Hier finden Sie das Transkript zum oben eingebetteten Podcast. Alle Tippfehler und Ungenauigkeiten gehen auf mein Konto.
Domingos: Herzlich willkommen zu einem neuen Podcast zur digitalen Barrierefreiheit. Heute habe ich wieder einen Gast dabei, Saskia von der Burg. Saskia ist freiberuflich tätig und sehbehindert. Heute wollen wir uns einmal mit dem Thema beschäftigen, welche Herausforderungen sehbehinderte Menschen bei der Technik- Nutzung haben. Erstmal herzlichen Dank, dass du dir die Zeit nimmst. Stell Dich doch den Zuhörenden einmal vor.
Saskia: Ich wohne in Köln, bin freiberufliche Journalistin und arbeite nebenbei jetzt auch noch als Inklusion-coach im Bereich Kommunikation und noch so eine PR-Agentur hier in Köln bin selber fast blind, also laut Ausweis bin ich blind, aber noch mit einen kleinen Sehrest. Das heißt, ich sehe auf sehr nahe Distanzen, habe aber einen röhrenblick. Das heißt, ich sehe nicht, was von rechts oder links kommt und habe das hört man halt ein bisschen aufgrund einer Operation ein Luft-Röhren-Schnitt gehabt und deswegen bin ich mit der Atmung ein bisschen eingeschränkt.
Domingos: Interessant, also du bist quasi gesetzlich blind aber du arbeitest, wenn ich das richtig sehe, eher visuell.
Saskia: Richtig, ich arbeite mit einem Vergrößerungs-Programm, das ist Zoomtext. Also ich hatte diverse probiert, also auch andere, kam mit dem aber am besten klar. Ich versuche möglichst viel über den Sehrest zu machen und die Sachen, die dann nicht gehen oder zu lange dauern die mache ich dann über Sprachsteuerung.
Domingos: Du hast schon erwähnt, dass du einen röhrenblick hast. Vielleicht kannst Du vielleicht anhand von Beispielen, das ist glaube ich dann verständlicher, erklären wie sich die Sehbehinderung auswirkt, zum Beispiel bei der Computernutzung.
Saskia: Klar. Also im Alltag ist der Blick eigentlich eher das Problem. Das heißt, wenn ich draußen rumlaufe, ich laufe halt, wenn ich alleine bin mit dem Langstock durch die Gegend. Ich kann aber überhaupt nicht sehen, wenn jemand von rechts oder links kommt das ist natürlich ein riesen-Problem mit den E-Scootern, mit Fahrrad fahrenden und weil ich da einfach nicht ausweichen oder reagieren kann. Am Computer ist es so, dass ich halt sehr nah am Bildschirm sitze, also ich habe einen 20 Zoll Monitor bzw. zwei nebeneinander. Der eine ist für das Lesegerät, mit dem ich quasi ausgedruckte Texte bearbeiten kann und der andere ist halt für meine PC Arbeit. Da sitze ich halt sehr nah dran und habe halt ein Vergrößerungs-Programm was den ganzen Bildschirm quasi vergrößert auf ungefähr Stufe sechs bis sieben, je nachdem, kommt doch ein bisschen auf die Tagesform an.
Domingos: Welche Herausforderung gibt es bei der Computernutzung mit der Nutzung von Vergrößerungs-Software?
Saskia: Also man muss sich wahnsinnig viel merken, denn man hat natürlich einen sehr kleinen Ausschnitt. Also andere Leute, die die normalsichtig sind, die können einen Text querlesen. Das kann ich halt nicht, also ich muss halt Zeile für Zeile abfahren mit der Maus, muss mir merken wo auf dem Monitor Buttons sind, die ich benutzen muss bei meiner Arbeit, ob ich nach rechts oder links gehen muss. Ein Kollege von mir, der damals auf dem Bildschirm geguckt hat, sagte dann immer das ist ja Wahnsinn ich sehe immer nur dich hin und her huschen und ich habe überhaupt keine Ahnung wo du gerade auf dem Bildschirm bist.
Domingos: Nutzt du eigentlich auch ein Smartphone intensiv, das ist ja alles relativ klein.
Saskia: Total, also das ist eigentlich mein Haupt-Hilfsmittel mittlerweile, weil es mir einfach sehr viel Freiheit und Eigenständigkeit gibt. Also ich habe ein iPhone das größte von den drei Versionen, die es gibt. Ich benutze das hauptsächlich mit Vergrößerung, muss es dann natürlich sehr nah vor die Augen halten, was halt sehr oft zu blöden Kommentaren von Umstehenden, die mich halt nicht kennen führt.
Aber mir hilft das halt mega und manche Sachen mache ich aber auch mit Sprachsteuerung, also wenn es dann an der Steckdose hängt, dass ich dem dann WhatsApp-nachricht vorlesen Sage. oder wenn es längere Texte sind, dann mache ich es auch, dass ich hier den quasi markiere und dann vorlesen lasse, weil das ist für mich so anstrengend sonst.
Domingos: Was sind denn aus deiner persönlichen Sicht die größten Barrieren bei der Computer-Nutzung oder beim Smartphone ?
Saskia: Also, ich kenne ja beide Seiten. Ich bin ja auch online Redakteurin beim Funk. Das heißt, ich arbeite auch in sogenannten Backend, also ich bin auch dafür da, Homepages zu befüllen.
Da kommt es ein bisschen auf die Software an, mit der man so arbeitet und mit dem Thema, in dem man arbeitet. Ich zum Beispiel selber kann logischerweise keine Bildbearbeitung machen. Ich gebe das dann quasi immer an einen Kollegen/eine Kollegin ab, die mir dann auf Zuruf Bilder hochlädt und zuschneidet. Man kann mittlerweile Gott sei Dank auch relativ viele Buttons, die man halt nicht braucht in der täglichen Arbeit quasi weglöschen, dass so quasi mein Überblick ein bisschen besser wird bei der Arbeit.
Aus Nutzersicht ist für mich glaube ich das größte Problem die Übersichtlichkeit, also das heißt dass ganz oft Seiten entwickelt werden und dann zwar Barrierefreiheit mitgedacht wird, aber meiner Meinung nach zu spät. Also dann steht die Seite schon und dann heißt es, wir testen das jetzt anstatt vielleicht vorher Betroffene mit ins Boot zu holen, die mitarbeiten zu lassen und zu sagen da und da könnte es Probleme geben.
Ich habe zum Beispiel sehr oft das Problem, dass die Aktion, die hinter einem Link liegt, nicht hinterlegt ist. Das heißt, ich kriege dann zwar vorgelesen, dass da zum Beispiel ein Inhaltsverzeichnis ist. Das wird dann komplett runtergelesen. Ich habe aber an keiner Stelle die Information, dass ich da jetzt klicken kann, um zu einem bestimmten Abschnitt zu kommen der mich eigentlich interessiert.
Auch diese ganzen „wir nutzen Cookies“: Diese Buttons bzw. diese Felder, die sind ein Problem, weil ich da jedes Mal auf dem Bildschirm suchen muss, wo ist das jetzt, wo muss ich jetzt da drauf klicken/akzeptieren. Das finde ich sowohl auf dem Smartphone als auch auf dem großen Bildschirm schwierig.
Formulare finde ich wahnsinnig schwierig, denn es ist ja ganz oft, dass man dann irgendwo was falsch einträgt oder was übersehen hat, also bei mir zumindest, und dann geht’s ja nicht weiter und dann steht irgendwo auf dem Bildschirm gerne auch mal in rot oder hellgrün oder so also Farben, die ich ein bisschen schwierig erkennen kann, dass etwas fehlt, meistens wird noch nicht mal kommuniziert, was fehlt und das finde ich auch wahnsinnig schwierig.
Domingos: Ich persönlich arbeite ja tatsächlich primär blind, aber ich habe auch einen kleinen Sehrest. Ich habe den Eindruck, dass die Bedürfnisse von sehbehinderten Menschen extrem unterschiedlich sind. Also bei blinden Menschen sind die Bedürfnisse so ein bisschen einheitlicher und bei sehbehinderten ist es doch extrem unterschiedlich, weil Sehbehinderungen auch unterschiedlich sind. Wie ist da dein Eindruck?
Saskia: Ich denke schon. Also es kommt ja schon auf die Lichtverhältnisse an, brauche ich jetzt einen hellen Hintergrund. Mit dunklem Hintergrund kann ich besser arbeiten mit weißer Schrift auf schwarzen Grund.
Domingos: Wenn du einen Wunsch an die Programmiererinnen von Websites/Software und so weiter hättest oder mehrere, was wäre das, was würde dir am meisten helfen?
Saskia: also einen Punkt hatte ich ja schon erwähnt, dass es frühzeitig mitgedacht wird und auch breit mitgedacht wird, dass Barrierefreiheit eingehalten wird, also das nicht nur auf alternativtexte bei Bildern, was auch sehr wichtig ist, geachtet wird, sondern eben auch darauf, dass die Sprungmarken vernünftig hinterlegt sind, dass Formulare richtig auszufüllen sind, das breiter nachgedacht wird. Ich weiß, dass die Teams relativ klein sind, die das machen, also das zwar der Wille da ist, dass umzusetzen und es ist ja auch gesetzlich so geregelt, dass aber das Personal fehlt. Ich meine, warum kauft man nicht Menschen ein, die selber betroffen sind zum frühzeitigen testen oder generell zur Mitarbeit in einer Redaktion oder in einem Team, was für Barrierefreiheit sich einsetzt.
Domingos: Mein Eindruck ist, deswegen führen wir das Interview eigentlich auch dass die Anforderungen von Sehbehinderten, obwohl sie ja eine deutlich größere Gruppe sind als blinde Menschen, dass die eigentlich nicht so bekannt sind. Also irgendwie in fast allen Artikeln zum Thema Barrierefreiheit, die ich lese, geht es irgendwie um Screenreader, aber das ist ja für Sehbehinderte relativ irrelevant, ob die Webseite gut mit Screenreader bedienbar ist, wie siehst du das ?
Saskia: Also Ich glaube, es ist halt immer noch so. Dieses Vorurteil, dass Sehbehinderung gleich blind ist. Ich meine ich kenne es am eigenen Alltag, wenn ich rumlaufe mit Blindenstock und es kommt jemand auf mich zu und fragt mich oder ich höre mit, dass jemand einen Weg sucht. In dieser Situation kann ich helfen: „sie müssen da und da langlaufen“. Die Leute sind komplett irritiert, dass ich den Weg weiß.
