben auch, überzogene Polemik könnte Argumente verstärken oder ersetzen, zu sehen bei der Kritik an Nielsen. Nielsens Kernthese, behinderte Menschen hätten trotz digitaler Barrierefreiheit eine schlechte User Experience hat keiner seiner Kritikerinnen inhaltlich aufgegriffen. Was unter anderem daran liegen dürfte, dass die meisten von ihnen keine Behinderung haben. Die meisten behinderten Menschen werden zumindest diese Aussage von Nielsen bestätigen. Ob seine Schlussfolgerungen korrekt sind, steht auf einem anderen Blatt.

Die letzte Motivation kommt von den Mitläufern: Sie teilen solche Beiträge, weil sie damit zeigen, dass sie auf der richtigen Seite stehen, wahrscheinlich aus einem schlechten Gewissen, weil sie selbst nichts für Barrierefreiheit oder behinderte Menschen tun. Erfahrungsgemäß haben sie die Beiträge nicht gelesen und die Diskussion überhaupt nicht verstanden. Mitläufer eben. Hier ein Like, da ein Share und schon hat man sein Karma-Konto wieder aufgefüllt.

Die nächste Generation ist schon am Start

Das Wort Generation hat wie es hier gemeint ist nichts mit Alter zu tun, es gibt da keinen eindeutigen Zusammenhang, junge Leute können einen Hang zum Katastrophismus haben wie die letzte Generation und ältere Menschen sind häufig sehr progressiv und konstruktiv. Mit Generation meine ich die Gruppe, die aktuell die Kommunikation dominiert, insbesondere auf Social Media und die sehr viel auf Konferenzen sprechen dürfen. Wenn ich mich mit anderen Leuten austausche, die nicht so stark im Rampenlicht stehen, sind sie häufig meiner Meinung. Viele sehen den harten Umgangston, die Larmoyanz , den Paternalismus, die Innovations-Feindlichkeit oder die WCAG-Zentrierung der alten Garde kritisch.

Aber auch hier zeigt sich der allgemeine soziale Trend einer Diversifizierung. Mir ist zum Beispiel erst auf LinkedIn aufgefallen, wie viele Personen indischer Herkunft im Thema aktiv sind. Es sind auch weit mehr als die Hälfte Frauen, die im Thema arbeiten, aber wir ziehen es vor, nicht-behinderten männlichen Westlern zuzuhören, als ob wir in den 80ern gefangen wären.

Wenn ich mir die Beiträge anschaue, die wir in den letzten Jahren über den Newsletter verbreitet haben, kommt da kaum einer der A11Y-Veteranen vor, einfach aus dem Grund, weil ich schon lange nichts mehr von ihnen gelesen habe, das irgendwie hilfreich oder nachdenkenswert wäre.

Wie ich öfter gesagt habe, ist die Zeit der Dominanz der Männer und nicht-behinderter Personen an der Spitze der Barrierefreiheit abgelaufen. Meine kleinen Nadelstiche sollen dabei helfen, dass dieser Prozess schneller vorangeht. Und auch Sie können dabei helfen, indem Sie mehr Partizipation behinderter Menschen, mehr Diversität in Teams und auf Veranstaltungen einfordern oder umsetzen, wenn das in Ihrer Macht liegt.

Sie sind anderer Meinung als ich? Das macht gar nichts, solange Sie mich dafür nicht persönlich angreifen.

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Ist Barrierefreiheit gescheitert? Ausgabe 4-2024

Selten haben wir so viel Aufregung in der internationalen Barrierefreiheits-Bubble gesehen wie beim Erscheinen von Jakob Nielsens Beitrag „Accessibility Has Failed: „. Sie haben nichts davon gehört? Macht nichts, solche Diskussionen sind meistens selbst-referentiell und flauen so schnell ab, wie sie aufgeflammt sind.

Interessante Beiträge

Jakob Nielsen kann als der Guru der Usability-Forschung bezeichnet werden, also jemand, dessen Wort durchaus gehört wird. Nielsen meint, dass künftig generative und individualisierte User Interfaces die Probleme der digitalen Barrierefreiheit lösen würden. Die Diskussion wird in diesem Beitrag eingeordnet.

Jakob Nielsen allein gegen die Accessibility Bubble

Bei Formularen und Anwendungen ist das Fehler-Management besonders wichtig. Worauf man achten sollte, zeigt dieser Beitrag.

Fehlermanagement in der digitalen Barrierefreiheit

Soeben wurde eine deutschland-weite Kampagne zur Barrierefreiheit gestartet.

Bundesinitiative Deutschland wird barrierefrei

Automatisiertes Testen spielt in der Software-Entwicklung eine wachsende Rolle. Ein Artikel beschäftigt sich damit, wie Barrierefreiheit in disem Prozess integriert werden kann.

BARRIEREFREIHEIT IM BUILDPROZESS AUTOMATISIERT PRÜFEN

Weiter geht es auf Englisch: Frauen und Mädchen mit Behinderung sind besonders stark von Diskriminierung, Belästigung oder Gewalt betroffen. Darauf macht das „Manifesto on the Rights of Women and Girls with Disabilities“ aufmerksam.

Empowerment and Leadership – Third EDF Manifesto on the Rights of Women and Girls with Disabilities

Eurostat hat jetzt einen speziellen Bereich zu Statistiken zum Thema Behinderung.

Weiter zu Eurostat

Eine Studie aus Großbritannien untersucht die Repräsentanz behinderter Menschen auf offiziellen Bildern.

Changing the image of disability – Research findings

Das Smashing Mag beschäftigt sich mit barrierefreien Daten-Visualisierungen.
How Accessibility Standards Can Empower Better Chart Visual Design

Da wir häufiger gefragt werden, hier gibt es eine Quelle zum Thema Abbildungen von Menschen mit Behinderung in verschiedenen Situationen. In Deutschland ist hier besonders das Projekt Gesellschaftsbilder der Sozialhelden zu nennen.

Stock photos of people with disabilities

Bias spielt in Daten für das Machine Learning eine große Rolle. Wie der Bias verrringert werden kann, damit beschäftigt sich ein aktueller Beitrag.

How we can make AI less biased against disabled people

Das Projekt Stark bietet eine verständliche Erklärung für alle WCAG 2.2-Kriterien.

The WCAG Explained

Digitalisierung kann für die einen ein Segen und für die anderen ein Fluch sein – für diejenigen, die den Zugang nicht haben, so ein Beitrag bei Wired.

The Danger of Digitizing Everything

Schulungen und Leistungen

Es gibt neue Termine für die Schulungen zur Barrierefreiheit von PDF und Web von Silta. Schauen Sie einmal in das Schulungs-Angebot.

Gute Nachrichten des Monats

Wir gratulieren Heike Heubach. Sie wird die erste gehörlose Abgeordnete im Deutschen Bundestag sein. Heubach tritt für die SPD an und rückt für eine ausgeschiedene Abgeordnete nach.

Zu Ehren der Deutschen Gebärdensprache wurde auch eine eigene Briefmarke veröffentlicht

Statistik des Monats

Wenn man einen Onlineshop hat, ist es vielleicht nicht die cleverste Strategie, ein Fünftel seiner möglichen Kunden wegzuhalten. Das kann der Effekt von Barrieren sein. Menschen mit Behinderung und Ältere sind eine attraktive Zielgruppe, weil sie aus verschiedenen Gründen vom Online-Shopping profitieren können, zum Beispiel wegen mangelnder Mobilität. Ein paar interessante Daten aus Großbritannien:

  • In UK werden etwa 20 Prozent zu den Menschen mit Behinderung gezählt.
  • – Ihre zusammengefasste Kaufkraft beträgt 274 Milliarden britische Pfund

Der Click-Away Pound – gibts dafür einen deutschen Begriff? – beschreibt, wie viele und warum Leute etwas wegklicken.

Die WebAIM-Million 2024 – sind 96 Prozent der Webseiten nicht barrierefrei?

Repost aus gegebenem Anlass: WebAim hat eine neue Analyse im März 2024 veröffentlicht. Mit hohen Zahlen wie 50 Millionen gefundenen Fehlern auf eine Millionen Startseiten ist Aufmerksamkeit sicher. Meine Kritikpunkte bleiben aber bestehen.

Kommunikation von WebAIM auf Effekt ausgelegt

96 Prozent der meist genutzten Webseiten nicht barrierefrei – die Nachricht macht aktuell wieder die Runde auf Twitter und einschlägigen Accessibility-Kanälen. Tolle Sache, vor allem, wenn man nur Überschriften liest. Persönlich finde ich die WebAIM-Erhebung aus zahlreichen Gründen nicht aussagekräftig bzw. werden falsche Schlüsse gezogen. Die Gründe möchte ich in diesem Beitrag darlegen.

Kurz zur Erklärung: In Fachkreisen sprechen wir nicht von Barrierefreiheit, sondern von Konformität. Konformität heißt, dass ein bestimmter Standard erfüllt wurde, zum Beispiel WCAG 2.1 auf Stufe AA. Da der Begriff „barrierefrei“ für Webseiten nicht fest definiert ist, ist dieser Behelf stets notwendig.

Generell handelt es sich aus meiner Sicht weder um eine Analyse noch um eine Studie, der Begriff Daten-Erhebung passt am ehesten. WebAIM selbst gibt nur Zahlen heraus und interpretiert relativ wenig, es fehlt also an analytischer Tiefe. Für eine Studie wäre ein Hauch von empirischer Methodik notwendig, der ebenfalls nicht zu finden ist. Die – zumeist falschen – Interpretationen kommen von anderen Personen. Das WebAIM die Zahlen nur kommuniziert und nicht interpretiert, finde ich allerdings sinnvoll.

