Eine der häufigsten Kundinnen-Anfragen ist, ob wir die Barrierefreiheit von Webseiten zertifizieren können. Die kurze Antwort – können wir nicht, da es entsprechende Zertifikate nicht gibt. Und das wir eine Zertifizierung für so sinnvoll wie ei Pflaster gegen Krebshalten. Die lange Antwort folgt hier.
Die Feststellung, dass eine Applikation konform mit der WCAG oder hierzulande mit der EN 301549 ist (die Konformitäts-Erklärung), das ist die Zertifizierung, mehr gibt es nicht. Und mehr braucht es nicht.
Da es die perfekt barrierefreie Website nicht gibt, ist es eigentlich auch nicht möglich, ein Zertifikat für vollständige Konformität zu erstellen.
Digitale Produkte sind lebendig – Zertifizierungen sind Totholz
Wie sinnvoll kann es überhaupt sein, eine digitale Anwendung zu zertifizieren? Selbst Behörden bauen heutzutage ihre Oberfläche häufig um. Inhalte werden eingebunden und entfernt, Module ausgetauscht und auch Inhalte ändern sich ständig. Genausogut könnten Sie einen frisch gepflanzten Baum zertifizieren. Ein Jahr, einen Monat, eine Woche danach kann die Zertifizierung obsolet sein, weil sich etwas entscheidend geändert hat.
DIAS-BITV-Test ist keine Zertifizierung
Der DIAS-BITV-Test ist keine Zertifizierung. Er ist eine Interpretation der WCAG/EN 301549 und hat keine öffentliche Legitimität, da er von Privat-Unternehmen entwickelt und gepflegt wird.
Sie sprechen ja auch selbst nicht davon, dass es sich um ein Zertifikat handeln würde. Es ist wie oben gesagt eine Moment-Aufnahme zum Zeitpunkt des Tests, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Prüf-Berichts schon überholt sein kann.
VPAT und ACR sind für Webseiten ungeeignet
International scheint sich das VPAT Voluntary Product Accessibility Template als Standard durchzusetzen. Es ist ebenfalls kein Zertifikat, sondern ein strukturierter Bericht über Die Barrierefreiheit eines Produkts oder einer Software. Das Resultat ist der (Accessibility Conformance Report ACR, der oft veröffentlicht oder auf Anfrage ausgegeben wird. M.E. ist es für eine content-lastige Website zu mächtig, es zielt eher auf komplexe Anwendungen wie Google Docs oder Jira ab. Außerdem ist es hierzulande praktisch unbekannt, obwohl es eine spezielle Version für die EN 301549 gibt. Meines Wissens gibt es kein deutsches Unternehmen, dass die Erstellung eines VPATs als Dienstleistung anbietet. Das VPAT kann anders als der DIAS-BITV-Test lizenz- und kostenfrei eingesetzt werden, sofern man deren Regeln befolgt.
Ein VPAT sagt ebenso wie bei DIAS-BITV-Test übrigens nicht, dass eine Anwendung barrierefrei ist, sondern ist ein strukturierter Prüf-Bericht. Er zeigt, dass sich der Anbieter mit Barrierefreiheit zumindest beschäftigt hat. Da man ein VPAT auch selbst erstellen kann, sollte man immer kritisch bleiben. Allerdings habe ich noch kein VPAT/ACR für ein deutsches Produkt gesehen.
Aber mein Chef will ein Zertifikat
Erklären Sie ihm – oder seltener ihr – das die Erklärung zur Barrierefreiheit/Konformitäts-Erklärung ein Zertifikat ist oder zumindest eine ähnliche Funktion erfüllt. Dahinter steckt ja in aller Regel ein Prüf-Bericht einer qualifizierten Person oder Organisation. Der Prüfbericht enthält viele wichtige Informationen wie den Zeitpunkt der Prüfung, die gefundenen Fehler, ggf. einen Zeitplan, bis wann die Fehler behoben werden und vieles mehr. Diese Erklärung, der Feedback-Mechanismus und eine Qualitätssicherung ist viel relevanter als ein Zertifikat.