Ich glaube, man will die Gruppe der blinden Menschen, was ja wichtig ist, abdecken, aber vergisst dann das es ja noch tausend andere Varianten von Seh-Einschränkung oder überhaupt Beeinträchtigungen gibt Das ist so vielfältig und ich glaube, da muss halt noch viel gemacht werden.
Domingos: Die letzte Frage: Wenn man dir folgen möchte oder deinen Aktivitäten, wo kann man das am besten machen?
Saskia: Man kann sich über mich informieren über die Homepage https://www.dasblindehuhn.de/ die ist relativ neu da stell ich mich vor und meine Aktivitäten das gleiche auch bei Instagram, das kann man am besten über meine Homepage finden.
Domingos: Vielen Dank, dass du dir die Zeit heute Nachmittag für das Interview genommen hast und dir viel Erfolg weiterhin.
Website von Saskia
Barrierefreies Webdesign für Sehbehinderte
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ChatGPT und Co. – das Potential der Künstlichen Intelligenz für digitale Barrierefreiheit
„Cool, was KI alles kann“ und „Bor, die kann ja echt nix“ sind zwei Aussagen, die man vor allem im Zusammenhang mit ChatGPT in letzter Zeit hört. Letztere Aussage hört man vor allem in Deutschland. Wenn irgendwo der Wurm drin ist, jemand aus Deutschland wird ihn garantiert finden. Da wundert es nicht, dass die meisten Unternehmenden und Forschenden dem Land den Rücken kehren.
Ich meinerseits bin begeistert nicht nur von dem, was die Technik schon kann, sondern vor allem von dem Potential, das darin steckt. Und es stimmt mich traurig, dass wir trotz des enormen geistigen und unternehmerischen Potentials in Deutschland und der EU nichts Vergleichbares zustande bringen. Einige der größten Entwicklungen der letzten Jahre wie das MP3-Format und viel Grundlagen-Forschung kam aus Deutschland, aber Andere machen sie nutzbar. Aber lassen wir das. Ich möchte mich heute mit dem Potential der KI für die digitale Barrierefreiheit beschäftigen.
Natürlich ist Kritik immer legitim und hilft uns auch weiter. Mir gefällt nur diese etwas arrogante Art nicht, in welcher Kritik in DE häufig angebracht wird. Das verstellt oft den Blick auf das, was möglich ist. Telefonieren in der Anfangszeit des Telefons – sauschlechte Qualität, Internet in Modem-Zeiten zu langsam, bei Pferden musste man nicht kurbeln etc. pp. Wenn man ebenso kritisch an grüne Technologien wie Dämm-Materialien, Solarzellen oder Wind-Anlagen gehen würde, ginge gar nichts mehr voran.
Richtig ist, dass unter KI allgemein und speziell bei KI und Barrierefreiheit viel Schrott verkauft wird. Das sind zum Beispiel die sogenannten Overlays oder Toolbars, also Tools, die automatische Barrierefreiheit versprechen, aber in Wirklichkeit die Barrierefreiheit verschlechtern. Automatisch erzeugte Bildbeschreibungen haben bisher enttäuscht. Und auch bei seriösen Organisationen muss man den gesunden Menschenverstand einschalten. Die US-Amerikaner drehen beim Marketing gerne mal drei Stufen höher: Da ist von „revolution“ die Rede, auch wenn es sich nur um kleine Verbesserungen handelt. Andererseits scheint es mir auch in der Szene Leute zu geben, die glauben, alles solle wie vor zehn Jahren manuell getestet werden, als ob das noch state of the art wäre. Test-Automatisierung ist eines der großen Themen im Software-Testing und wir haben diesen Zug verpasst. Wenn wir digitale Barrierefreiheit in dem Tempo bearbeiten wie in den letzten 20 Jahren, dann werden wir nicht wesentlich weiter kommen als heute. Die Deutschen sind hier besonders kritisch, aber auch die internationale Szene scheint sich im Großen und Ganzen der Entwicklung verschließen zu wollen. Die Grenze zwischen Technik-Kritik zum Technik-Konservatismus ist m.e. bei vielen Leuten überschritten. Ziel sollte es nicht sein, sich der technischen Entwicklung zu verschließen, sondern Defizite aufzuzeigen und sie weiter zu verbessern.
Möglichkeiten der KI für die Barrierefreiheit und Kritik
Ich rede hier nicht unbedingt über die Dinge, die KI heute schon kann, vor allem nicht einwandfrei, sondern über das Potenzial, welches sie meines Erachtens in absehbarer Zeit haben könnte.
Was ChatGPT und andere generative AIs beherrschen ist die Komposition bestehenden Wissens. Man findet alles, was eine Google-Suche auch bringen würde, allerdings in der Regel kompakter als die Wikipedia. Man kann also Antworten auf Fragen bekommen – eine enorme Erleichterung für Menschen, welche nicht über ausgefeilte Recherche-Fähigkeiten oder Zugang zu Datenbanken verfügen. Also die große Mehrheit der Menschheit. Die Wikipedia mag alles Mögliche sein, aber für viele Menschen ist sie sprachlich zu kompliziert.
Es ist richtig, das ChatGPT auch falsche Antworten produziert. Ich habe zum Beispiel nach Studien zur Barrierefreiheit im Finance Bereich gefragt. ChatGPT hat mir fünf Studien genannt, von denen 4 über Google nicht auffindbar waren, die es also wahrscheinlich nicht gibt. Aber auch andere Menschen und Google fördern falsche Antworten zu anderen Themen zutage. Die Frage ist, ob man die Qualität einer Anwendung völlig daran messen möchte, welche Fragen man ihr gezielt stellt, um sie aufs Glatteis zu führen.
An dieser Stelle möchte ich ein paar der Kritikpunkte aufgreifen, die ich gehört habe.
Es wird gesagt, KI könne Bilder nicht adäquat beschreiben, weil es die Intention des Bereit-Stellenden nicht kenne. Das ist korrekt, aber 1. würde das ein anderer unbeteiligter Mensch auch nicht wissen und 2. besteht ja das Interessante an ChatGPT, dass man Rückfragen stellen kann, kann ich bei einem Menschen auch und er wird wahrscheinlich nicht antworten. Die KI ist geduldig und variiert ihre Antworten, viele Menschen sind das nicht.
Das nächste Argument ist der Bias der Maschine. Natürlich kann man auch durch Software diskriminiert werden, wenn hier nur Diskriminierung reproduziert wird. Aber auch hier gilt: 1. Reproduziert die Software nur menschliche Vorurteile und 2. kann eine Maschine wirklich neutral sein, während ein Mensch immer Gefangener seiner Vorurteile ist. Wer an Anti-Bias-Training glaubt hat sich nie mit den Wirkungen von Training und verfestigten Annahmen beschäftigt. Wir sind solange tolerant, solange wir dem Anderen aus dem Weg gehen können.
Auch das Argument über die mangelhafte Qualität von Texten und Bild-Beschreibungen ist richtig. Was bisher öffentlich zugänglich ist, würde ich als nett bis unbrauchbar kategorisieren. Es gibt mittlerweile einige Anwendungen, die Szenen beschreiben oder einzelne Objekte auf Bildern erkennen können. Aber auch hier sehe ich großes Potential. Das Problem heute ist, dass Bilder einmal beschrieben werden und Blinde sich damit begnügen müssen. Einige wollen aber eine knappe, andere eine ausführliche Beschreibung. Bei komplexen Informationsgrafiken umfasst eine Beschreibung selten genau das, was man haben möchte. Mit einer KI kann ich aber Rückfragen stellen. Aber das kann ich doch auch bei einem Menschen tun? Richtig, aber einer KI wird das nicht langweilig oder ungeduldig (es sei denn, es ist Marvin aus dem Anhalter durch die Galaxis). Man möchte als blinde Person nicht immer vom Good Will oder der Laune einer sehenden Person abhängig sein und vielleicht gibt es auch Dinge, die man selbst einer Person nicht unbedingt zeigen möchte, der man vertraut. Eine entsprechend trainierte KI sollte in der Lage sein, komplexe Informationsgrafiken aus Studium und Beruf halbwegs adäquat zu beschreiben. Infografiken bestehen aus Strukturen, Mustern und Beschriftungen, die mit Machine Learning gut zu erfassen sein sollten, insbesondere wenn sie als Vektorgrafiken vorliegen.
Nicht unmittelbar mit Behinderung zusammenhängt das Argument der begrenzten Intelligenz: Software aggregiert vor allem zugängliche Informationen. Sie könnte keinen Mozart oder Shakespeare produzieren. Auch das Argument ist korrekt. Allerdings sind 99,9 Prozent der Menschen ebenfalls nicht dazu in der Lage. Die Kreativität der Webdesigner:Innen besteht vor allem in der Frage, ob die Schrift 12 oder 13 Pixel groß sein soll und welche Farben wo hin gepackt werden. Nichts für ungut, aber wenn man ihnen ihre Fonts und die Farben wegnimmt, sehen alle Webseiten gerade auf Smartphones relativ gleich aus. Andere kreative Werke wie Popsongs oder Bücher bestehen aus wiederkehrenden und abgewandelten Mustern. Wir sind nicht so weit davon entfernt, dass eine KI einen Grisham oder einen Eminem-Song erstellt. In den meisten Werken steckt vielleicht zehn Prozent Kreativität, der Rest ist Routinearbeit wie das Ausformulieren von Szenen, das Entwickeln von Figuren oder Schauplätzen. Das heißt, ich könnte ein paar Ideen formulieren und der KI sagen, sie soll einen Roman im Stile von Agatha Christie dazu schreiben, dann noch ein bisschen Fein-Tuning und fertig ist der Bestseller. Utopisch? Vielleicht heute, aber in absehbarer Zukunft wahrscheinlich möglich.
Das General-Argument sind die bisher sehr begrenzten Fähigkeiten der KI. Das ist nun ziemlicher Unsinn. Es ist so, als ob ich einen Dreijährigen kritisiere, weil er noch nicht flüssig sprechen oder schreiben kann. Ja, die Möglichkeiten sind aktuell begrenzt. Aber wir sind nach wie vor am Anfang der Entwicklung. Maschinelles Lernen zeichnet sich eben dadurch aus, dass sie immer besser werden kann.