Da der Artikel recht lang geworden ist, möchte ich die Haupt-Kritik am Anfang zusammenfassen:

  • Die gefundenen Fehler dürften in aller Regel nicht zu einer eingeschränkten Nutzbarkeit der Websites durch behinderte Menschen führen. Jede Teilmenge von Websites ist durch eine Teilmenge der behinderten Menschen schlecht oder gar nicht nutzbar, aber WebAims Erhebung bringt uns diesbezüglich keine neuen Erkentnisse. Nutzbarkeit durch behinderte Menschen und Konformität mit Barrierefreiheits-Regeln sind nicht immer deckungsgleich. Wenn einige Expert:Innen auf Grund der WebAIM-Analyse behaupten, 96 Prozent der Websites seien durch behinderte Menschen überhaupt nicht nutzbar, kann man das nur als Unsinn bezeichnen. Dass eine komplette Website überhaupt nicht nutzbar ist, kommt äußerst selten vor, häufig sind aber einzelne Teile wie der Login, die Cookie-Meldung und ähnliche Dinge nicht nutzbar. Das sind aber völlig verschiedene Dinge und man sollte sich schon an die Fakten halten.
  • Der Test ist so oder so eine Moment-Aufnahme: Zum Zeitpunkt X wurden so und so viele Fehler gefunden. Sie können eine Minute nach dem Test behoben oder es können andere Fehler hinzugekommen sein. Würde man das Test-Sample vergrößern, sich also nicht nur die Startseiten anschauen, würden vermutlich alle Websites mindestens einen (eher deutlich mehr) Fehler aufweisen. Was ist mit dieser Erkenntnis gewonnen?
  • WebAIM nimmt keine Gewichtung vor, wie schwerwiegend die Fehler sind. 1 oder 1000 Fehler, nach WebAIM ist das gleichermaßen relevant. Die Kommunikation ist nicht auf Information, sondern auf maximalen Effekt ausgelegt.
  • Wenn ich eine Studie lese, die behauptet, fast 100 Prozent der Anbieter würden gegen Regeln verstoßen, dann würde ich den Schluss daraus ziehen, dass die Regeln nicht erfüllbar sind. Ist es das, was WebAIM sagen möchte, dass es nicht möglich ist, mit den WCAG-Regeln konform zu sein? Wenn nein, worin liegt der Erkenntnis-Gewinn? Jede Expertin wird Ihnen heute sagen, dass absolute Konformität mit den Regeln für ein komplexes Angebot kaum mit vernünftigem Aufwand erreichbar und auch nicht notwendig ist.
  • Automatisierte Tools sind begrenzt aussagekräftig. Sie können Aussagen über eine große Menge von Daten treffen, die aber auf das einzelne Objekt betrachtet eventuell nicht relevant sind. Ich kann z.B. behaupten, dass Personen in Deutschland im Schnitt 1,80314 Meter groß sind und 71,235124 kg wiegen, was im Durchschnitt zutreffen mag, aber auf kein Indiduum. Die Websites weisen also wahrscheinlich Fehler auf, aber wie viele das sind und ob sie für die Nutzung relevant sind, kann die WebAIM-Studie nicht belegen. Schwerwiegender finde ich, dass wichtige Kriterien wie Benutzbarkeit per Tastatur oder das Abschalten von Animationen und Bewegungen gar nicht automatisch geprüft werden können, zumindest nicht mit Wave. Selbst die Homepages mit den meisten von WebAIM gefundenen Fehlern könnten weit besser sein als jene, auf denen WebAIM kaum Fehler gefunden hat: Sie könnten massenhaft Fehler enthalten, die nicht automatisch aufspürbar sind.
  • Auch der Umkehr-Schluss ist falsch: Weil WebAIM auf 4 Prozent der geprüften Websites keine Probleme gefunden haben will, müssen diese Seiten nicht barrierefrei oder für behinderte Menschen gut nutzbar sein, wie etwa Knowbility auf Twitter behauptet. Als Faustregel gilt, dass ca. 35 Prozent der Probleme automatisiert gefunden werden können. WebAIMs Studie belegt also höchstens, dass diese 4 Prozent automatisch (wahrscheinlich mit WebAIMs Wave) getestet und diese Fehler ausgebügelt haben. Sie könnten aber trotzdem massenhaft nicht automatisch aufspürbare Fehler enthalten. Das zeigt deutlich, wie wenig aussagekräftig der WebAIM-Score ist.
  • WebAIM suggeriert, dass es eine klare Relation zwischen der Zahl der gefundenen Fehler und der Barrierefreiheit gibt. Das ist nach aller Erfahrung nicht der Fall. Ein einzelner Fehler wie eine Tastaturfalle kann dazu führen, dass eine Anwendung nicht nutzbar ist. 10 Kontrast-Fehler etwa bei Werbebannern sind zwar nicht optimal, aber dürften in aller Regel keinen großen Impact haben, niemand ruft eine Nachrichtenseite auf, um sich die Werbung anzuschauen.

Methodik

Die eine Millionen Websites wurden mit dem WAVE-Tool von WebAIM automatisiert geprüft. Vielmehr ist zur Methodik auch nicht zu sagen. Es ist schlicht nicht möglich, eine solche Menge an Websites in angemessener Zeit qualitativ zu analysieren.

Hier beginnt aber auch schon das erste Problem: Das Tool untersucht sowohl WCAG-Kriterien nach A und AA. Doch selbst in den USA sind die meisten Betreiber nicht zur Barrierefreiheit verpflichtet und streben in der Regel wenn überhaupt nur A an. Es macht keinen Sinn, Organisationen auf AA zu prüfen, die das nicht anstreben, weil sie sich zum Beispiel an die Kontrast-Anforderungen nicht gebunden fühlen.

WebAIM macht außerdem nicht transparent, wie sie mit dem Kriterium 4.1.1 Parsing umgegangen sind, das mit der WCAG 2.2 abgeschafft wurde. Unter den dargestellten Fehlern ist kein WCAG-2.2-Kriterium zu finden, obwohl sie nach WCAG 2.2 geprüft haben wollen. Ich vermisse eine Tabelle über alle gefundenen Fehler verteilt auf die einzelnen Homepages. WebAIM ist hier leider alles Andere als transparent.

Automatisierte Tools sind begrenzt bis gar nicht hilfreich

Auch wenn WebAim Wave noch zu den besseren Tools zählen mag, ist man sich einig, dass diese Tools vielleicht 30 bis 40 Prozent der Barrierefreiheitsfehler finden können. Meines Erachtens sind die Tools nach wie vor eher mangelhaft, ich habe Zugang zu Siteimprove und Silktide und beide geben viele Fehler aus, die keine Relevanz haben. Es gibt viele falsch-positive Ergebnisse, d.h. es werden Fehler behauptet, die einer manuellen Prüfung nicht Stand halten.

Es gibt Dinge, die man automatisch messen kann wie das Vorhandensein bestimmter HTML-Elemente, ARIA-Attribute, Labels, Alternativtexte und einige Kontraste. Doch ist die Liste der Dinge länger, die sie nicht auswerten können. Dazu gehört die Sinnhaftigkeit von Alternativtexten, der sinnvolle Einsatz von ARIA, die korrekte Auszeichnung von Texten oder Formular-Elementen.

Kurz: Ob Wave Fehler anzeigt oder nicht, ist vollkommen irrelevant. Ein fauler, aber schlauer Entwickler lässt das Tool drüberlaufen, bügelt die Fehler aus und bekommt seine Seite konform, ohne ein Quentchen an der Barrierefreiheit verbessert zu haben.

Im Gegenteil setzt das Tool Fehl-Anreize, nämlich die Optimierung für automatisierte Prüftools. Warum aufwendige manuelle Tests, wenn WebAIM mit einem Klick grünes Licht gibt?

Wie WebAIM selber anmerkt, werden Webseiten immer komplexer. Ich gehe allerdings davon aus, dass viele Webseiten insbesondere aus dem angloamerikanischen Raum das Thema Barrierefreiheit auf dem Schirm haben. Das heißt, sie kümmern sich um Alternativtexte oder sinnvolle Link-Beschreibungen. Allerdings ist es für extern eingebundene Inhalte teils nicht möglich, diese Faktoren zu berücksichtigen.

Ein Großteil der Fehler dürfte auf solche eingebundenen Inhalte zurückzuführen sein: Das sind etwa Social-Media-Inhalte oder Werbung. Wenn man nach WebAIM geht, sollte man solche Inhalte wahrscheinlich weglassen, da man sie nicht barrierefrei machen kann. Damit dürfte man die Leute eher von Barrierefreiheit abschrecken. Etwas Anderes gilt für eingebundene Bibliotheken wie etwa Generatoren für Infografiken, hier sollte natürlich auf Barrierefreiheit geachtet werden. So was überprüft WebAIM Wave aber nicht separat. Sinnvoll wäre die Trennung von realem Website-Content und Content aus externen Quellen wie Werbe-Netzwerken, das würde eine realistischere Bewertung erlauben. Ob das technisch immer möglich ist, weiß ich nicht, aber so sind die Ergebnisse einfach nicht aussagekräftig, weil man nicht weiß, ob die Betreiberin der Website verantwortlich ist oder das Werbe-Netzwerk.

Schauen wir uns die Fehler einmal genauer an (die Zahlen beziehen sich auf eine ältere WebAIM-Studie):

  • 86 Prozent mit Fehlern beim Kontrast: Wie oben angemerkt kein AA-Kriterium
  • 66 Prozent Bilder mit fehlenden Alternativtexten: Hier gehts wahrscheinlich um extern eingebundene Inhalte, auf die man keinen großen Einfluss hat, gleiches gilt für Links ohne Text.
  • 53 Prozent mit fehlenden Formular-Beschriftungen: In der Tat ärggerlich, aber das kann man nur im Zusammenhang beurteilen. Geht es etwa um das Suchfeld und ist nur ein Feld vorhanden, ist dieser Fehler nicht so schlimm.
  • 28 Prozent fehlende Dokumentsprache – völlig irrelevant, da die meisten NutzerInnen der Webseiten MuttersprachlerrInnen sein dürften. Das Language-Attribut ist so ziemlich der größte Blödsinn, den sich die Accessibility Expert:Innen überhaupt ausgedacht haben.

Keine Seite ist ohne Fehler

Die eine Millionen am meisten besuchten Webseiten werden wohl jeweils von größeren Teams betreut. Da kann es immer wieder passieren, dass einzelne Redakteure Fehler machen: Sei es die fehlerhafte Einbindung eines Widgets, die falsche Verschachtelung von Überschriften oder das Vergessen des Alternativtextes. Wer ohne Fehler ist, werfe den ersten Stein auf WebAIM.

Das heißt, schon ein einzelner Fehler eines Redakteurs kann dazu führen, dass die Website durch die WCAG durchfällt. Kann man sinnvoll finden, praxisrelevant ist es nicht.