Wie kann ich als Dienstleister meine Barrierefreiheit/Konformität nachweisen?
Sie bieten ein digitales Produkt an und wollen nachweisen, dass Sie barrierefrei/konform sind? Dann haben Sie die oben genannten Möglichkeiten. Da es kein allgemein akzeptiertes Zertifikat gibt, können Sie einen Test durchführen oder durchführen lassen und das Ergebnis in einem Prüf-Bericht dokumentieren.
Jeder Profi weiß, dass Selbst-Tests nicht einfach zum Abhaken da sind, sondern kritisch erfolgen müssen. Wenn Sie dazu selbst nicht in der Lage sind, sollten Sie eine dritte Partei damit beauftragen. Ein falscher oder unehrlicher Prüf-Bericht wird Ihnen sehr bald auf die Füße fallen.
Und natürlich gilt, dass der Test IMMER aktuell sein muss. Das heißt, wenn das Projekt aktualisiert wird, muss zumindest die neue Komponente auch entsprechend geprüft werden. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein, ist aber bei vielen Projekt-Verantwortlichen noch nicht angekommen. Das zeigt, welchen Stellenwert digitale Barrierefreiheit hat, irgendwo unter minor Features.
Totholz, um Kritik zu ersticken?
Ein Zertifikat schützt Sie nicht vor Klagen, es spielt keine Rolle, von wem es erstellt wurde. Die ausstellende Stelle wird sich immer absichern: Vermutlich wird ein Zeitpunkt des Tests enthalten sein. Wenn sich zwei Monate später jemand beschwert, dann kann die ausstellende Stelle immer darauf verweisen, dass der Test ja schon länger her ist und sich bestimmt etwas geändert hat. Was ja auch wahrscheinlich zutrifft.
Andersherum wird ein Zertifikat häufig dazu verwendet, sich gegen Klagen abzusichern und Kritik im Keim zu ersticken. Eine behinderte Person beschwert sich über Barrieren? Senden Sie ihr das Zertifikat, dann ist klar, dass diese Beschwerde nicht berechtigt ist. Das tun Sie nicht? Was genau soll dann der Zweck eines solchen Zertifikats sein?
Was soll ein Zertifikat bringen?
Wen möchten Sie mit einem Zertifikat beeindrucken? Ist sicherlich nett, es an eine echte oder virtuelle Pinnwand zu hängen, für Geschäfts-Berichte oder anderen formalen Unsinn. Liest ja eh keiner, weder die Berichte noch die Zertifikate, weil sie so spannend sind wie die Zeitung von letzter Woche.
Natürlich werden Sie immer jemanden finden, der Ihnen so ein Zertifikat verkauft, auch mit den entsprechenden Tests. Auch Wünschelruten werden ver- und gekauft. Sicherlich sind nicht alle Verfahren vollkommen unseriös. Wie oben beschieben ist die Halbwertszeit eines solchen Zertifikats vielleicht ein Jahr. Auch wenn Angebote jährlich getestet werden sollen möchten Sie sicherlich nicht jedes Jahr das Theater mit den Zertifikaten mitmachen.
Fazit: Investieren Sie das Geld sinnvoll
In Deutschland gibt es eine fanatische Liebe zu komplexen formalen Prozessen und gewichtigen Papieren, auf denen bedeutungsvolle Dinge wie „Zertifiziert nach DIN/ISO …“ steht. Ob diese irgendwen außerhalb der Bublle interessieren – who cares?
Verschwenden Sie Ihr Geld nicht mit solchen formalen Bestätigungen, denn Sie sind für Sie selbst nicht nützlich und die von Barrieren betroffene Person interessiert das schon gar nicht. Wenn Sie zu viel Geld übrig haben, stecken Sie es in einen Feedback-Mechanismus zur Barrierefreiheit.