Menschen können besser Texte übersetzen bzw. vereinfachen oder Bilder beschreiben. Einige Menschen, nicht alle. Es gibt gute von KI übersetzte Texte oder Bild-Beschreibungen und es gibt sauschlechte von Menschen erstellte Übersetzungen oder Bild-Beschreibungen. Es stimmt eben nicht, dass ein Mensch automatisch alles besser macht. Ich habe so viele schlechte Übersetzungen aus dem Englischen gesehen, dass sich DeepL jederzeit den Vorzug geben würde. Bei Leichter Sprache ist das noch evidenter: Es gibt da draußen jede Menge Übersetzer:Innen mit mäßiger bis schlechter Qualität. Die WCAG wird bald 25 Jahre alt und wir sprechen wie am ersten Tag immer noch über Bild-Beschreibungen und semantisches HTML, die menschliche Intelligenz scheint gescheitert, vielleicht sollten wir der KI eine Chance geben.
Ich finde den Vergleich einer KI mit einem Experten weniger hilfreich. Die KI sollte vielmehr mit einem Durchschnitts-Menschen verglichen werden und dann schneidet sie häufig besser ab. Ein Experte wird, heute zumindest, oft bessere Ergebnisse erzielen. M.E. ist es aber auch hier nur eine Frage der Zeit, bis speziell trainierte Anwendungen stehen, die mit Experten mithalten können. Das ist durchaus sinnvoll: Die Spezialisierung hat auch innerhalb der Professionen immer weiter zugenommen. Kein Mensch ist heute in der Lage, selbst innerhalb eines relativ kleinen Spezialgebietes alles zu überblicken. Ein Experten-System könnte zum Beispiel für eine Wissenschaftlerin oder Ärztin sehr hilfreich sein. Oder – meine A11Y-Bodies werden mich dafür steinigen, Fragen zur digitalen Barrierefreiheit kompetent beantworten. Falls es jemand noch nicht mitbekommen hat – es gibt einen Mangel an Fachkräften, der in absehbarer Zeit nicht behoben werden kann.
Auch hier sehe ich Vorteile für die digitale Barrierefreiheit. Ich empfehle vor allem Neulingen im Thema, zumindest zwei Artikel von verschiedenen Quellen zu einem Thema zu lesen, weil man in der Szene zu teils schwierigen Einschätzungen und Rechthaberei neigt. Die KI könnte die Essenz mehrerer Artikel aggregieren und damit die Mühe abnehmen, viele verschiedene Meinungen abzugleichen.
Abschließende Gedanken
Wie bei vielen Entwicklungen gibt es auch bei KI gute und schlechte Seiten. Das WWW hat sowohl Minderheiten als auch Rechte und Verschwörungs-Idioten lauter gemacht. KI hat viel Potenzial für Überwachung und Manipulation. Sie kann aber auch den Zugang für benachteiligte Menschen erleichtern, indem sie zum Beispiel das Coding einfacher Lösungen vereinfacht oder Texte auf verschiedenen Stufen verständlicher macht, in dem sie Texte übersetzt oder orthografische Fehler korrigiert. Das sind Probleme, welche viele von uns nicht kennen, aber für viele andere Menschen hilfreich sind.
Ich träume von einem Tool, dass Menschen mit technischen Problemen hilft, digitale Anwendungen zu nutzen. Es könnte den Aufbau einer Anwendung analysieren und der Nutzerin dabei helfen, Aufgaben zu erledigen, indem sie schrittweise durch die jeweilige Aufgabe durchgeführt wird.
Generell glaube ich nach wie vor an das Potenzial sprach-basierter Assistenzen. Wie oben gesagt, kann ChatGPT nicht nur Infos aus der Wikipedia vorlesen – wenig hilfreich für Personen mit geringer Text-Verstädnis-Erfahrung – sondern Informationen verständlich zusammenfassen und Rückfragen beantworten. Das wäre ein interessantes Tool für funktionale Analphabeten oder für die Nachhilfe.
Die KI ist nach der Evolutionstheorie die neue große Kränkung vor allem der Kopf-Menschen. Da sitzen wir stundenlang an einem Text oder einem Code und eine Software – auch von Menschen entwickelt – kann etwas Vergleichbares in wenigen Sekunden generieren und vielleicht sogar besser. Jeder denkt, dass die KI viele Jobs überflüssig machen könnte, nur die eigene Arbeit nicht. Aber ich behaupte mal, dass sich jede Arbeit, die am Computer gemacht wird, zumindest ein Stück weit von KI erledigen lässt. Die KI kann aber nicht auf unsere Kinder aufpassen, unsere Eltern pflegen, unsere Wohnungen bauen oder unseren Müll wegbringen. Das sind Leute, für die wir wenig Respekt haben – und auch wenig Mitleid, wenn ihre Arbeit wie bei den Bergarbeitern abgeschafft oder in den Fabriken von Maschinen übernommen wurden. Das Ende vieler kleiner Bauernhöfe quitieren wir mit einem Achselzucken, bevor wir uns dem nächsten Nonsens von Elon Musk zuwenden. Aber unsere Arbeit muss unbedingt erhalten bleiben, wir sind schließlich kreativ.
Naturgemäß sind die meisten von uns Informations-Profis – das bringt die Tätigkeit mit sich. Mir fehlt aber die Perspektive derjenigen die das nicht sind in den hochnäsigen Beiträgen einiger Zeitgenossen. Es fehlt das Verständnis für die Herausforderungen jener, die mit der Informationsflut nicht umgehen können.
Man sollte den Begriff Künstliche Intelligenz als das nehmen, was er aussagt: Maschinelle Intelligenz ungleich menschliche Intelligenz. Der englische Begriff Intelligence ist nicht identisch mit dem deutschen Begriff Intelligenz. Er meint unter anderem Datenverarbeitung. KI wird auf absehbare Zeit keine menschliche Intelligenz oder gar Arbeitskraft vollständig ersetzen und darum geht es auch nicht. Vielmehr geht es darum, benachteiligten Menschen mehr Möglichkeiten zu eröffnen und dass kann KI heute schon, zumindest wenn sie solchen Menschen auch zugänglich gemacht wird.
Die Argumentation gegen KI in der Barrierefreiheit geht von zwei – aus meiner Sicht falschen Prämissen aus:
- Expert können es im Großen und Ganzen besser – das Argeument habe ich oben angesprochen. Experten neigen dazu, kleine Divas zu sein und können ziemlich viel Unsinn reden.
- Weiterhin ist es Quatsch, den Gegensatz von KI gegen Mensch aufzumachen. Ich kenne keinen Menschen, der Spaß an der Erstellung von Video-Transkripten hat. Es gibt nicht genug Arbeitskraft, um alle Dokumente zu taggen, alle Videos zu beschreiben oder alle Inhalte in Leichte Sprache zu übersetzen. Die Alternative heißt nicht KI oder Mensch, sondern in vielen Fällen KI oder nichts. Wir haben nicht nur einen Mangel an Fachkräften, wir haben einen Mangel an Arbeitskraft, An Arbeitszeit und an finanziellen Ressourcen.
Verstehen Sie mich nicht falsch: KI wird sicher nicht alle Probleme der Menschheit oder der Barrierefreiheit lösen, ebensowenig wie es das WWW, die Gen- oder Nanotechnik oder die Robotik getan haben bzw. tun werden. Alle diese Technologien unterlagen einem gewissen Hype. Aber diese Technologien haben auch tatsächlich Vorteile gebracht und es geht vor allem darum, diese Vorteile den Menschen und nicht milliardenschweren Konzernen zu bringen, damit sie noch ein paar Euro mehr verdienen können. Wenn wir in DE das Potenzial dieser Technik nicht bergen, dann werden Andere es an unserer Stelle tun und dann werden sie bestimmen, was damit passiert, so wie es heute bei den meisten Web-Plattformen der Fall ist.
Die Antwort ist wie so oft Open Source, niemand kann ein Interesse daran haben, dass ein paar Groß-Konzerne diese Technologie kontrollieren und nach Gutdünken nutzen.
Zum Weiterlesen
Cognitive Bias – kognitive Verzerrungen und Barrierefreiheit
Cognitive Bias oder kognitive Verzerrung und Barrierefreiheit sind zwei Konzepte, die häufig in Verbindung miteinander diskutiert werden. Kognitive Verzerrungen sind mentale Abkürzungen, die unser Gehirn nutzt, um Informationen schnell zu verarbeiten.
Kognitive Voreingenommenheit kann die Barrierefreiheit auf verschiedene Weise beeinflussen. Bestätigungsfehler sind beispielsweise die Tendenz, Informationen so zu suchen und zu interpretieren, dass unsere bereits vorhandenen Überzeugungen bestätigt werden. Dies kann dazu führen, dass die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen nicht berücksichtigt werden, da der Einzelne glaubt, dass nur seine eigenen Erfahrungen und Sichtweisen von Bedeutung sind. Dies kann zu Produkten, Dienstleistungen und Umgebungen führen, die für Menschen mit Behinderungen nicht zugänglich sind, da ihre Bedürfnisse während des Designprozesses nicht berücksichtigt wurden. Ein typisches Beispiel sind Webseiten-Betreiber, die ihre Webseite nicht barrierefrei machen, weil sie keine behinderten Kunden zu haben glauben. Ein Apotheker wollte sein Ladengeschäft nicht stufenfrei zugänglich machen, weil er keine Kunden habe, die mit der Stufe nicht zurecht kämen. Der Hinweis sollte auf der Hand liegen: Natürlich können Leute, die keine Treppen steigen können nicht in sein Laden-Geschäft kommen.
Ein weiteres Beispiel dafür, wie sich kognitive Voreingenommenheit auf die Barrierefreiheit auswirken kann, ist die Verfügbarkeitsheuristik, d. h. die Tendenz, sich bei Entscheidungen auf Informationen zu verlassen, die leicht verfügbar sind. Im Zusammenhang mit der Barrierefreiheit kann dies dazu führen, dass man sich auf die Gestaltung für die häufigsten Behinderungen, wie z. B. Blinden konzentriert und die Bedürfnisse von Menschen mit weniger häufigen Behinderungen außer Acht lässt. Das zeigt übrigens auch, dass Biases nicht nur bei Nicht-Behinderten, sondern auch bei behinderten Menschen vorliegen kann.