96 Prozent aller Webseiten weisen also Fehler auf, es dürften eher 100 Prozent sein. Wer schon mal Webseiten evaluiert hat weiß, dass man Fehler findet, wenn man gezielt nach ihnen sucht.

Am Ende geht es aber nicht um technische Perfektion, sondern darum, dass Menschen mit Behinderung die Website nutzen können. Darüber sagt die WebAIM-Studie tatsächlich gar nichts aus.

Niemand behauptet, dass alle Webseiten perfekt barrierefrei seien. Aber die Behauptung, 98 Prozent der Webseiten könnten von behinderten Menschen nicht genutzt werden ist einfach Quatsch. WebAIM sagt das nicht ausdrücklich, suggeriert es aber durch die gesamte Aufmachung der Kommunikation. Sheri BYRNE-Haber schreibt „98% of websites are completely inaccessible.“ auf Seite 33 in ihrem eBook „Giving a damn about accessibility.

Um es klar zu sagen: Es ist gut, diese Menge an Daten zu haben. Noch besser wäre es, die Rohdaten für die Forschung zur Verfügung zu stellen. Der Unsinn besteht in den Schlussfolgerungen, wie WebAIM damit suggeriert und Andere daraus ziehen.

Das Problem ist, dass eine Website bereits dann nicht konform ist, wenn ein einziger Fehler gefunden wird. Eine Gewichtung der Fehler findet nicht statt. Es ist also kein Unterschied zwischen es fehlt irgendwo eine Bildbeschreibung und der Kontrast der kompletten Seite ist verfehlt, beides ist ein Fehler, nur dass der eine in der Regel keine Rolle spielt und der andere riesigen Impact hat. In diesem Sinne hat ein winziger Fehler im Code die gleiche Bedeutung wie eine Cookie-Meldung, die sich nicht per Tastatur ausblenden lässt. Ersteres spielt in der Praxis keine Rolle, Letzteres verhindert die Nutzung der Seite durch eine Reihe von Personen. Das kann kein sinnvoller Maßstab sein.

Motivieren oder demotivieren

Ein Kunde wollte mich überreden, die Studie in einer der Schulungen zu erwähnen. Ich habe mich geweigert, aus den oben genannten Gründen. Aber auch, weil ich das Signal für fatal halte. Die Studie kann zeigen, dass auch Andere es nicht besser machen als man selbst und dann dazu motivieren, mehr zu tun.

Meines Erachtens hat sie aber einen demotivierenden Effekt. Sagt sie nicht aus, dass die WCAG 2.1 AA im Grunde nicht umsetzbar ist? Und das bei Websites, die teilweise ein sechsstelliges Budget haben dürften? Wenn es Riesen wie Amazon oder die New York Times nicht schaffen, ihre Websites barrierefrei zu machen, wie soll es dann dem lokalen Selbsthilfe-Verein gelingen. Solche Studien fördern meines Erachtens den Fatalismus, weil sie suggerieren, dass es kaum vorangeht.

Der einzige Nutzen, den ich sehe ist tatsächlich, dass hier eine große Menge an daten generiert wird. Dadurch kann man Vergleiche anstellen und Entwicklungen im zeitlichen Verlauf erkennen.

Die Websites untereinander zu vergleichen macht aus meiner Sicht keinen Sinn, Websites sind komplex oder weniger komplex, es wäre nicht sinnvoll, eine einfache Medien-Seite mit einem Onlineshop zu vergleichen.

Unter Site Categories kann man unterschiedliche Branchen, deren durchschnittliche Fehlerquote und Entwicklung verfolgen.

Tatsächlich sind die anderen Statistiken deutlich interessanter: Wie ist das Verhältnis von genutztem System/Framework zur Fehlerrate? Haben Websites mit Werbung mehr Fehler als solche ohne Anzeigen?

Für Forschende wären die Rohdaten der Analyse interessant, aber WebAim scheint diese nicht zugänglich machen zu wollen.

Was soll diese Erhebung

Im Grunde schätze ich die Kollegen von WebAIM. Umso mehr wundere ich mich darüber, dass sie so eine Erhebung veröffentlichen. Was ich hier schreibe ist sozusagen das kleine 1 mal 1 der Barrierefreiheit und natürlich auch den Verantwortlichen bekannt.

Ich habe im Grunde nur zwei Erklärungen: Entweder glauben sie tatsächlich so an die Qualität ihres Tools, dass sie die oben genannten Punkte einfach ausblenden. Oder – das vermute ich – die Studie ist ein reiner PR-Gag. Für eine schnelle Meldung ist das schön griffig: „96 Prozent aller Webseiten schließen Behinderte aus“. Kann man wunderbar in eine Schlagzeile packen. Dass diese Studie von WebAIM veröffentlicht wurde sagt wenig über die Haltung der WebAIM-Specialists dazu aus: Es wäre nicht das erste Mal, dass das Marketing etwas anderes tut als die Fach-Abteilung. Auch digitale Barrierefreiheit ist keine Wohlfahrt, sondern ein Business wie jedes Andere.

Mit der Realität hat das wenig zu tun. Zumindest die meisten textlastigen Angebote lassen sich gut nutzen, auch wenn sie kleinere Mankos in der Barrierefreiheit haben. Jede beliebige Website dürfte von einer Teilmenge der behinderten Menschen nicht benutzbar sein, aber das hat relativ wenig mit dem WCAG-Score zu tun.

Und ich bin mir auch nicht sicher, ob man der Barrierefreiheit damit einen Dienst erwiesen hat. Es wundert mich schon, dass WebAIM glaubt, diese Art von PR nötig zu haben. Auch namhafte Accessibility Specialists verbreiten die Studie unkritisch – was nicht heißt, dass sie deshalb sinnvoll ist. Ich kann nur vermuten, dass es da um Eigenmarketing geht oder sie nicht in der Lage sind, die Qualität von solchen Studien zu bewerten. Oder – das meine Vermutung – sie haben die Studie gar nicht gelesen. Oft ist das Problem bei solchen Analysen, dass nur Überschriften oder Zusammenfassungen gelesen werden. Die Barrierefreiheits-Profis teilen die Ergebnisse, weil sie dadurch ihre Existenz-Berechtigung belegen können oder weil das zu ihrer Erzählung passt. Die Nicht-Profis haben nicht die Zeit oder das Hintergrund-Wissen, die Aussagen zu hinterfragen.

Es ist ein wenig ironisch, wenn Personen, die ansonsten alles manuell oder durch behinderte Menschen geprüft haben wollen auf einmal einer automatischen Prüfung soviel Aussagekraft zubilligen. Nach dieser Logik darf sich niemand mehr über eine Website beschweren, die einen Score von 100 % bei WAVE hat. Es sind auch überwiegend die gleichen Leute, die der KI in der Barrierefreiheit sehr kritisch gegenüber stehen. Algorithmen scheinen nur gut zu sein, wenn sie die eigene Story bestätigen.

Wir lernen daraus, dass man nicht alle Aussagen ernst nehmen darf, sondern deren Basis hinterfragen sollte. Oft genug sieht man Zahlen ohne Quellen-Angaben oder schlecht gemachte Studien als Basis für Aussagen.

Zum Weiterlesen

Fehler-Management in der digitalen Barrierefreiheit


Meines Erachtens gehört das Fehlermanagement nicht in die digitale Barrierefreiheit, sondern gilt für alle Nutzenden. Es ist ja eher tragi-komisch, dass wir seit fast 30 Jahren digitale Formulalre haben und trotzdem jeden Tag Formulare finden, wo die grundlegenden Patterns eines guten Fehlermanagements nicht beachtet werden.

Die WCAG zum Thema Fehler

Die folgenden WCAG-Kriterien gelten speziell für das Fehler-Management.
3.3 Fehler identifizieren und beschreiben (Error Identification)
•Dieses Kriterium besagt, dass Fehler in Formularen so identifiziert und beschrieben werden müssen, dass Benutzerinnen verstehen können, was falsch ist und wie sie den Fehler beheben können. Zum Beispiel sollten Benutzerinnen darüber informiert werden, wenn sie ein Pflichtfeld leer gelassen haben oder wenn ihre Eingabe ungültig ist.
3.3.1 Fehlererkennung (Error Suggestion)
•Dieses Kriterium verlangt, dass Benutzern bei der Eingabe von Daten in Formularen Fehler automatisch erkannt werden, und ihnen Vorschläge zur Fehlerbehebung gemacht werden. Zum Beispiel könnte eine Webseite Benutzern eine Fehlermeldung anzeigen, wenn ihre E-Mail-Adresse ein ungültiges Format hat, und ihnen dann vorschlagen, die Adresse zu überprüfen und erneut einzugeben.
3.3.2 Labels oder Anweisungen (Labels or Instructions)
•Dieses Kriterium legt fest, dass Formularelemente (wie Textfelder, Dropdown-Listen usw.) klar beschriftet oder mit Anweisungen versehen sein müssen, damit Benutzer verstehen, welche Art von Informationen erwartet werden. Klare Beschriftungen helfen Benutzern auch dabei, Fehler in