Um diesen kognitiven Verzerrungen entgegenzuwirken und die Barrierefreiheit zu fördern, ist es wichtig, integrative Designpraktiken anzuwenden. Inklusives Design ist ein Designansatz, der die Vielfalt der Nutzer berücksichtigt und dafür sorgt, dass Produkte, Dienstleistungen und Umgebungen für alle zugänglich und nutzbar sind. Dazu kann es gehören, Menschen mit Behinderungen in den Designprozess einzubeziehen, mehrere Informationsquellen für die Entscheidungsfindung heranzuziehen und während des gesamten Designprozesses Zugänglichkeitstests durchzuführen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass kognitive Voreingenommenheit und Zugänglichkeit zwei eng miteinander verknüpfte Konzepte sind, und dass der Umgang mit kognitiven Voreingenommenheiten für die Schaffung inklusiver und zugänglicher Produkte, Dienstleistungen und Umgebungen unerlässlich ist. Durch die Anwendung integrativer Designpraktiken können wir Lösungen schaffen, die die Bedürfnisse aller Benutzer erfüllen, unabhängig von ihren Fähigkeiten.
Ist es die Barrierefreiheit oder sitzt das Problem vor dem Bildschirm?
Es gibt eine große Herausforderung, die mit der zunehmenden Digitalisierung immer größer wird: Es gibt Menschen, die auch mit relativ barrierefreien Lösungen nicht zurechtkommen.
In meiner Schulung habe ich irgendwo immer eine Folie, wo es um die Frage geht, wie sich Barrierefreiheits- von persönlichen Herausforderungen abgrenzen lassen. Mich erreichen unzählige Anfragen dazu, die sich in zwei Kategorien einteilen lassen:
- Persönliche Vorlieben
- Geringe Erfahrung mit digitalen Technologien
Diese Herausforderungen nehmen, wie oben gesagt zu, weil viele Prozesse im Wesentlichen nur noch digital stattfinden. Wissen Sie noch, wann Sie das letzte Mal eine Überweisung ausgefüllt haben? Ein Ticket an einem Schalter gekauft? Eine Pizza telefonisch bestellt? Eine Straßenkarte aufgeschlagen? Eine Nummer in einem gedruckten Telefonbuch oder den gedruckten Gelben Seiten nachgeschlagen? Ich zumindest nicht und wahrscheinlich wird das in absehbarer Zeit so exotisch sein wie die Dame vom Amt, welche Telefonate händisch vermitteln sollte. Für unsereins ist das hakelig, aber machbar.
Andererseits habe ich nicht wenige Leute vor mir, die diese Dinge nie in ihrem Leben gemacht haben – und sie sind teils viel jünger als ich. Ich habe Blinde, die ich sehr mühsam durch Zoom führen muss, ein Programm, dessen Basis-Funktionen ich für völlig unproblematisch halte. Ich habe Leute, die kein Online-Banking machen, weil sie es nicht wollen oder können.
Nun ist es korrekt, dass viele Anwendungen von der Barrierefreiheit her konform, aber dennoch katastrophal in der Nutzung sind. Viele erfahrene Blinde würden mir da zustimmen.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass man an einem gewissem Maß an Komplexität nicht vorbeikommt. Man kann keine Überweisung auf ein fremdes Konto machen, ohne eine IBAN einzugeben, Artikel ohne Empfänger-Adresse bestellen oder Tickets ohne Angabe von Anfahrts- und Ankunftsort kaufen. Eine zusätzliche, aber leider notwendige Aufgabe sind die Sicherheits-Abfragen. Auch sie lassen sich sicherlich komfortabler lösen, aber dass sie da sein müssen, steht wohl außer Zweifel.
Natürlich kann man all das, schlechte Benutzbarkeit trotz formaler Barrierefreiheit und die Sicherheits-Mechanismen als zusätzliche Barrieren verbuchen, das löst das Problem allerdings nicht.
Ein weiterer Faktor scheint hier allerdings auch teilweise die mangelhafte Stabilität der verschiedenen Bestandteile zu sein. Bei mir stürzen mehrfach am Tag Programme ab und ich bin mir relativ sicher, dass es am Zusammenspiel zwischen Client und assistiver Technologie liegt. Meine Vergangenheit mit Zoomtext und Fusion liegt auch schon zig Jahre zurück, doch damals habe ich ähnliche Erfahrungen gemacht, die bis heute von einigen Leuten auch bestätigt werden, mit denen ich Kontakt habe. Was die Hersteller von assistiven Technologien da verkaufen, ist teilweise echter verbugter Schrott.
Im Endeffekt liegt es aber auch am mangelhaften Training der betroffenen Personen – sowohl was die Computer-Nutzung als auch was den Umgang mit assistiven Technologien angeht. Da werden 3000 € für eine Jaws-Lizenz ausgegeben, aber die 200 € für das Training werden eingespart. Zumindest die Basics müssen die Leute draufhaben und das scheint bei vielen Betroffenen nicht der Fall zu sein.
Klar, wir können davon träumen, dass die Software-Qualität in den nächsten Jahren immens zunehmen wird. Aber das wird wahrscheinlich nicht passieren. Auch die Revolution in der assistiven Technologie, auf die ich ein wenig hoffe, wird in absehbarer Zeit nicht eintreten, weil wir nicht genügend Leute davon überzeugen können, daran zu arbeiten. Ich stelle mir zum Beispiel eine Software vor, welche behinderten Menschen bei der Nutzung komplexer Benutzeroberflächen assistiert.
Leider ist es so, dass diese Menschen nicht nur von mehr oder weniger verzichtbaren Goodies abgeschnitten sind. Es ist bequemer, sein Banking von zuhause zu machen, aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass die Arbeit der Gegenwart und der Zukunft im Büro-Bereich vor allem die Arbeit mit komplexen Software-Tools ist. Ein Dokument in Word formatieren, ein paar Formeln in Excel schreiben, damit ist es heute nicht mehr getan. Vielmehr haben wir zahllose browser-basierte Tools, an denen man nicht vorbeikommt und die auch nicht durch eine Assistenz übernommen werden können, weil sie ja zu unserer Arbeit gehören. Das heißt, die Arbeitgeberinnen können Personen nicht einstellen, welche diese Programme nicht benutzen können, weil Probleme auf dieser Ebene nicht mit ein paar Jaws-Skripts gelöst werden können.
Um die Eingangsfrage zu beantworten: Wir müssen beide Bereiche angehen, das hinter und das vor dem Bildschirm. Dazu gehört aber auch, dass die Verantwortung nicht immer bei den Software-Herstellern liegt, sondern auch an jenen, denen die Erfahrung fehlt. Das ist der erste Schritte, um sie zu einer besseren Computernutzung zu ermächtigen.
,Armut behindert digitale Teilhabe – Ausgabe 5-2023
Im April gab es aus unserer Sicht kein großes Thema zur Barrierefreiheit. Die WCAG 2.2 ist (wer hätte das gedacht) in die weitere Zukunft verschoben worden.
Interessante Beiträge
Es gibt zwei neue Podcast-Folgen mit Text-Transkript:
- Bei der Firma SUMM geht es um die automatische Übersetzung in Leichte Sprache
- Die Firma Paged bietet ein Tool, um Webseiten an unterschiedliche Bedarfe anzupassen.
Der Paritätische hat eine Studie zum Zusammenhang zwischen Armut und digitaler Teilhabe vorgelegt.
Armut und digitale Teilhabe (PDF)
Das Netzwerk Leichte Sprache hat sein Regelwerk aktualisiert.
Regeln des Netzwerks Leichte Sprache (PDF)
Die Aktion Mensch baut ein Panel auf, um behinderte Menschen besser an Umfragen und Studien beteiligen zu können.
Ipsos und Aktion Mensch gründen Panel für Befragung von Menschen mit Behinderung
Ein Blogbeitrag zeigt ein Beispiel, wie eine Open-SourceEducation-Ressource barrierefrei gestaltet werden kann.
Wie gestalte ich eine Open Educational Resource barrierefrei?
Weiter gehts auf Englisch: Ein Beitrag zeigt, wie man eine Barrierefreiheits-Kultur in der Organisation aufbauen kann.
Creating a culture of accessibility in your organization
Ein Alternativtext sollte je nach Kontext gewählt und nicht für eine gesamte Website gesetzt werden, so ein Artikel bei Equal Entry.
Accessibility Lessons: Context-Sensitive Text Alternatives
Die Washington Post hat ein Design System und Checklisten zur Barrierefreiheit veröffentlicht.
Accessibility in the Washington Post
KI kann die Barrierefreiheit in Computerspielen verbessern, so ein Artikel bei IGN.
How AI Can Improve Accessibility in Gaming
Schulungen und Veranstaltungen zur Barrierefreiheit
Wie immer möchten wir auf die beliebten Online-Schulungen zu barrierefreien PDF und Webseiten von Silta hinweisen. Melden Sie sich jetzt an.
Im Mai gibt es einige Veranstaltungen zur Barrierefreiheit, zum Beispiel die Virtua11y oder der Global Accessibility Awareness Day. Diese und weitere Veranstaltungen finden Sie in der Veranstaltungsliste
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Weitere Artikel
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- Foundations: accessible names and descriptions
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Neuro-Diversität und Barrierefreiheit
In den letzten Jahren hat die Gesellschaft große Fortschritte bei der Anerkennung und Einbeziehung der vielfältigen Formen der menschlichen Wahrnehmung gemacht. Das Konzept der Neurodiversität stellt die traditionelle Auffassung in Frage, dass neurologische Unterschiede lediglich Abweichungen von einer Norm sind. Stattdessen wird die inhärente Vielfalt der menschlichen Kognition gewürdigt, die Erkrankungen wie Autismus, ADHS, Legasthenie und andere neurologische Unterschiede umfasst. Parallel zum Aufschwung der Neurodiversität wird auch die Bedeutung der Barrierefreiheit zunehmend anerkannt. Sie zielt darauf ab, Barrieren zu beseitigen und integrative Umgebungen zu schaffen, die den Bedürfnissen aller Menschen gerecht werden, unabhängig von ihrer neurologischen Konstitution. Gemeinsam bilden Neurodiversität und Barrierefreiheit die Grundlage für eine integrativere und gerechtere Gesellschaft.
Was heißt Neuro-Diversität?
Neurodiversität erkennt an, dass neurologische Unterschiede einfach Variationen der menschlichen Kognition sind, ähnlich wie Unterschiede bei körperlichen Fähigkeiten oder Persönlichkeitsmerkmalen. Sie fördert die Idee, dass es sich bei diesen Unterschieden nicht um Störungen oder Defizite handelt, sondern um einzigartige Merkmale, die zur reichen Vielfalt der menschlichen Erfahrung beitragen. Neurodiversität bedeutet, sich von einem defizitorientierten Ansatz zu lösen und eine auf Stärken basierende Perspektive einzunehmen. Auf diese Weise können wir die einzigartigen Talente und Perspektiven, die neurodiverse Menschen mitbringen, wertschätzen.