Fehler-Toleranz

Formulare sollten wo möglich fehlertolerant sein. In der Regel spielt es zum Beispiel keine Rolle, ob jemand seine Telefonnummer mit Schrägstrich, Bindestrich oder anderen Zeichen dazwischen schreibt. Wenn man in Deutschland lebt, ist es auch relativ unwahrscheinlich, dass man eine andere Ländervorwahl hat – möglich ja, wahrscheinlich nein. Dennoch muss man z.B. bei der Deutschen Bahn seine Länder-Vorwahl eintragen. Manche Bank möchte keine Leerzeichen in der IBAN, mancher Onlineshop möchte keine Leerzeichen in der Kreditkarten-Nummer. Wenn aus irgendeinem Grund eindeutige Nummern notwendig wären, könnte das über die Programmierung problemlos herausgefiltert werden.
Unabhängig davon sollte immer direkt beim Eingabefeld erläutert werden, welche Zeichen erlaubt oder verboten sind. Oft kommt es bei Passwort-Vergaben vor, dass zwar alle möglichen Zeichen gefordert, aus unerfindlichen Gründen aber auch bestimmte Sonderzeichen verboten sind. Zusätzliche Angaben müssen ebenso wie Fehlermeldungen über ARIA described by eindeutig mit dem zugehörigen Eingabefeld verknüpft werden.
Häufig müssen Eingaben in Namensfeldern mindestens drei Zeichen haben, aber viele Asiatinnen haben Namen mit nur zwei Zeichen. Ein großer Unsinn sind auch Select-Felder mit der Auswahl des Landes, in denen alle 300 staatlichen Entitäten der Welt in alphabetischer Folge hinterlegt sind. Das mag bei der UNO Sinn machen, aber das jemand ein deutsches Formular ausfüllt und aus Mikronesien stammt ist sehr unwahrscheinlich. Sowas ließe sich mit einer Auto-Suggest wesentlich besser lösen: Man gibt etwa BRA ein und bekommt alle Staaten angezeigt, die mit Bra anfangen. Select-Felder sind nur für überschaubare Mengen an Optionen sinnvoll. Zumindest sollten bei einem solchen Select-Feld die naheliegenden Optionen am Anfang stehen, bei einer deutsch-sprachigen Person also Deutschland, Schweiz, Österreich und weitere Staaten, in denen Deutsch zu den offiziellen Sprachen gehört.
Wo möglich sollten mehrere Eingabe-Möglichkeiten angeboten werden. Leider muss man sagen, dass zum Beispiel die meisten Kalender-Widgets aus JavaScript-Bibliotheken nicht vernünftig mit der Tastatur bedienbar sind. Es sollte möglich sein, ein Datum einfach per Tastatur einzugeben. Alternativ gibt es auch die Möglichkeit, mit Select-Elementen oder mit Input-Feldern mit dem Attribut Date zu arbeiten.
Wo möglich sollte man eindeutige HTML-Elemente für die Eingabefelder verwenden. Diese können beim Korrigieren der Eingaben hilfreich sein oder beim automatischen Ausfüllen helfen. In HTML gibt es derzeit Attribute für Mail, Telefon und URLs.
Das WCAG-Kriterium 1.3.5 – Identifizierung von Eingabefeldern (Level AA) fordert die Hinterlegung von maschinen-lesbaren Attributen, um den Zweck von Eingabefeldern eindeutig identifizierbar zu machen, wenn sie sich auf die Nutzerin beziehen: Zum Beispiel Name, Wohnort, Telefonnummer und so weiter. Persönlich halte ich das für komplett überflüssig: Sowohl die Browser als auch die assistive Technologien verfügen über entsprechende Funktionalitäten, aber vielleicht ist das bei den zuständigen Leuten noch nicht angekommen. Eine Liste der Attribute gibt es beim Mozilla Developer Network.
Labels, also Beschriftungen, sollten eindeutig und verständlich sein. Schreiben Sie lieber „Vorname“ statt „Name“ oder „Straße“ statt „Anschrift“, wenn genau diese Angaben gemeint sind.

Fehler-Management

Bei langen Formularen sollten alle Fehler sowie die Stellen, an denen sie zu finden sind am Anfang zusammengefasst werden. Für verschiedene behinderte Menschen – und nicht nur für sie – ist es schwierig bis unmöglich, ein langes Formular zu überblicken. Außerdem sollte man mit Sprungankern direkt zu den Fehlerhaften Stellen geführt werden. Wenn es technisch möglich ist, wäre es am besten, wenn nur noch die fehlerhaften Felder angezeigt werden. Persönlich finde ich heutzutage eine dynamische Validierung sinnvoller als das serverseitig zu machen. Es ist ökologischer und auch barrierefreier: Der Screenreader muss jede neu aufgerufene Seite einmal komplett buffern, die blinde Nutzerin muss jede neu geladene Seite ein Stück weit neu erkunden und zum Beispiel das Formular ansteuern.
Lange Formulare sollten über mehrere Unterseiten verteilt werden. Ob es nun statische Seiten oder Tabs sind, ist Geschmackssache. Wichtig ist allerdings, dass einmal getätigte Eingaben automatisch gespeichert werden. Bei statischen und neu geladenen Webseiten sollten Fehlermeldungen direkt im Dokumenten-Titel sowie in der wichtigsten Überschrift untergebracht werden. Bei dynamischen Webseiten kann ARIA alert verwendet werden.

Fehler-Meldungen

Fehlermeldungen sollten so kurz wie möglich, verständlich und hilfreich sein. Bei einem Datum braucht man zum Beispiel ggf. ein Beispiel dafür, wie eine korrekte Eingabe aussieht, zum Beispiel TT.MM.JJJJ.
Fehlermeldungen dürfen nicht nur über Farbe oder andere sensorische Merkmale wie ein eingeblendetes Symbol gekennzeichnet werden. „Prüfen Sie die rot markierten Felder“ wie bei der Deutschen Bahn ist ein No-Go, aber leider nicht nur dort zu finden.
Fügen Sie einen Text wie „Fehler: Korrigieren Sie bitte …“ oder ähnlich mit hilfreichen Infos hinzu. Wie oben erwähnt muss die Fehlermeldung, wenn sie beim jeweiligen Element steht, wo der Fehler aufgetreten ist mit ARIA described by mit dem zugehörigen Eingabefeld verknüpft werden.

Pflichtangaben kennzeichnen

Bei Pflichtangaben sind zwei Wege zu unterscheiden, die beide erfüllt werden sollten:

  • Wenn Symbole wie der Stern verwendet werden, muss die Bedeutung des Symbols AM ANFANG des Formulars beschrieben werden. Wenn alle Felder Pflichtfelder sind, muss dies ebenfalls am Anfang beschrieben werden. Tatsächlich wird empfohlen, Pflichtfelder textlich wie etwa „Name (Pflichtfeld)“ zu kennzeichnen, wobei Pflichtfeld Teil des maschinenlesbaren Labels ist.
  • Unabhängig davon sollten alle Pflichtfelder auch maschinen-lesbar als solche gekennzeichnet werden, zum Beispiel über ARIA required

Zusammenfassung der Eingaben

Bei komplexen und mit Geld verbundenen Eingaben sollten die Eingaben am Ende noch einmal zusammengefasst dargestellt werden. Dabei ist es wichtig, dass zum Beispiel Tabellen richtig formatiert sind. Tabelen werden etwa verwendet, um Informationen wie eingekaufte Produkte, zugehörige Preise und Mehrwertsteuer strukturiert darzustellen.

Anwendungen

Bezüglich Anwendungen hilft uns die WCAG leider nicht weiter. Hier würde ich prüfen, wie schwerwiegend die Fehler sind. Können zum Beispiel Dokumente nicht gespeichert oder Mails nicht verschickt werden, würde ich einen Dialog empfehlen, der durch die Nutzerin aktiv weggeklickt werden muss. Und natürlich hilfreich sein sollte, auch das leider eine Seltenheit.
Handelt es sich um nicht-kritische Fehler, können auch Toast-Messages verwendet werden, darauf bin ich hier ausführlich eingegangen. Nicht-kritisch ist vielleicht eine sehr langsame Internet-Verbindung oder Ähnliches.

Server- und andere Fehlermeldungen

Auch andere Fehlermeldungen sollten verständlich und hilfreich sein. Nerds können mit 500, 400 oder 301 etwas anfangen. Normalsterbliche wissen allerdings nicht, was diese Serverfehler bedeuten und hilfreich sind sie auch nicht.
Das gilt entsprechend für alle Fehler-Meldungen, die auf Webseiten erzeugt werden. Die meisten häufig auftretenden Fehler lassen sich identifizieren. Und tun Sie mir bitte einen Gefallen: Schieben Sie die Fehler nicht auf die Nutzerinnnen. Hinweise wie „Wahrscheinlich haben Sie die URL falsch eingetippt“ bei 404-Fehlermeldungen sind unhöflich und in aller Regel falsch. Wann haben Sie das letzte Mal eine längere URL selbst eingetippt? Eben, es liegt eigentlich immer am Anbieter, der Seiten gelöscht und nicht umgeleitet hat.
Auch andere Hinweise etwa auf Werbeblocker, ausgeschaltetes JavaScript oder fehlende Rechte zur Anzeige von Social-Media-Inhalte sollten so formuliert werden, dass sie für Nicht-Techies verständlich sind.

Digitale Barrierefreiheit – Jakob Nielsen allein gegen die Accessibility Bubble


Jakob Nielsen – der Guru der Usability-Forschung – hat einen provokanten Beitrag geschrieben. Auch wenn ich nicht alle seine Aussagen teile, meine ich, dass ein Großteil seiner Kritikerinnen falsch liegen. Die Kernthese Nielsens ist, dass digitale Barrierefreiheit gescheitert sei und man es mit KI-generierten automatisch angepassten Benutzeroberflächen – sogenannten generativen UI’s versuchen solle.

Nielsen spricht von Barrierefreiheit und meint User Experience

Zunächst einmal ist Nielsen bisher nicht durch großartiges Engagement für Barrierefreiheit aufgefallen. Seit meiner letzten intensiven Beschäftigung mit Usability vor knapp zehn Jahren habe ich von Nielsen nichts mehr gehört. Seine Aussagen lassen nicht den Schluss zu, dass er wirklich tief im Thema ist:

Before turning to my recommendation for helping disabled users in general, let me mention that two huge groups of users can indeed be helped with current approaches: old users and low-literacy users.