Echte Inklusion lässt sich jedoch nicht allein durch einen Mentalitätswandel erreichen. Barrierefreiheit spielt eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, Räume, Produkte und Dienstleistungen für Menschen mit unterschiedlichen neurologischen Bedürfnissen zugänglich und nutzbar zu machen. Dabei geht es darum, Barrieren zu erkennen und zu beseitigen, die eine vollständige Beteiligung und ein Engagement behindern können. Im physischen Bereich kann Barrierefreiheit beispielsweise bedeuten, Rampen für Rollstuhlfahrer zu installieren oder sensorisch ansprechende Räume für Menschen zu schaffen, die auf sensorische Reize reagieren. Im digitalen Bereich könnte es bedeuten, Websites und Software zu erstellen, die mit Bildschirmlesegeräten kompatibel sind, oder integrative Benutzeroberflächen zu entwerfen, die einer Vielzahl von kognitiven Stilen gerecht werden.
Die Gewährleistung der Zugänglichkeit erstreckt sich auch auf Bildungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten. Bildungseinrichtungen, die sich der Neurodiversität verschrieben haben, können Lehrstrategien anwenden, die den verschiedenen Lernstilen Rechnung tragen und Schülern mit unterschiedlichen neurologischen Profilen individuelle Unterstützung bieten. Ebenso können Arbeitsplätze angemessene Vorkehrungen treffen, wie z. B. flexible Arbeitszeiten oder sensorische Anpassungen, damit sich neurodiverse Mitarbeiter in ihrer Rolle wohl fühlen.
Vorteile für alle
Wie Barrierefreiheit auch schafft eine Gestaltung für alle Vorteile, wenn sie das Thema Neuro-Diversität einschließt. Die Vorteile, die sich aus der Förderung von Neurodiversität und Barrierefreiheit ergeben, sind weitreichend. Indem wir ein integratives Umfeld schaffen, fördern wir das Gefühl der Zugehörigkeit und Akzeptanz für alle Menschen. Neurodiverse Menschen können so ihr volles Potenzial entfalten und ihre einzigartigen Talente in die Gesellschaft einbringen. Außerdem werden Kreativität, Innovation und unterschiedliche Perspektiven gefördert, was zu Durchbrüchen in verschiedenen Bereichen führt. Wenn wir der neurologischen Vielfalt und der Zugänglichkeit Priorität einräumen, schaffen wir eine Gesellschaft, die das gesamte Spektrum der menschlichen neurologischen Vielfalt schätzt und unterstützt. Es zeigt sich, dass viele besonders begabte Personen im Spektrum der Neuro-Diversität sind.
Es ist erforderlich, das Bewusstsein für die neurologische Vielfalt zu schärfen und Stereotypen und Stigmata im Zusammenhang mit neurologischen Unterschieden zu bekämpfen. Außerdem muss in Forschung und Ressourcen investiert werden, die integrative Praktiken fördern und innovative Lösungen zur Verbesserung der Barrierefreiheit entwickeln.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Neurodiversität und Barrierefreiheit Hand in Hand gehen und eine Gesellschaft fördern, in der sich jeder Einzelne unabhängig von seiner neurologischen Konstitution entfalten kann. Indem wir uns das Konzept der Neurodiversität zu eigen machen und der Barrierefreiheit Vorrang einräumen, fördern wir Inklusivität, Verständnis und Chancengleichheit für alle.
Sich mit digitaler Barrierefreiheit selbständig machen – so kann es gehen
Digitale Barrierefreiheit ist ein spannendes Feld für Freelancer. Es gibt genügend Nachfrage, so dass man auf jeden Fall wirtschaftlich zurecht kommen sollte, sobald man erste Aufträge akquiriert hat.
Dennoch sollte man einige Dinge beachten, bevor man diesen Weg geht. Generell: Meines Erachtens ist nichts Anstößiges daran, mit einer „guten Sache“ wie Barrierefreiheit Geld verdienen zu wollen. Die Ausnahme ist dann, wenn man den Leuten nutzlose Dinge wie eine Vorlesefunktion oder ein Overlay verkauft oder falsch berät, weil man keine Ahnung von Barrierefreiheit hat. Was macht einen Spezialisten für Barrierefreiheit aus?.
Ich lasse mal das Ganze Drumherum weg, das generell mit Freelancertum verbunden ist, also Steuern, Umsatzsteuer-ID, Abrechnung, Berufs-Haftpflicht und so weiter, das würde hier zu weit führen. Nur so viel: Wenn ihr die Möglichkeit habt, lasst euch von jemandem mentoren, der schon Erfahrung damit hat und euch dabei unterstützen kann. Das spart einiges an Frust. Generell ist Freelancertum keine so große Herausforderung, anders als UG oder GmbH, die tatsächlich ohne entsprechende Fähigkeiten schwierig sein können.
Solide Basis haben
Frisch von der Hochschule kann man nicht erwarten, sofort als Freelancer durchstarten zu können. Das ist auch halb so schlimm, schließlich hat man in dieser Phase in der Regel noch keine großen Verbindlichkeiten wie eine hohe Miete oder eine zu versorgende Familie. Hat man solche Verbindlichkeiten und noch keine Stammkunden, würde ich von der Freiberuflichkeit erst mal abraten.
Wichtig ist in jedem Fall, eine solide Basis zu haben, auf der man aufbauen kann. Das heißt in der Regel, eine technische Ausbildung oder ein Studium durchlaufen zu haben. Es ist korrekt, dass man auch mit anderen Hintergründen reinkommt – unzählige Web-Entwickler:Innen beweisen es. Andererseits haben die meisten dieser Menschen Erfahrungen durch Praxis-Projekte sammeln können, sie haben also bewiesen, dass sie das Fachliche drauf haben. Das ist für Newbies schwieriger. Ohne Referenzen oder persönliche Kontakte ist es fast nicht möglich, an Aufträge zu kommen.
Ich selbst habe trotz eines Buches und gewisser Bekanntheit sehr lange gebraucht, um Aufträge zu bekommen. Es kamen nur vereinzelt Anfragen von Kontakten vermittelt zustande. Erst als ich selbst Schulungen anbot, schaffte ich den Durchbruch.
Meine Empfehlung wäre, sich tatsächlich erst mit einem breiteren Thema wie etwa UX, Software-Entwicklung oder was auch immer man bereits kann die ersten Erfahrungen zu beschaffen und erst danach auf Barrierefreiheits-Projekte zu gehen. Den Stammkunden kann man dann auch immer Barrierefreiheit anbieten, womit man auch die ersten praktischen Erfahrungen sammeln und Referenzen aufbauen kann. Seid ihr zum Beispiel Web-Entwickler, könnt ihr die Website des Kunden, die ihr entwickelt, einfach kostenlos barrierefrei machen – sollte bei einer Content-lastigen Website ohne Mehr-Aufwand möglich sein – und das als Referenz-Projekt verwenden.
Eine andere Möglichkeit wäre, sich erst Mal als Angestellter eines Unternehmens Erfahrungen zu holen und erst später als Freelancer durchzustarten. Das heißt, man liest sich Wissen an oder macht einen der vielen kostenlosen oder kostenpflichtigen Kurse und bewirbt sich mit diesem Wissen bei einem Unternehmen. Da gerade viel gesucht wird, sollte man mit entsprechendem Background gute Chancen auf eine Stelle haben. Wichtig wäre hier allerdings zumindest nachgewiesenes Wissen etwa über ein Zertifikat.
Wie so oft ist die reine Lehre das Eine, die Praxis sieht anders aus. Klar kann man ein Formular nach Lehrbuch perfekt barrierefrei gestalten. In der Praxis trifft man aber auf komplexe fertige Lösungen, die eine andere Herangehensweise erfordern. Auch deshalb ist Praxis-Erfahrung so wichtig.
So oder so sollte man sich darauf einstellen, dass es einige Jahre dauert, bis das Geschäft mit Barrierefreiheit sich selbst trägt. Auch deshalb die Empfehlung, Barrierefreiheit eher als zusätzliche Leistung im Portfolio zu haben und nicht von Anfang an voll darauf zu sezen.
Vernetzung
Vernetzung ist das A und O für Freelancer. Es geht allerdings nicht darum, einfach nur möglichst viele Kontakte zu sammeln. Wichtig ist eher, relevante Kontakte zu bekommen. Das kann man sowohl digital als auch lokal machen – zu empfehlen ist beides. Gerade ohne praktische Erfahrung werdet ihr eher Kunden für euch gewinnen, wenn sie euch schon persönlich kennen. Bei digitaler Barrierefreiheit bieten sich natürlich Veranstaltungen mit Digital-Bezug an. Sie finden in jeder größeren Stadt statt, selbst das provinzielle Bonn hat welche davon. Bei kleinen und mittelgroßen Agenturen aus der Region kann man gute Chancen für eine Kooperation haben.
Lokal gibt es auch gute Chancen, selbst bekannt zu werden, zum Beispiel mit Vorträgen auf Barcamps oder bei Meetups. Auch Coworking-Spaces oder IHK-Veranstaltungen sind gute Gelegenheiten zum Netzwerken.
Was auch recht gut funktioniert sind Blog- und Fach-Beiträge, die man in der eigenen Community streuen kann. Am Anfang sind die Aufrufzahlen bescheiden, aber es geht erst mal darum, überhaupt auf sich aufmerksam zu machen. Ich habe in den letzten Jahren ein recht gut besuchtes Portal aufgebaut und darüber auch Aufträge akquiriert, das kann aber Jahre dauern und würde ich deshalb nicht weiterempfehlen. Blog-Beiträge müssen nicht hochspeziell sein, das würde ohnehin nur die Profis interessieren.
Last not least geht es tatsächlich darum, Kompetenz-Netzwerke aufzubauen. D.h. man schließt sich mit anderen Leuten zusammen, die komplementäre Dienstleistungen anbieten können: Du kannst Barrierefreiheit, eine andere Person kann Design, die nächste Web-Entwicklung und so weiter. Über Websites wie „Das Auge“ kann man recht schnell passende Leute finden. Für die einfachere Abrechnung bietet es sich dann an, eine GbR zu gründen, das muss aber nicht sein.
Preise allmählich steigern
Das heißeste Thema unter Freelancern sind die Preise. Hier also meine Meinung dazu: Man sollte am Anfang nicht zu hoch gehen. Die absoluten Profis können 1000 € und mehr pro Tag nehmen, aber dazu gehörst Du wahrscheinlich am Anfang nicht.