Mit current approaches meint er vermutlich die WCAG. Allerdings gibt es da wenig Ansatzpunkte für ältere Menschen und in der WCAG AA keine für Analphabetinnen. Was darauf folgt ist Usability und nicht Barrierefreiheit, da scheint er irgendwas durcheinander gebracht zu haben. Generell glaube ich, dass er eigentlich User Experience meint, wenn er von Barrierefreiheit spricht. So gesehen ergibt der Beitrag wesentlich mehr Sinn.
Wie ich an anderer Stelle schrieb, bin auch ich mir sicher, dass die hochgradige Anpassbarkeit von User Interfaces in Zukunft immer wichtiger werden wird. Das gilt nicht nur für behinderte, sondern für alle Nutzerinnen. Meine Vermutung ist, dass Nutzerinnen auf der Ebene des Betriebssystems oder des Browsers Profile anlegen werden, die dann automatisch auf Interfaces angewendet werden. Das ist keine Zukunftsmusik, sondern passiert schon heute in gewissem Grade (siehe Abschnitt 11.7 in der En 301549), die Algorithmen werden immer besser. Auch vermute ich, dass der Trend in der Gestaltung immer stärker in Richtung Anpassbarkeit statt Pixel-Genauigkeit geht, so wie wir heute über ressponsives Design sprechen. Das ist insbesondere für die drei Gruppen wichtig, die von unseren Barrierefreiheits-Richtlinien bislang mehr oder weniger im Grunde ignoriert werden: Sehbehinderte, kognitiv Behinderte und Neuro-Diverse. Sie finden in den WCAG 2.x kaum nicht statt. Wenn das client-seitig passiert, sehe ich auch keine Datenschutz-Problematik. Richtig ist allerdings, dass solche Anpassungen möglichst fehlerfrei sein müssen. Es dürfen zum Beispiel keine relevanten Inhalte entfernt werden. Vor allem bei sprachlicher Verständlichkeit ist das hochrelevant: Inhalte müssen immer korrekt sein, auch wenn sie automatisch in verständliche Sprache übertragen werden. Zwar haben wir hier enorme Fortschritte gemacht, es ist aber bei weitem nicht so, dass wir jetzt eine akzeptable Fehlerquote haben. Nielsen geht davon aus – auch das wurde von vielen Barrierefreiheits-Pros offenbar überlesen, dass die Programmierung von Inhalten sich so verändern wird, dass die fehlerfreie Anpassbarkeit gewährleistet ist. Auch das ist keine absolute Zukunftsmusik.
Nielsen irrt allerdings, wenn er suggeriert, das würde alle Probleme der Barrierefreiheit lösen. Automatische Anpassungen sind auch für Blinde hilfreich, allerdings eher in dem Sinne, dass sie redundanten Content entfernt. Wenn ich z.B. ein Ticket kaufe oder Online-Banking mache, stört mich der Inhalt aus der Navigation und dem Footer, ich benötige nur das Formular. Bei semantisch korrekt ausgezeichneten Webseiten würde es auch heute schon funktionieren, mir sind allerdings keine entsprechenden Funktionen zum Ausblenden bekannt.
Nielsen schreibt:

Accessibility is doomed to create a substandard user experience, no matter how much a company invests, particularly for blind users who are given a linear (one-dimensional) auditory user interface to represent the two-dimensional graphical user interface (GUI) designed for most users.

Es ist korrekt, dass Blinde Informationen nur linear wahrnehmen, das ist aber bedingt durch die Technik und trifft auch nicht auf Touchscreens zu. Obwohl zwei-dimensionale Braille-Displays mittlerweile gut verfügbar sind, haben sie sich bislang nicht durchgesetzt. Wie generative UI’s das ändern sollen, sehe ich aktuell nicht. Was er mit auditory interfaces meint, erschließt sich mir nicht, vielleicht eine Art Sprach-Assistent wie Alexa. Aber es hat seinen Grund, warum Alexa kaum für komplexere Aufgaben verwendet wird.
Als Fazit bleibt festzustellen, dass Nielsen nicht sauber zwischen UX und Barrierefreiheit trennt, sie vielmehr in seinem Beitrag munter vermischt:

Moving to second-generation generative UI will revolutionize the work of UX professionals. We will no longer be designing the exact user interface that our users will see, since the UI will be different for each user and generated at runtime. Instead, UX designers will specify the rules and heuristics the AI uses to generate the UI.

Wie oben gesagt würde ich Nielsen insoweit zustimmen, wenn es um die Gestaltung grafischer Benutzer-Oberflächen geht. Wo er meines Erachtens komplett daneben liegt ist das Thema Screenreader und Sprachsteuerung: Also da, wo es aktuell auf die Code-Ebene und nicht die GUI ankommt. Es mag sein, dass hier andere KI-Technologien helfen, davon spricht Nielsen allerdings nicht.
Nielsen hat recht, wenn er davon sprecht, dass viele behinderte Menschen eine schlechte User Experience haben und dass die WCAG wenig dazu zu sagen hat. Und ich sehe in der Tat nicht, wie man das mit neuen WCAG-Regeln ändern möchte.
Nielsen spricht außerdem von einer nicht allzu fernen Zukunft. Es gibt also keinen Grund, die heutigen Ansätze zur Barrierefreiheit fallenzulassen, solange wir nichts Neues haben.

Nielsens Kritiker

Ich befürchte, ein Großteil der Barrierefreiheits-Szene ist resistent gegen Kritik. Man beobachtet oft, dass es hier auf die persönliche Ebene geht und man dann gleich ganz auf Argumente verzichtet. Ein Beispiel ist die Zusammenstellung von Adrian Roseli, dem ich gerne einen Yogar-Kurs empfehlen würde. Roseli unterstellt Nielsen zum Beispiel indirekt rechte Tendenzen, weil er bei Substack veröffentlicht hat. Nach dieser Logik sind alle rechts, wenn sie WordPress benutzen, weil es Rechte gibt, die WordPress benutzen. Einige Kritikerinnen wie Roseli verlinken nicht einmal den Original-Artikel von Nielsen, offenbar soll man sich kein eigenes Bild machen, sondern nur auf die Barrierefreiheits-Expertinnen hören. Nun ja, das bleibt ohnehin in der A11Y-Bubble und wird Nielsen wohl weder besonders schaden noch interessieren. Eher amüsant war der Beitrag von Leonie Watson, die meint, dass Nielsen sich irren würde, weil sie ihr Mittagessen online bestellen könne.
Eine der wenigen sachlichen Kritiken fand ich bei Brian DeConinck. Er schreibt:

In any case, WCAG certainly does have deficiencies. It is not sufficient to ensure an accessible experience for all users. But it’s a well-trodden path of patterns to which users are accustomed that ensures some baseline consistency in how websites behave and how assistive technologies are supported.

Und weiter:

Beyond that, when used by an experienced practitioner, WCAG is a tool for identifying things beyond just “letter of the law” conformance. WCAG provides a series of pass/fail tests, but as a sum of its parts it also describes a philosophical approach for ensuring accessible outcomes.

Ich würde beiden Aussagen widersprechen: Die WCAG hilft vor allem Nutzerinnen, die wahrscheinlich auch mit einer mäßig barrierefreien Applikation zurechtkämen. Sie hilft nicht der Mehrheit, die technisch nicht erfahren oder schlecht ausgestattet ist. Die zweite Aussage ist ebenfalls falsch: Ich kenne fast nur Expertinnen, welche die WCAG buchstabengetreu wie die Bibel auslegen. Da ist kein philosophischer oder holistischer Ansatz. Die heutigen Prüfverfahren zerlegen die Oberfläche in 60 Prüfschritte, statt einen übergreifenden Ansatz zu verfolgen. Die WCAG ist ein Relikt aus einer Zeit, in der Websites statisch und content-basiert waren. Richtig ist, dass eine die WCAG bei Einhaltung eine konsistente Nutzungs-Erfahrung herstellen können, aber warum das wichtig sein soll, wird nicht erklärt und auch nicht, warum Erfahrungen nicht auf die individuelle Nutzerin angepasst werden sollten, sofern alles funktioniert. Ich vermute, dass viele Kritikerinnen nicht verstanden haben, was Nielsen eigentlich aussagt.

Fazit

Ich bin zugegebenermaßen kein Fan von Nielsen, allerdings auch relativ ernüchtert über die Accessibility-Community. Die Aggressivität und die persönlichen Angriffe auf ihn erscheinen mir nicht gerechtfertigt. Stattdessen sollte man, wie ich das gemacht habe, es so sehen, wie es ist: Ein Beitrag zu einer längst fälligen Diskussion. Wie ich gezeigt habe, kann man auch ohne Schaum vor dem Mund die Thesen von Nielsen analysieren und kritisch bewerten. Er bietet genügend Angriffspunkte.
Ich vermute, dass viele sich an der Überschrift „Accessibility has failed“ aufhängen und den eigentlichen Beitrag gar nicht gelesen haben. Nun ja, niemand hört gerne, dass seine Ansätze gescheitert sind. Anders als viele Overlay-Anbieter verkauft Nielsen allerdings keine Barrierefreiheits-Dienstleistung und hat ein paar relevante Argumente. Wenn man gegen alle Kritikerinnen mit der gleichen Aggressivität vorgeht, wird man irgendwann nicht mehr ernst genommen.
Ich prophezeie einmal, dass die Szene in Zukunft immer mehr herausgefordert sein wird, wahrscheinlich durch neue Technologien und Newbies, die sich mit dem, wie es bisher war nicht mehr abfinden wollen. Und dass sich dann noch weniger Leute für deren aggressive Kommunikation interessieren werden als heute. Es ist, als ob Opa vom Krieg erzählt.
Bei mir verstärkt sich in den letzten Monaten der Eindruck, dass die Szene es nicht verwinden kann, dass sie nicht mehr die Herrschaft über den Diskurs hat. Wir waren so lange in unserem WCAG-Elfenbeinturm, dass sowohl die Overlay-Anbieter als auch viele andere Akteure uns verdrängt haben, weil sie besser kommunizieren können. Im Endeffekt spielt es keine Rolle: Die Technologien, die Nielsen beschreibt richten sich ja nicht speziell an behinderte Menschen, sondern an alle Nutzerinnen. Und sie werden es so selbstverständlich nutzen wie heute ChatGPT, auch wenn wir sagen, dass es nicht funktioniert.
Es ist lange her, dass man mal etwas Konstruktives aus der Szene gehört hat: Die Expertinnnen erklären uns nur noch, dass das nicht funktioniert und jenes nicht funktioniert, manchmal haben sie sogar recht, manchmal sind sie allerdings in ihrem Dogmatismus gefangen. Ich wurde übrigens wegen meinem Blogbeitrag Warum Barrierefreiheit gescheitert ist aus einer englischen Facebook-Gruppe zur digitalen Barrierefreiheit geworfen, obwohl ich dort weder diesen noch einen anderen kritischen Beitrag geteilt habe. Mir persönlich ist das egal, allerdings zeigt es doch, wie seltsam so manche Größe aus der Szene drauf ist.
Ich habe aus Nielsen-Gate mehrere Dinge gelernt:

  • Man sollte sich immer ein eigenes Bild machen.
  • Experten – ob real oder selbst ernannt – mögen es nicht, wenn man sie kritisiert, umso mehr ein Grund, es zu tun.
  • Außerhalb der Accessibility Bubble bekommt man diese Shitstorms – wenn man es überhaupt so nennen möchte – gar nicht mit. Social Media lässt diese Episoden größer und länger andauernd erscheinen, als sie sind.

Es ist Zeit für die nächste Generation an Barrierefreiheits-Expertinnen.

Trading – ein paar Überlegungen zu barrierefreien Echtzeit-Informationen

Es gibt einige Fälle, in welchen zahlreiche Informationen in Echtzeit ausgegeben werden müssen. Dabei ergeben sich einige Probleme bei der digitalen Barrierefreiheit. Hier möchte ich ein paar Überlegungen zeigen, wie sich die Probleme lösen lassen.
Hinweis: Das SC 2.2.2 Pause, Stop, Hide greift bei solchen Anwendungen nicht. Zwar findet eine permanente Änderung statt, die für kognitiv Behinderte störend sein kann. Sie ist aber eindeutig eine Grundfunktion von Echtzeit-Trading, es wäre also nicht verpflichtend, hier einen Pause-Mechanismus zu implementieren. Wie unten geschildert kann eine Funktion zum Einfrieren angeboten werden, aber der Trading-Anbieter ist dann für auf falschen Informationen basierendes Trading nicht mehr haftbar zu machen.

Problem-Beschreibung

Die Aktienkurse werden in kurzen Abständen aktualisiert. Ein Trader muss in der Lage sein, die Änderungen in Echtzeit zu verfolgen.
Sowohl Sprachausgabe als auch Braillezeile können Informationen nur linear, also nacheinander ausgeben. Gibt es eine große Zahl von Aktien und Aktualisierungen, müssen diese in der Reihenfolge vorgelesen werden, in welcher die Änderungen stattfinden. Das bringt mehrere Probleme mit sich:

  • Zum Einen ist man kognitiv schnell überfordert, wenn viele Werte und Änderungen vorgelesen werden.
  • Zum Anderen kann es sein, dass wenn etwa der Wert von vier Aktien nacheinander vorgelesen wird der erste Wert der ersten Aktie sich geändert hat, wenn der Wert der
    vierten Aktie vorgelesen wird. Das Trading ist dadurch eingeschränkt.

Das Problem ist mit heutigen und absehbaren technischen Mitteln nicht lösbar. Es gibt keine Möglichkeit, Informationen für Blinde nicht-linear auszugeben. Die hier beschriebenen Möglichkeiten sind also bestenfalls Annäherungen.

Lösungsmöglichkeiten

Möglichkeit 1: Einfrieren eines Status Quo

Der Trader bekommt die Möglichkeit, den Status an einem bestimmten Punkt einzufrieren. Es werden dann keine Aktualisierungen übermittelt.
– Vorteil: Der blinde Trader kann in Ruhe alle Werte lesen.
– Nachteil: Es ist ein Alleinstellungsmerkmal des Tradings, dass die Kurse ständig aktuell sind. Weiterhin bekommt der Blinde die Änderungen nicht mit, die neu hinzukommen. Er könnte also nicht mit validen Werten traden.

Möglichkeit 2: Einfrieren der Ansagen

Der Trader kann die Ansage der Aktualisierungen über die Website ein- und abschalten. Sie finden weiterhin statt und wenn er einen Kurs fokussiert, bekommt er dessen Echtzeit-Wert, aber er bekommt die anderen Werte nicht automatisch vorgelesen, bis er die Funktion wieder einschaltet.
– Vorteil: Wenn der Trader einen Wert fokussiert, ist dieser immer aktuell.
– Nachteil: Ein Blinder kann in einer langen Tabelle nur eine begrenzte Zahl von Werten verfolgen. Er bekommt also immer relativ wenige Informationen. Wenn er die Ansage wieder einschaltet, bekommt er wiederum zu viele Informationen auf einmal.

Möglichkeit 3: Die Änderungen werden gar nicht angesagt

Das ist so ähnlich wie Möglichkeit 2, nur dass es gar keine Möglichkeit gibt, Änderungen automatisch ansagen zu lassen. Der Trader bekommt dann nur den aktuellen Wert, wenn er eine bestimmte Aktie fokussiert hat.
Vorteil: Es gibt keinen Informations-Overload für den Blinden.
Nachteil: Wie oben beschrieben ist es dem Blinden dann nicht möglich, viele Kurse auf einmal zu verfolgen.

Empfehlung

Wir empfehlen Möglichkeit 2. Wie oben beschrieben ist das Problem generell mit denkbaren Mitteln nicht lösbar. Ein privater Trader dürfte allerdings ein eher begrenztes Portfolio haben. 10 bis 15 Aktien sollte eine blinde Person recht gut beobachten können. Dass eine blinde Person professionell tradet und Dutzende von Aktien parallel beobachtet ist aufgrund der oben beschriebenen Problematik unwahrscheinlich und in jedem Fall mit heutiger Technik nicht komfortabel umsetzbar.
Möglichkeit 2 erfüllt unseres Erachtens die grundlegenden Anforderungen der Barrierefreiheit, wie sie mit heute verfügbaren Mitteln umsetzbar sind. Der Blinde kann zudem über einen nur für ihn sichtbaren Text auf der Trading-Seite auf dieses Problem aufmerksam gemacht werden. Das beseitigt eventuelle Haftungsrisiken.
Wichtig wäre in jedem Fall, dass ein blinder Trader sich problemlos sein eigenes Portfolio zusammenstellen kann, also die Aktien, die er beobachten möchte. Bei einer begrenzten Zahl von Aktien ist die Beobachtung in Echtzeit über die automatische Ausgabe von Änderungen gut möglich.
Weiterhin ist bei einer automatischen Ausgabe der Werte wichtig, dass die Ausgabe der Werte nicht vollständig seriell abgearbeitet wird. Ein Beispiel: Es werden vier Aktien-Werte seriell ausgegeben, dann könnte es sein, dass der vierte Wert falsch ausgegeben wird, weil er sich geändert hat, während die Werte von der Sprachausgabe abgearbeitet werden. Der von der Sprachausgabe/Braillezeile ausgegebene Wert sollte möglichst immer dem zu diesem Zeitpunkt aktuellen Wert entsprechen.
Technisch gesehen kann der Bereich mit den Aktien-Werten als ARIA-Live-Region gesetzt werden. Das Attribut Offf wird gesetzt, wenn die Nutzerin die Ansage einfriert, ansonsten wird das Attribut Polite gesetzt. Das Attribut Assertive soll nur für dringende Informationen gesetzt werden, da es immer das unterbricht, was der Screenreader gerade ausgibt. Bei ständigen Änderungen wäre es der Nutzerin also nicht mehr möglich, mit der Webseite zu interagieren, weil nur noch die Änderungen ausgegeben werden. Bei polite wird die Änderung ausgegeben, sobald der Screenreader gerade nichts Anderes ausgibt. Wichtig wäre noch, dass nur Änderungen ausgegeben werden und nicht die gesamte Live-Region, wenn sich ein Wert geändert hat.

Trading für Sehbehinderte

Eine weitere Gruppe, für die das Trading schwierig sein kann, sind Sehbehinderte. Sie sind schlicht nicht in der Lage, eine größere Tabelle im Blick zu behalten und zu erkennen, ob und welche Werte sich geändert haben. Aus unserer Sicht wäre hier die beste Möglichkeit, die Tabelle dynamisch zu verändern: Zum Beispiel könnten Werte, die sich gerade geändert haben, automatisch nach oben geschoben werden.

Warum digitale Barrierefreiheit gescheitert ist

FehlerEin Nachtrag, da ich mehrfach darauf angesprochen wurde: Natürlich äußere ich in diesem Beitrag meine persönliche Meinung. Und natürlich halte ich mich immer an die gültigen, rechtlich verankerten Richtlinien, wenn es um Projekte für Dritte geht. Dass man gängigen Verfahren kritisch gegenüber steht heißt nicht, dass man sich nicht an sie halten muss.

Nach 15 Jahren im Bereich digitale Barrierefreiheit muss ich mir eingestehen, dass wir im Wesentlichen gescheitert sind. Während Behörden-Seiten mal mehr, mal weniger barrierefrei sind – BTW ist es manchmal unglaublich, wie schlecht viele kommunale Seiten nicht nur bei der Barrierefreiheit heute noch sind, ist das Thema bei der Privat-Wirtschaft bisher nicht angekommen. Und das Barrierefreiheits-Stärkungs-Gesetz wird das im Wesentlichen nicht ändern. Ja, einige Leute mehr machen sich jetzt Gedanken darüber. Aber selbst die Gutwilligen sind miserabel. Ein Beispiel ist die Comdirect/Commerzbank – meine Bank. Ich weiß, dass da durchaus jemand ist, der sich Mühe gibt, das Thema dort zu verankern. Aber bekommen sie es hin, ein sehr wichtiges Untermenü tastatur-zugänglich zu programmieren? Nein. Haben sie eine Ansprechstelle dafür? Nein. Sind sie in den letzten Jahren tatsächlich besser geworden? Nein.

Der Berg wird größer

Statt kleiner zu werden wird der Berg an Dingen größer, die barrierefrei gemacht werden müssten. Es gibt immer mehr PDFs, eGovernment-Anwendungen, native Apps und natürlich die zahllosen normalen Websites.
Leider muss man auch sagen, dass die gleichen Dinge immer wieder falsch gemacht werden. Man macht es einmal falsch, um es hinterher ein bisschen besser zu machen statt es von Anfang an richtig zu machen. Wir müssen uns mit Mikro-Optimierungen beschäftigen statt zu schauen, wie wir auch die Nutzerinnen-Erfahrung für behinderte Menschen verbessern können. Wir müssen uns mit wenig ambitionierten Personen aus Entwicklung und Design herumschlagen. Und mit noch weniger ambitionierten Entscheidungs-Trägern.
Wir müssten eigentlich zehn Jahre weiter sein, aber viele Innovationen sind in der Barrierefreiheit nicht angekommen. Dazu gehören zum Beispiel Patterns für die Gestaltung von Benutzer-Oberflächen, Test-Automatisierung, Standardisierung von Komponenten und Automatisierung von Korrekturen in Design und Entwicklung.
In gewisser Weise können wir froh sein, dass die Privat-Wirtschaft das Thema bislang größtenteils ignoriert. Wenn wir ernsthaft alle Websites, Apps und Dokumente auf die Art testen, wie wir es heute tun und mit der heutigen Human Power barrierefrei machen würden, sind wir im Jahr 2124 noch nicht fertig. Und leider können wir den Lauf der Welt ja nicht aufhalten. Wenn wir also fertig sind, dürfen wir gleich von vorne anfangen, weil 1. sich vieles in der Zwischenzeit geändert hat und 2. immer mehr dazu kommt als wegfällt. Es ist wie die Entbürokratisierung, die am Ende doch noch mehr Bürokratie bedeutet hat.