Das heißt natürlich nicht, dass man mit 300 € pro Tag zufrieden sein sollte. Ich würde schauen, was andere Freelancer in ähnlichen Themenbereichen und mit ähnlicher Erfahrung nehmen und diesen Betrag veranschlagen. Ist man viel zu niedrig, macht das den Kunden mißtrauisch. Ist man viel teurer als die Konkurrenz, kriegt man den Auftrag ebenfalls nicht. Meines Erachtens ist ein Betrag zwischen 400 und 600 € pro Tag realistisch. Hat man erste Erfahrungen gesammelt bzw. kann man komplexere Projekte annehmen, kann es dann allmählich gesteigert werden. Wie oben gesagt hängt das natürlich vom eigenen Fachbereich ab: Software- oder App-Entwickler können durchaus mehr nehmen, während Redakteure eher am unteren Ende dieses Spektrums stehen.
Als Einzel-Unternehmen kann man nicht erwarten, an Aufträge mit mehr als 10 Personentagen zu kommen. Die Auftraggeber gehen damit eher zu Agenturen oder Mehr-Personen-Gesellschaften, weil es da eine größere Ausfall-Sicherheit gibt. Ausnahmen bestätigen die Regel, ich zumindest kontte einen Auftrag im Volumen von 10.000 € bekommen, der größte Auftrag, den ich je bekommen habe und eine absolute Ausnahme. Die anderen Aufträge waren eher im Bereich von 1500 bis 3000 € und die meisten waren deutlich unter 1000 €. Kleine Aufträge machen im Verhältnis zur Größe mehr Aufwand.
Nische oder Mainstream
Je länger es ein Berufsfeld gibt, desto mehr Nischen bilden sich heraus, zu sehen am Bereich UX. Bei der Barrierefreiheit ist das noch nicht in dem Maße so. Dennoch gibt es natürlich unterschiedliche Möglichkeiten der Positionierung. Als Selbst-Betroffene kann man sich als Experte für diese Gruppe positionieren. Daneben gibt es spezielle Bereiche wie etwa Software- oder App-Entwicklung, die noch nicht so stark besetzt sind wie PDF und Internet.
Man muss sich allerdings bewusst sein, dass die Nischen oft so klein sind, dass sie nicht so viel an Einkommen abwerfen, deswegen sind es ja Nischen. Meines Erachtens hat man hier bessere Chancen, wenn man gleich international startet. Dann sollte man verhandlungssicher Englisch sprechen und verstehen und natürlich auch schreiben können. International gibt es nichts, was nicht von irgendwem nachgefragt wird.
Zum Weiterlesen
Deutsche Bahn – mangelnde Barrierefreiheit als Strategie
Die Deutsche Bahn ist legendär für ihre mangelnde Barrierefreiheit für motorisch Behinderte, also Personen, die keine Treppen steigen können. Meine Theorie ist ja, dass es irgendwo im Bahn-Vorstand fanatische Liebhaber von Treppenstufen gibt. Aber auch bei der digitalen Barrierefreiheit schafft es die Bahn nicht, endlich mal einen aktuellen Status zu erreichen. Einige Hinweise deuten darauf hin, dass das kein – vielleicht verzeihliches – Versehen ist, es gibt keine stringente Strategie, um digital barrierefrei zu sein. Das Gegenteil ist der Fall, die DB verfolgt aktiv und bewusst eine Strategie der mangelnden Barrierefreiheit, wie ich hier belegen möchte.
Blinde vom Login ausgeschlossen
So wird für den Login auf der Website sowie bei der App mittlerweile ein Captcha eingesetzt, obwohl die Probleme damit bekannt sind. Captchas sind nicht barrierefrei und eine schlechte UX vor allem auf mobilen Geräten, aber vielleicht ist einem Quasi-Monopolisten die UX seiner App/Website ohnehin egal.
Damit nicht genug ist das Captcha auch noch auf eine Weise eingebunden, dass es mit Screenreadern nicht bedienbar ist. Mit NVDA unter Firefox kann es per Tab erreicht werden, wird aber nicht vorgelesen, bei Talkback unter Android habe ich es geschafft, das Bilderrätsel zu aktivieren – das Häkchen wurde, wie soll es anders sein, nicht als menschlich erkannt. Ob das Problem bei der Bahn oder dem Captcha-Anbieter HCaptcha liegt, kann ich nicht sagen. HCaptcha spricht von einem Accessibility-Cookie – klar, wir wollen doch alle, dass die wissen, welche Seiten wir angesurft haben. Eine Audio-Version des CAPTCHAs hat man sich gespart, die würde wahrscheinlich der Bahn extra was kosten.
Meines Erachtens könnte dieses Verhalten der Bahn auch ein Verstoß gegen den Datenschutz sein. HCAPTCHA ist ein US-amerikanischer Anbieter, das heißt, man weiß nicht, welche Informationen hier nach Hause telefoniert werden. Ein Barrierefreiheits-Cookie würde zusätzlich bei behinderten Nutzenden ermöglichen festzustellen, auf welchen Seiten die Leute gesurft sind.
Damit schließt die Bahn defacto blinde und sehbehinderte Nutzer:Innen von Services wie der Ticketbuchung oder dem Verspätungsalarm aus.
Es gibt noch viele weitere Probleme: So ist der Mechanismus zur Eingabe der Abfahrtszeit in der Android-Version der App nicht für Blinde zugänglich. Es ist eine dieser Drehschalter, die wahrscheinlich schick aussehen, für Blinde aber nur sehr hakelig bedienbar sind. Außerdem ist der eine oder andere Button nicht beschriftet, Blinde wissen also nicht, was sie mit diesem Button auslösen.
Auch erinnere ich mich an einige Bugs auf der Website zum Ticket-Erwerb: Man bekommt relativ früh die Auswahl zwischen verschiedenen Ticket-Optionen angezeigt, die nicht per Tastatur bedienbar war. Beim Abschließen des Kaufs gab es einen Tastaturbug, der den Abschluss des Kaufes durch Blinde verhindert hat. Da ich lange keine Tickets mehr gekauft habe, kenne ich den aktuellen Stand nicht.
Die vermuteten Ursachen
Die Deutsche Bahn ist, zumindest was die digitale Barrierefreiheit angeht eine Blackbox. Meine Anfragen auf Twitter wurden ignoriert oder kryptisch beantwortet. Während öffentliche Stellen zumindest einen Alibi-Kontakt zur digitalen Barrierefreiheit angeben, gibt es bei der Deutschen Bahn gar keine Informationen dazu und auch keinen öffentlich auffindbaren Kontakt.
Dem Hörensagen nach gibt es bei der Deutschen Bahn ein Team, welches sich mit digitaler Barrierefreiheit beschäftigt. Die scheinen aber nichts zu sagen zu haben, ansonsten gäbe es kein Captcha und die Android-App wäre nicht so unbrauchbar. Ich würde mich schämen, für ein solches Unternehmen zu arbeiten.
Auch scheint es bei der Bahn keine blinden Mitarbeiter:Innen zu geben – oder es gibt sie und sie ziehen es vor, keine Services zu nutzen, die einen Login erfordern.
Das Elend wird deutlich, schaut man sich die Bewertungen im Android-Appstore an, die Bewertung liegt bei 2,5 von 5 Sternen. Es gibt zahlreiche Anmerkungen zu der schlechten UX. Viele Unternehmen antworten zumindest auf diese Hinweise im Appstore, die Bahn zieht es aber vor, sie komplett zu ignorieren und das bei einer für viele Personen so wichtigen App. Ich ziehe den Schluss, dass der Bahn ihre Kunden – ob behindert oder nicht – schlicht egal sind.
Die App DB barrierefrei – vor wenigen Jahren mit großem Tamtam gestartet – ist irgendwann ohne viele Kommentare eingestellt worden. Meines Wissens sollen die Infos jetzt in einer anderen DB-App zur Verfügung gestellt werden. Aber wer möchte schon noch eine Extra-App für ein paar mickrige Barrierefreiheits-Infos installieren?
Zwischendurch denke ich immer mal, das Unternehmen müsste doch einmal Fortschritte bei der Barrierefreiheit machen. Man scheint aber gerne mal zwei Schritte vorwärts und 1,5 zurück zu machen.
Nicht-Barrierefreiheit als Strategie
Mittlerweile habe ich leider einige Stimmen aus der DB gehört, die meine schlimmsten Vermutungen bestätigen: Die Deutsche Bahn verfehlt das Thema Barrierefreiheit nicht, weil es da ab und an Konflikte gibt. Vielmehr ist der Mangel an Barrierefreiheit Teil der Strategie des Unternehmens. Es befürchtet, dass wenn man den Betroffenen entgegenkommt man noch stärkere Forderungen zur Barrierefreiheit bekommt.
Das klingt unsinnig, mag aber in der internen Logik des Molochs Sinn machen. Bisher ist die DB nicht gerade als modernes Unternehmen aufgefallen. Tatsächlich gelten Leute wie Hartmut Mehdorn – einer der Haupt-Verantwortlichen für die schlechte Infrastruktur – nach wie vor als fähige Manager. Diversity Strategie oder Aktionspläne zur Inklusion sucht man vergeblich. Obwohl die Herausforderungen des demografischen Wandels selbst im Bahn-Tower angekommen sein sollten, baut man immer noch Züge, die für ältere Menschen mit Rollator ungeeignet sind – versuchen Sie mal mit einem Rollator in die Toilette des ICE zu kommen, ganz abgesehen davon, ihn in der Nähe eines Sitzplatzes abzustellen. Obwohl behinderte Menschen seit Jahren auf die Problematik mit Treppen hinweisen, kauft die Bahn munter weiter Züge mit Treppen ein. Fahrstühle werden monatelang nicht repariert, was sogar zu Verletzungen und Todesfällen geführt haben soll, weil gehbehinderte Menschen die Rolltreppe heruntergefallen sind. Für Rollstühle geeignete Sitzplätze sind Mangelware, rollstuhlgerechte WCs und Zugänge sind häufig defekt.
Obwohl ein halbstaatlicher Konzern weigert sich die DB, sich an deutsches Recht zu halten. So verstößt sie gegen die BITV 2.0, indem sie die vorgeschriebene Erklärung zur Barrierefreiheit und den Feedback-Mechannismus nicht bereitstellt. Mit dem oben erwähnten CAPTCHA verstößt sie zusätzlich gegen den in Kraft getretenen European Accessibility Act aka Barrierefreiheits-Stärkungs-Gesetz. Statt mit gutem Beispiel voranzugehen ist die DB schlimmer als manches Privat-Unternehmen. Wenn ein solch vital wichtiges Unternehmen keine Strategie für alters- und behinderten-gerechte Gestaltung hat, spricht alles für eine systematische Verweigerung. Wir dürfen die Bahn mit Recht als behinderten- und alters-feindliches Unternehmen bezeichnen.
Diese Beobachtungen deuten auf eine Sache hin: Die DB verhindert systematisch mehr Barrierefreiheit. Das ist wirklich armselig für einen Konzern, der durch die Öffentlichkeit finanziert wird. Sicherlich gibt es einzelne engagierte Leute bei der DB, die gerne mehr Barrierefreiheit umsetzen würden. Aber bei einem solchen Koloß kommt es vor allem auf den Vorstand an und auf unsere Politiker, von denen aber eben so wenig zu erwarten ist, seien sie nun von der CSU oder der FDP.
Leider zwingt uns die DB, sie zu ihrem Glück zu zwingen: Beschwert euch so viel wie möglich, so laut wie möglich und so öffentlich wie möglich. Das scheint die einzige Sprache zu sein, auf die dieses Unternehmen reagiert.
Die WebAIM-Studie sind 96 Prozent der Webseiten nicht barrierefrei?
Repost aus gegebenem Anlaß: WebAim hat eine neue Analyse im März 2023 veröffentlicht. Mit hohen Zahlen wie 50 Millionen gefundenen Fehlern auf eine Millionen Startseiten ist Aufmerksamkeit sicher. Meine Kritikpunkte bleiben aber bestehen.
96 Prozent der meist genutzten Webseiten nicht barrierefrei – die Nachricht macht aktuell wieder die Runde auf Twitter und einschlägigen Accessibility-Kanälen. Tolle Sache, vor allem, wenn man nur Überschriften liest. Persönlich finde ich die WebAIM-Studie aus zahlreichen Gründen nicht aussagekräftig. Das möchte ich in diesem Beitrag darlegen.
Kurz zur Erklärung: In Fachkreisen sprechen wir nicht von Barrierefreiheit, sondern von Konformität. Konformität heißt, dass ein bestimmter Standard erfüllt wurde, zum Beispiel WCAG 2.1 auf Stufe AA. Da der Begriff „barrierefrei“ für Webseiten nicht fest definiert ist, ist dieser Behelf stets notwendig.
Da der Artikel recht lang geworden ist, möchte ich die Haupt-Kritik am Anfang zusammenfassen:
- Die gefundenen/behaupteten Fehler dürften in aller Regel nicht zu einer eingeschränkten Nutzbarkeit der Websites durch behinderte Menschen führen. Jede Teilmenge von Websites ist durch eine Teilmenge der behinderten Menschen schlecht oder gar nicht nutzbar, aber WebAims Analyse bringt uns diesbezüglich keine neuen Erkentnisse. Nutzbarkeit durch behinderte Menschen und Konformität mit Barrierefreiheits-Regeln sind nicht immer deckungsgleich.
- Wenn ich eine Studie lese, die behauptet, fast 100 Prozent der der Anbieter würden gegen Regeln verstoßen, dann würde ich den Schluss daraus ziehen, dass die Regeln nicht erfüllbar sind. Ist es das, was WebAIM sagen möchte, dass es nicht möglich ist, mit den WCAG-Regeln konform zu sein? Wenn nein, worin liegt der Erkenntnis-Gewinn?
- 86 Prozent mit Fehlern beim Kontrast: Wie oben angemerkt kein AA-Kriterium
- 66 Prozent Bilder mit fehlenden Alternativtexten: Hier gehts wahrscheinlich um extern eingebundene Inhalte, auf die man keinen großen Einfluss hat, gleiches gilt für Links ohne Text.
- 53 Prozent mit fehlenden Formular-Beschriftungen: In der Tat ärggerlich, aber das kann man nur im Zusammenhang beurteilen. Geht es etwa um das Suchfeld und ist nur ein Feld vorhanden, ist dieser Fehler nicht so schlimm.
- 28 Prozent fehlende Dokumentsprache – völlig irrelevant, da die meisten NutzerInnen der Webseiten MuttersprachlerrInnen sein dürften. Das Language-Attribut ist so ziemlich der größte Blödsinn, den sich die Accessibility Expert:Innen überhaupt ausgedacht haben.
Methodik
Die eine Millionen Websites wurden mit dem WAVE-Tool von WebAIM automatisiert geprüft. Vielmehr ist zur Methodik auch nicht zu sagen. Es ist schlicht nicht möglich, eine solche Menge an Websites in angemessener Zeit qualitativ zu analysieren.
Hier beginnt aber auch schon das erste Problem: Das Tool untersucht sowohl WCAG-Kriterien nach A und AA. Doch selbst in den USA sind die meisten Betreiber nicht zur Barrierefreiheit verpflichtet und streben in der Regel wenn überhaupt nur A an. Es macht keinen Sinn, Organisationen auf AA zu prüfen, die das nicht anstreben, weil sie sich zum Beispiel an die Kontrast-Anforderungen nicht gebunden fühlen.
Automatisierte Tools sind begrenzt bis gar nicht hilfreich
Auch wenn WebAim Wave noch zu den besseren Tools zählen mag, ist man sich einig, dass diese Tools vielleicht 30 bis 40 Prozent der Barrierefreiheitsfehler finden können. Meines Erachtens sind die Tools nach wie vor eher mangelhaft, ich habe Zugang zu Siteimprove und Silktide und beide geben viele Fehler aus, die keine Relevanz haben. Es gibt viele falsch-positive Ergebnisse, d.h. es werden Fehler behauptet, die einer manuellen Prüfung nicht Stand halten.
Es gibt Dinge, die man automatisch messen kann wie das Vorhandensein bestimmter HTML-Elemente, ARIA-Attribute, Labels, Alternativtexte und einige Kontraste. Doch ist die Liste der Dinge länger, die sie nicht auswerten können. Dazu gehört die Sinnhaftigkeit von Alternativtexten, der sinnvolle Einsatz von ARIA, die korrekte Auszeichnung von Texten oder Formular-Elementen.
Kurz: Ob Wave Fehler anzeigt oder nicht, ist vollkommen irrelevant. Ein fauler, aber schlauer Entwickler lässt das Tool drüberlaufen, bügelt die Fehler aus und bekommt seine Seite konform, ohne ein Quentchen an der Barrierefreiheit verbessert zu haben.
Im Gegenteil setzt das Tool Fehl-Anreize, nämlich die Optimierung für automatisierte Prüftools. Warum aufwendige manuelle Tests, wenn WebAIM mit einem Klick grünes Licht gibt?
Wie WebAIM selber anmerkt, werden Webseiten immer komplexer. Ich gehe allerdings davon aus, dass viele Webseiten insbesondere aus dem angloamerikanischen Raum das Thema Barrierefreiheit auf dem Schirm haben. Das heißt, sie kümmern sich um Alternativtexte oder sinnvolle Link-Beschreibungen. Allerdings ist es für extern eingebundene Inhalte teils nicht möglich, diese Faktoren zu berücksichtigen.
Ein Großteil der Fehler dürfte auf solche eingebundenen Inhalte zurückzuführen sein: Das sind etwa Social-Media-Inhalte oder Werbung. Wenn man nach WebAIM geht, sollte man solche Inhalte wahrscheinlich weglassen, da man sie nicht barrierefrei machen kann. Damit dürfte man die Leute eher von Barrierefreiheit abschrecken. Etwas Anderes gilt für eingebundene Bibliotheken wie etwa Generatoren für Infografiken, hier sollte natürlich auf Barrierefreiheit geachtet werden. So was überprüft WebAIM Wave aber nicht separat. Sinnvoll wäre die Trennung von realem Website-Content und Content aus externen Quellen wie Werbe-Netzwerken, das würde eine realistischeres Bewertung erlauben. Ob das technisch immer möglich ist, weiß ich nicht, aber so sind die Ergebnisse einfach nicht aussagekräftig, weil man nicht weiß, ob die Betreiberin der Website verantwortlich ist oder das Werbe-Netzwerk.
Schauen wir uns die Fehler einmal genauer an (die Zahlen beziehen sich auf eine ältere WebAIM-Studie):
Keine Seite ist ohne Fehler
Die eine Millionen am meisten besuchten Webseiten werden wohl jeweils von größeren Teams betreut. Da kann es immer wieder passieren, dass einzelne Redakteure Fehler machen: Sei es die fehlerhafte Einbindung eines Widgets, die falsche Verschachtelung von Überschriften oder das Vergessen des Alternativtextes. Wer ohne Fehler ist, werfe den ersten Stein auf WebAIM.
Das heißt, schon ein einzelner Fehler eines Redakteurs kann dazu führen, dass die Website durch die WCAG durchfällt. Kann man sinnvoll finden, praxisrelevant ist es nicht.
98 Prozent aller Webseiten weisen also Fehler auf, es dürften eher 100 Prozent sein. Wer schon mal Webseiten evaluiert hat weiß, dass man Fehler findet, wenn man gezielt nach ihnen sucht.
Am Ende geht es aber nicht um technische Perfektion, sondern darum, dass Menschen mit Behinderung die Website nutzen können. Darüber sagt die WebAIM-Studie tatsächlich gar nichts aus.
Niemand behauptet, dass alle Webseiten perfekt barrierefrei seien. Aber die Behauptung, 98 Prozent der Webseiten könnten von behinderten Menschen nicht genutzt werden ist einfach Quatsch. WebAIM sagt das nicht ausdrücklich, suggeriert es aber durch die gesamte Aufmachung der Kommunikation. Sheri BYRNE-Haber schreibt „98% of websites are completely inaccessible.“ auf Seite 33 in ihrem eBook „Giving a damn about accessibility.
Um es klar zu sagen: Es ist gut, diese Menge an Daten zu haben. Noch besser wäre es, die Rohdaten für die Forschung zur Verfügung zu stellen. Der Unsinn besteht in den Schlussfolgerungen, wie WebAIM damit suggeriert und Andere daraus ziehen.