Die Barrierefreiheits-Szene ist Mitschuld

Ich werde mich morgen nicht auf eine Bühne bei einer Fuck-Up-Night stellen und darüber erzählen, wie wir gescheitert sind. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass wir aus unserem Scheitern nichts gelernt haben, und es uns sogar nicht eingestehen wollen. Stattdessen fangen wir jeden Morgen aufs Neue an, den Augiasstall auszumisten oder den Felsen den Berg hochzurollen.
Wir bauen noch mehr komplexe Regeln – weil ja die alten so gut funktioniert haben, packen wir noch ein paar dazu. Wir testen fleißig manuell, schließlich ist das unsere Haupt-Einnahmequelle und Existenz-Berechtigung. Wir mikroptimieren PDF, die wahrscheinlich kein Mensch nutzen wird. Wir sind dogmatisch mit unserem Beharren auf 100% Konformität und stoßen damit Leute vor den Kopf, die sich viel Mühe geben. Wir schimpfen auf unfähige Menschen aus Konzeption und Entwicklung, weil die nicht alle Konformitätsbedingungen und Ausnahmen auswendig kennen. Wir rennen mit unseren Verfahren wie der Entwicklung der Guidelines der technischen Entwicklung hinterher, statt uns dranzuhängen und der Abstand wird immer größer. Wir sagen, die Guidelines sind keine Regeln, pochen aber diktatorisch und kleinlich auf deren Einhaltung. Wir nennen als positive Beispiele Apple oder Microsoft – zwei der reichsten Unternehmen der Welt. Wir messen die lokale Pommesbude und den Milliarden-Konzern mit den gleichen Maßstäben. Wir sagen Anderen, sie sollen sich doch inklusiv aufstellen und verhalten und gleichzeitig gibt es kaum behinderte Expertinnen in der Szene – behinderte Menschen sind nur als Versuchskaninchen gut.
Es gibt zwei typische Verhaltensweisen, die man nicht nur in dieser Szene beobachten kann:

  • Das eigene Verhalten wird rationalisiert. Das heißt, egal wie man sich verhält, man kann erklären, warum genau dieses Verhalten richtig ist, auch wenn es das nicht wäre. Dann sucht man nach Gründen, die es rechtfertigen, die man natürlich auch immer findet.
  • Damit verwandt ist der Abwehr-Reflex gegen jegliche Kritik. Man kann nach Herzenslust alle kritisieren, aber bitte nicht uns. 1. Arbeiten wir ja für eine gute Sache und 2. wäre doch alles gut, wenn alle auf uns hören würden. Da schwingt implizit mit, dass man selbst zu den wenigen Erleuchteten gehört und alle Anderen mehr oder weniger ignorant sind. Zum Beispiel wird meine Kritik, dass kaum behinderte Menschen als Expertinnen in der Szene präsent sind – das lässt sich ganz leicht empirisch belegen – komplett ignoriert. Ebenso wenig werden die Vorträge und Panels paritätisch mit Frauen und Männern besetzt, obwohl eher mehr Frauen als Männer in der Barrierefreiheit arbeiten.

Mit anderen Worten, wir machen immer wieder den gleichen Mist, statt einmal innezuhalten und uns einzugestehen, dass wir die letzten Jahrzehnte in die falsche Richtung gelaufen sind. Mir zumindest sind keine Überlegungen bekannt, die das ganze Thema neu denken möchten.

Die Lösung muss von extern kommen

Ich fürchte, dass die alten Accessibility-Hasen nicht in der Lage sind, die geschilderten Probleme zu lösen. In gewisser Weise haben wir es uns in der Schimpf-Ecke gemütlich gemacht, während wir fleißig das Geld unserer Kunden kassieren. Wir schimpfen auf die Overlay-Anbieter, auf uneinsichtige potentielle Kunden und auf unsere Konkurrenten. Wie Homer Simpson einmal sinngemäß sagte: „Es ist einfach, uns selbst die Schuld zu geben. Es ist aber noch einfacher, Anderen die Schuld zu geben.“
Leider muss die Lösung von außen kommen: Durch junge Menschen, welche die Fenster aufreißen und neuen Schwung reinbringen, die anders über Probleme und Lösungen nachdenken.
Es ist für die „amtierende“ Generation immer sehr schwer, grundlegende Änderungen umzusetzen. Von der Erkenntnis, dass Ärzte sich mal die Hände waschen sollten bis zu dem Punkt, wo es die meisten auch gemacht haben, ist viel Zeit vergangen. In der Szene selbst sehe ich hingegen weder intrinsisch noch extrinsisch einen großartigen Druck, sich zu verändern. Wir arbeiten nicht daran, uns überflüssig zu machen – wir arbeiten daran, uns unentbehrlich zu machen. Ich finde nirgendwo auch nur eine Spur von Selbstkritik – immer sind die Anderen verantwortlich. Ein eispiel dafür ist die zumindest teilweise unsachliche Kritik an Jakob Nielsen.
Meines Erachtens hat Nielsen recht, wenn er die Zukunft in der automatischen Anpassung sieht. Zumindest für komplexe Angebote wie Applikationen oder komplexe Formulare sehe ich nicht, wie wir mit allen denkbaren Regelwerken und Patterns einen Status erreichen, der auch für wenig technik-affine und mit assistiver Technologie nicht vertraute Menschen funktioniert. Seien wir mal ehrlich: Im Augenblick sind die WCAG oder die EN 301549 ein netter Versuch, es für Leute gut zu machen, die perfekt mit ihrem Screenreader oder der Sprachsteuerung und digitalen Oberflächen allgemein umgehen Können. Andere Personen wie Sehbehinderte mit starkem Zoom, Neuro-Diverse und viele weitere Gruppen sind wenig bis gar nicht abgedeckt. Wir erreichen also vor allem jene, die auch mit 50 Prozent Barrierefreiheit wahrscheinlich noch zurechtkämen. Wir verfehlen diejenigen, für die auch 100 Prozent Barrierefreiheit zu wenig wäre – die überwältigende Mehrheit. Im Augenblick ist digitale Barrierefreiheit noch ein Projekt für die Elite-Behinderten, den Rest ignorieren wir, siehe dazu auch meinen Beitrag Warum persönliche Einstellungen die Zukunft sind.
Eben weil wir so ungeschickt agiert haben wird uns die Technik zumindest zu einem großen Teil überflüssig machen. Was die Kritiker Nielsens nicht verstanden haben ist, dass er nicht von spezifischen Entwicklungen für behinderte Menschen spricht. Die hochgradige Anpassung von GUI’s ist etwas, von dem alle Nutzerinnen profitieren werden.
Digital Accessibility has failed

Als Blinde vegan leben – warum auch hier Barrierefreiheit entscheidend ist


Heute gehts einmal um die Barrierefreiheit beim Lebensstil. Ich spreche mit der vollblinden Dani darüber, wie es ist, als Blinde vegan zu leben. Dani hat darum gebeten, anonym zu bleiben, daher gibt es hier keine persönlichen Informationen über sie.

Domingos: Erst mal vielen Dank, dass du dir die Zeit für das Interview nimmst. Du hast entschieden, vegan zu leben, was heute ja erst mal unspektakulär ist, aber du bist auch vollblind, was ja eine große zusätzliche Herausforderung ist.
Ich habe die leichte Variante gewählt und bin Vegetarier. Veganismus schien mir nicht machbar, vor allem, weil das vegane Einkaufen für uns Blinde ja praktisch unmöglich ist. Alles fühlt sich gleich an und man weiß weder ob noch, wo wenn überhaupt vegane Produkte vorhanden sind.

Dani: Ja, vielen Dank für die Einladung. Das hat mich auch lange abgehalten. Allerdings habe ich angefangen, bei Rewe online zu bestellen. Ich möchte aber vorneweg sagen, dass ich keine lupenreine Veganerin bin. Ich studiere nicht die Rezeptur der Hygiene-Artikel oder verhöre die Leute, die mich bekochen, ob da wirklich kein tierisches Produkt in der Nähe war. Meine Schuhe sind nach wie vor aus Leder. Deswegen war ich auch nicht sicher, ob ich die Richtige bin, um Deine Fragen zu beantworten.

Domingos: Ich denke schon, dass deine Geschichte interessant ist und es geht ja darum, dass man deinen Weg ein wenig nachvollziehen kann. Gleich die erste Frage: Ist das nicht unökologisch, online zu bestellen?

Dani: Die perfekte Lösung ist es nicht. Aber ich vermute, dass Rewe lokale Lager nutzt. Außerdem bin ich nicht die Einzige, an diesem Ort hier beliefert wird. Es ist mit Sicherheit ökologischer als Individuen, die mit dem Auto drei Mal die Woche beim Discounter vorfahren. Außerdem diszipliniere ich mich und kaufe nur einmal die Woche ein, dann halt für die ganze Woche. Es ist also nicht das Gleiche wie etwas bei Amazon zu bestellen, was aus irgendeinem Zentrallager durch das halbe Land gefahren wird und wo der Paketbote extra zu mir kommt.

Domingos: Was sind die konkreten Herausforderungen, als Blinde sagen wir im Biomarkt einzukaufen, du wohnst ja in einer Großstadt und hast keine Probleme mit der Nutzung von Bus und Bahn?