Das Problem ist, dass eine Website bereits dann nicht konform ist, wenn ein einziger Fehler gefunden wird. Eine Gewichtung der Fehler findet nicht statt. Es ist also kein Unterschied zwischen es fehlt irgendwo eine Bildbeschreibung und der Kontrast der kompletten Seite ist verfehlt, beides ist ein Fehler, nur dass der eine in der Regel keine Rolle spielt und der andere riesigen Impact hat. In diesem Sinne hat ein winziger Fehler im Code die gleiche Bedeutung wie eine Cookie-Meldung, die sich nicht per Tastatur ausblenden lässt. Ersteres spielt in der Praxis keine Rolle, Letzteres verhindert die Nutzung der Seite durch eine Reihe von Personen. Das kann kein sinnvoller Maßstab sein.
Motivieren oder demotivieren
Ein Kunde wollte mich überreden, die Studie in einer der Schulungen zu erwähnen. Ich habe mich geweigert, aus den oben genannten Gründen. Aber auch, weil ich das Signal für fatal halte. Die Studie kann zeigen, dass auch Andere es nicht besser machen als man selbst und dann dazu motivieren, mehr zu tun.
Meines Erachtens hat sie aber einen demotivierenden Effekt. Sagt sie nicht aus, dass die WCAG 2.1 AA im Grunde nicht umsetzbar ist? Und das bei Websites, die teilweise ein sechsstelliges Budget haben dürften? Wenn es Riesen wie Amazon oder die New York Times nicht schaffen, ihre Websites barrierefrei zu machen, wie soll es dann dem lokalen Selbsthilfe-Verein gelingen. Solche Studien fördern meines Erachtens den Fatalismus, weil sie suggerieren, dass es kaum vorangeht.
Der einzige Nutzen, den ich sehe ist tatsächlich, dass hier eine große Menge an daten generiert wird. Dadurch kann man Vergleiche anstellen und Entwicklungen im zeitlichen Verlauf erkennen.
Die Websites untereinander zu vergleichen macht aus meiner Sicht keinen Sinn, Websites sind komplex oder weniger komplex, es wäre nicht sinnvoll, eine einfache Medien-Seite mit einem Onlineshop zu vergleichen.
Es scheint aber neu zu sein, dass WebAim Kategorien bildet, eventuell ist mir das aber auch durchgerutscht. Unter Site Categories kann man unterschiedliche Branchen, deren durchschnittliche Fehlerquote und Entwicklung verfolgen.
Tatsächlich sind die anderen Statistiken deutlich interessanter: Wie ist das Verhältnis von genutztem System/Framework zur Fehlerrate? Haben Websites mit Werbung mehr Fehler als solche ohne Anzeigen?
Für Forschende wären die Rohdaten der Analyse interessant, aber WebAim scheint diese nicht zugänglich machen zu wollen.
Was soll diese Studie
Im Grunde schätze ich die Kollegen von WebAIM. Umso mehr wundere ich mich darüber, dass sie so eine Studie veröffentlichen. Was ich hier schreibe ist sozusagen das kleine 1 mal 1 der Barrierefreiheit und natürlich auch den Verantwortlichen bekannt.
Ich habe im Grunde nur zwei Erklärungen: Entweder glauben sie tatsächlich so an die Qualität ihres Tools, dass sie die oben genannten Punkte einfach ausblenden. Oder – das vermute ich – die Studie ist ein reiner PR-Gag. Für eine schnelle Meldung ist das schön griffig: „96 Prozent aller Webseiten schließen Behinderte aus“. Kann man wunderbar in eine Schlagzeile packen.
Mit der Realität hat das wenig zu tun. Zumindest die meisten textlastigen Angebote lassen sich gut nutzen, auch wenn sie kleinere Mankos in der Barrierefreiheit haben. Jede beliebige Website dürfte von einer Teilmenge der behinderten Menschen nicht benutzbar sein, aber das hat relativ wenig mit dem WCAG-Score zu tun.
Und ich bin mir auch nicht sicher, ob man der Barrierefreiheit damit einen Dienst erwiesen hat. Es wundert mich schon, dass WebAIM glaubt, diese Art von PR nötig zu haben. Auch namhafte Accessibility Specialists verbreiten die Studie unkritisch – was nicht heißt, dass sie deshalb sinnvoll ist. Ich kann nur vermuten, dass es da um Eigenmarketing geht oder sie nicht in der Lage sind, die Qualität von solchen Studien zu bewerten. Oder – das meine Vermutung – sie haben die Studie gar nicht gelesen. Oft ist das Problem bei solchen Analysen, dass nur Überschriften oder Zusammenfassungen gelesen werden. Die Barrierefreiheits-Profis teilen die Ergebnisse, weil sie dadurch ihre Existenz-Berechtigung belegen können.
Junk-Studien in der Barrierefreiheit
Technik wird nicht alle Probleme der Barrierefreiheit lösen
Es ist schon erstaunlich: Je weniger man von Technik versteht, desto größer scheint der naive Technik-Optimismus zu sein. Man könnte davon ausgehen, dass die Leute einfach naiv sind. Die Technik-Optimisten sind ganz überwiegend Leute aus Jura oder BWL, die also bei aller Antipathie noch nie etwas programmiert oder erfunden haben.
In Wirklichkeit geht es aber meistens darum, die Hände in den Schoß zu legen und das eigene Nichtstun zu rechtfertigen, vor allem zu finden bei den C-Parteien, der FDP, weniger stark, aber leider auch bei den meisten anderen Parteien, wenn es etwa um Klima- und Umweltschutz geht. Barrierefreiheit interessiert diese Leute ja nicht, ansonsten würde man dazu wahrscheinlich ähnliches von ihnen hören.
Bezüglich der Barrierefreiheit hat sich in den letzten Jahren sehr viel getan und aktuell sieht es so aus, als ob es einen größeren Sprung geben könnte, das Stichwort ChatGPT darf hier natürlich nicht fehlen. Hier einige Beispiele ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
- maschinell erzeugte Bildbeschreibungen auf Facebook, Instagram, Chrome, Edge und Office
- automatisch generierte Untertitel und Captions etwa auf YouTube, in Zoom, Teams und Co.
- Leichte Sprache-Übersetzungen etwa von Summ AI
- Verbesserungen bei automatisierten Tests
Die neue Version von ChatGPT ist bereits in der Lage, grafische Benutzeroberflächen oder komplexe Informationsgrafiken rudimentär zu beschreiben. Mit iOS kann man Einzelteile von Bildern oder UI-Elemente identifizieren lassen und vieles mehr.
Bei allem, was wir bisher gesehen haben, gibt es noch ordentlich Luft nach oben. Allerdings sind die entscheidenden Algorithmen bereits entwickelt, sie müssen vor allem weiterentwickelt, verbessert und verfeinert werden. Man braucht kein Prohet zu sein, um zu sehen, dass sie in den nächsten Jahren immer weiter verbessert werden, einfach aus dem monetären Eigen-Interesse der Unternehmen dahinter. Sie wollen ihre Anwendungen verkaufen und stehen in Konkurrenz zueinander, einer der wenigen Fälle, in denen die Marktwirtschaft etwas Sinnvolles bewirkt.
Man kann die technische Entwicklung in zwei Abstufungen einteilen: Die stetige Weiter-Entwicklung verläuft evolutionär. Es werden Dinge ausprobiert, manche davon führen zu einer Verbesserung, die sich dann allgemein ausbreitet.
Daneben gibt es mehr oder weniger komplett neue Innovationen, die man als revolutionär bezeichnen kann: Das Rad, die Dampfmaschine, das Telefon, der Computer und so weiter. Manche Entwicklungen wie das Handy, das Smartphone, das Internet und so weiter hätte man ohne Weiteres voraussagen können. Aber Voraussagen sind etwas anderes, als etwas wirklich zu erfinden. Jules Verne hat über U-Boote geschrieben, aber es hat noch eine Weile gedauert, bis sie tatsächlich jemand entwickelt hat. Science Fiction und Science sind halt zwei Paar Schuhe.
Der Kern der Sache ist, dass man Evolution in gewissem Maße einplanen kann. Technische Revolutionen hingegen sind selten und man kann sie sicher nicht einplanen, vor allem nicht in einem Land wie Deutschland, dass bis auf ein paar Leuchttürme seine Forschungs-Einrichtungen wie die Hochschulen weder besonders schätzt noch ausreichend finanziert.
Natürlich sollte man systematisch weiterforschen, ich würde sogar sagen, die Forschung muss intensiviert werden. Man wird all das, woran es heute in der Barrierefreiheit mangelt aufgrund der hohen Kosten und dem Mangel an Fachkräften nicht durch menschliche Arbeitskraft erledigen können. Wer soll Millionen von Websites reparieren, PDFs taggen, Texte in Leichte und Gebärdensprache übersetzen und so weiter?
Aber das heißt nicht, dass man die Dinge jetzt vernachlässigen sollte. Naturgemäß kann man technische Revolutionen nicht planen oder gar einplanen, wie es manche Partei beim Klimaschutz zu tun scheint. Ein simples Beispiel ist die Medikamentenforschung: Tausende von Stoffen werden erforscht, damit am Ende vielleicht ein Medikament rauskommt. Würden wir der Logik einiger Politiker folgen, bräuchten wir Krebs nicht mehr zu therapieren, wir warten einfach, bis das Heilmittel gefunden ist. Tut natürlich keiner, wir sind ja keine Idioten.
Es ist wahrscheinlich, dass die Themen, über die wir uns heute in der digitalen Barrierefreiheit unterhalten in 50 Jahren keine Rolle mehr spielen werden. Entweder wird die technische Basis eine ganz andere sein oder wir werden die meisten dieser Probleme durch Algorithmen gelöst haben. Das hilft aber nicht den Leuten weiter, die gerade vor dem Computer sitzen, deren Probleme müssen heute, morgen und übermorgen angegangen werden.
Andere Probleme wie die Barrierefreiheit von Treppen kann man auf absehbare Zeit gar nicht technisch lösen. Ja, ich kann mir eine Art flexiblen günstigen Treppenlift vorstellen, welcher gehbehinderte Menschen samt Rollstuhl oder Rollator nach oben oder unten transportiert und sich ansonsten irgendwo verstaut, wo er nicht im Weg ist. So was wünscht sich auch jeder für den nächsten Umzug. Ist so was denkbar? Sicher. Ist es absehbar? Meines Wissens nicht.
Wir dürfen die Lösung der heutigen Probleme nicht verschleppen, nur weil es irgendwann eine technische Lösung geben könnte. Im schlimmsten Fall kommt diese Lösung einfach nicht. Auf jeden Fall können wir nicht sagen, wann sie kommt und sie wird uns heute nicht helfen.