Dani: Tatsächlich gibt es hier alles an Märkten. Die Discounter haben ein sehr eingeschränktes Angebot, die Supermärkte haben zwar häufig viel, aber sind unübersichtlich, gleiches gilt für die Biomärkte. Das Problem ist aber, dass sich alles gleich anfühlt. Milch kann man nicht aus der Verpackung herausriechen. Hat man einmal die Ecke entdeckt, wo die Produkte stehen, wird sie wieder verschoben. Außerdem sind die nicht immer sauber sortiert. Man kann mit SeeingAI den Text scannen, aber das finde ich anstrengend.
Als Vollblinde kannst du auch keinen Einkaufswagen schieben, das geht mit dem Stock nicht. Als ich noch selbst eingekauft habe, hatte ich immer einen Korb dabei, wo ich die Sachen reingepackt habe, aber das ist auch nicht ganz unproblematisch.
Es sind ja überwiegend die gekühlten Produkte, die auf Milch basieren. Wenn man die nicht braucht, kann man glaube ich sogar relativ unproblematisch im Supermarkt einkaufen. Da sie aber zumindest in meiner Ernährung eine große Rolle spielen, ist der Supermarkt zu kompliziert für mich.
Natürlich kann man eine der Angestellten fragen, aber um ehrlich zu sein sind die nicht immer besonders freundlich oder zuverlässig. Das ist kein Vorwurf, ich würde deren Job nicht machen wollen. Aber man möchte nicht den Eindruck haben, dass man anderen Leuten lästig ist.
Für mich ist leider auch das Thema Übergewicht eine wichtige Frage. Ich versuche, Zucker zu reduzieren und das kann ich online leichter, weil ich da die Zutaten und Nährwerte sehen kann. Im Laden kann man da kräftig auf die Nase fallen, weil sogar in normalen Brotaufstrichen oder im Natur-Jogurt Zucker ist.

Domingos: Der Discounter hat dich also als Kundin verloren?

Dani: Ja, ich gehe nur noch gelegentlich hin, wenn ich etwas vergessen habe. Ich brauche nicht viel, aber meine 300 € im Monat gehen jetzt an den Rewe.

Domingos: Wie barrierefrei ist der Online-Supermarkt?

Dani: Ich nutze die Rewe-App auf dem iPhone, die funktioniert ganz gut. Über die anderen Bestell-Möglichkeiten oder Online-Supermärkte kann ich nichts sagen.

Domingos: Wie ist mittlerweile die geschmackliche Qualität veganer Ersatz-Produkte?

Dani: Es hängt natürlich vom konkreten Produkt ab und es ist natürlich eine Geschmacksfrage. Meines Erachtens können vegane Ersatz-Produkte aber nicht überall überzeugen. Mein Schwachpunkt ist Schokolade. Der Geschmack und das Mundgefühl sind nicht rund. Bei Frischkäse und Jogurt passt die Konsistenz nicht so ganz. Was mittlerweile recht gut ist, ist Schafskäse. Fleisch-Ersatz ist mittlerweile glaube ich recht gut, aber den brauche ich nicht so. Die Auswahl ist aber sehr gut, man hat bei Frischkäse etwa drei verschiedene Anbieter und verschiedene Geschmacks-Richtungen. Solange Milch nicht künstlich erzeugt werden kann und man Produkte versucht zu kopieren, wird die Original-Version wahrscheinlich immer die Nase vorne haben. Aber das stört mich nicht so sehr.

Domingos: Wie ist das preislich heutzutage?

Dani: Mittlerweile ist es okay. Man muss sich bewusst sein, dass es deutlich teurer sein kann, wobei das sich durch die Inflation ein wenig angeglichen hat. Teils werden teure Zutaten wie Mandeln oder Cashews verwendet. Allerdings bin ich auch die Eigen-Produkte der Discounter gewöhnt und die Preise spiegeln ja lange nicht mehr die Realität wider. Andere Dinge wie Gemüse, Bohnen, Ajvar und so weiter kann man nach wie vor essen. Auf mittlere Sicht möchte ich mich mehr von den Ersatzprodukten wegbewegen, nicht weil sie nicht schmecken, sondern weil ich es für Nonsens halte, etwas nachzuahmen. In der asiatischen Küche sind sie auch häufig ohne Milch ausgekommen, weil viele dort allergisch sind, warum sollen wir an solchen Produkten kleben? Also ja, es kann teurer sein, je nachdem, was man nimmt.
Aber auch hier ist der Vorteil bei online, dass man den Preis sehen und vergleichen kann, das geht im Supermarkt nicht. Auch da gibts böse Überraschungen. Es sind aber vor allem die Fertigprodukte und die Nachahmer, die ins Geld gehen. Wie gesagt, die meisten ungekühlten Produkte kann man nach wie vor kaufen, die sind meistens nicht auf tierischer Basis. Man muss sich vor Augen halten, dass Fleisch, Eier und Milch 1. hochsubventioniert sind und 2. in so einer Masse produziert werden, dass sie natürlich billiger sind als vegane Produkte, die in geringeren Stückzahlen produziert und nicht subventioniert werden.

Domingos: Ja, das Problem kenne ich auch. Was nervt dich am meisten am Veganismus?

Dani: Die Auswahl in den Restaurants außerhalb der Großstadt ist überschaubar. Pommes mit Ketchup oder Nudeln ohne alles scheinen für Manche vegan genug zu sein.
Es ist aber auch tragikomisch, dass eigentlich alle Fleisch-Esser sich glauben rechtfertigen zu müssen, wenn man ihnen sagt, dass man selbst vegan lebt. Ich sage das nicht so, sondern es geht meistens darum, dass mir etwas zu essen angeboten wird. Ich bin gar nicht missionarisch, wenn überhaupt, möchte ich durch das positive Vorbild überzeugen.
Aber kaum erzählt man, man sei Veganerin fangen die Fleisch-Essenden an zu sagen, sie könnten das ja gar nicht, Fleisch und Milch seien lebensnotwendig, vegan schmecke nicht, Schweine würden uns essen, wenn sie könnten, und überhaupt hätte das, was eine einzelne Person tut, ja keinen Einfluss auf irgendwas.

Domingos: Das Problem kenne ich in der Tat, ein paar von den Argumenten hört man auch ähnlich beim Thema Barrierefreiheit. Aber generell gesprochen: Ist das letzte Argument nicht korrekt, hat die Einzelne einen nennenswerten Einfluss?

Dani: Ja und nein. Natürlich macht eine einzelne Veganerin nicht den Riesen-Unterschied. Aber ich nehme mich selbst als Beispiel. Ich habe viele Milchprodukte gegessen, pro Jahr sicherlich so um die 300 große Jogurts und 100 Packungen Frischkäse, dazu Scheibenkäse, Schokolade und diverse andere Dinge. Wenn man das hochrechnet, sind da sicherlich 2000 bis 3000 Liter Milch pro Jahr gewesen.
Das läuft dann rückwärts durch die Logistik: Der Supermarkt merkt, dass ein Produkt ein bisschen weniger gekauft wird und bestellt weniger bei der Molkerei. Die Molkerei bestellt weniger bei den Milchbetrieben. Die Milchbetriebe produzieren am Ende weniger. Gleichzeitig merkt der Supermarkt, dass vegan mehr nachgefragt wird und erhöht die Bestellungen für diese Produkte.
Am Ende glaube ich aber, dass einfach jede Person ihren Beitrag in ihrem Rahmen leisten muss. Ich würde von einer Bürgergeld-Empfängerin nicht erwarten, dass sie bei knapper Kasse vegan wird, weil das sehr teuer sein kann. Aber diese Person fliegt dafür nicht in Urlaub oder fährt mit dem Auto und leistet damit einen größeren Beitrag als einige Veganerinnen, die für den Marathon nach New York oder Südafrika fliegen. Der Impact des Essens sollte nicht überschätzt werden.

Domingos: Was hälst du von der veganen Szene, hast du dir da Hilfe geholt?

Dani: Das hat mich tatsächlich nie so interessiert. Ich bin grundsätzlich allergisch gegen jede Form von Messianismus, Sektentum und dem Hantieren mit falschen Informationen, auch wenn es um eine gute Sache geht. Es gibt die entspannten Veganerinnen und es gibt die Leute, die sich auf die Straße kleben und so klingen, als ob sie gleich losheulen. Ich sehe teilweise auch antidemokratische oder rechte Einstellungen, sie sind selten, aber es gibt sie. Auch wenn die Ziele richtig sind, überzeugt mich das nicht. Es gibt auch viel Esoterik in der Szene, viele wollen sich nicht impfen lassen, weil das ja so ungesund ist und so weiter. Deswegen habe ich mich da nie eingebracht. Mein Freundeskreis ist unverändert, es sind Vegane, es sind Fleisch-Essende und es sind Leute, bei denen ich keine Ahnung habe, was sie essen. Im Grunde gibt es auch keine Fragen, die ich mit anderen diskutieren muss. Als Blinde findet man alle Informationen, vor allem wissenschaftlich valide, im Internet, Eisen, B12 und so weiter.
Es grassiert auch viel Unsinn in der Szene: Vegan sei gesund, Milch sei giftig, Chemie ist böse und so weiter. Insofern bringt ein Austausch nicht so viel.
Wie gesagt, die Mehrheit ist wahrscheinlich ganz vernünftig, aber man trifft vor allem viele der eher unsympathischen Sorte.
Andererseits sehe ich in der Szene auch unheimlich viel Kreativität. Man gibt sich sehr viel Mühe zum Beispiel, um bestimmte Gerichte schmackhafter zu machen. Im Westen hält man Milch, Eier oder Fleisch für unverzichtbar, aber es ist nicht so lange her, dass auch diese Produkte teuer oder zeitweise nicht zu bekommen waren und in anderen Regionen kommt man schon immer ohne aus.

Domingos: Du missionierst ja nicht, aber trotzdem die abschließende Frage. Ist es schwierig, heute als Blinde vegan zu leben?

Dani: Ich möchte das nicht für Andere beurteilen. Wenn es einem generell egal ist, dann ist es halt so. Auch wenn man auf dem Dorf lebt und nicht die städtischen Möglichkeiten nutzen, kann ist es auf jeden Fall schwierig.
Wenn man aber nur für sich selbst verantwortlich ist, einen Online-Bestellservice nutzen kann, dann ist es heute machbar. Die Qualität und die Vielzahl der Produkte machen den Umstieg leichter als früher. Für Blinde ist es nicht ganz einfach, Sachen nachzukochen. Ich schaue mir manchmal Rezepte an, die fünf Minuten dauern sollen, als Blinde ist es dann eher eine Stunde und man benötigt trotzdem noch Dinge, die man nicht in jedem Supermarkt so einfach findet. Ich würde jeder, die das möchte empfehlen, einfach mal loszulegen.