Virtual/Augmented Reality und Barrierefreiheit


Die erweiterte Realität oder augmented reality ist an sich unspektakulär: Wenn man zum Beispiel ein Foto von einem Gebäude wie dem Kölner Dom macht, dann sollen in Echtzeit Informationen zu diesem Gebäude auf dem Handy eingeblendet werden.

Kombination verschiedener Technologien sinnvoll

Andererseits sind die Erweiterungsmöglichkeiten dieser Technik praktisch unbegrenzt. In Verbindung mit einem GPS-Empfänger könnte ein Blinder oder ein Sehbehinderter herausfinden, vor welchem Gebäude er steht und ob er dort richtig ist. GPS oder andere Ortungsdaten sind nötig, weil ein Blinder wohl nicht in der Lage sein wird, ein Gebäude richtig zu fotografieren. Um hinreichende visuelle Informationen aufzunehmen, müssen schließlich Blickwinkel, Entfernung, Beleuchtung und Bildschärfe stimmen. Denkbar wäre auch ein Datenabgleich mit Google Streetview oder ähnlichen diensten, wobei das heute wohl aufgrund der nötigen Rechenleistung zu aufwendig wäre.
Eine clevere Kombination verschiedener Faktoren und Informationsquellen wie GPS, panorama-Fotografie, Handy-Ortungsdaten und Google Streetview dürften genügend Informationen liefern, um ein Gebäude oder einen Ort an einer Straße eindeutig zu identifizieren.
Bei einem Restaurant ließen sich zum Beispiel die Öffnungszeiten und die Speisekarte online betrachten. Schließlich fragt niemand gerne nach Speiseangebot und Preisen. Blinde haben hier schlechte Karten, weil sie die Karte schlicht nicht lesen können.
Interessanter wird es bei so schlichten Dingen wie Bus- und Straßenbahn-Fahrplänen. Die können auch Sehende oft nicht lesen, weil sie verdreckt oder schlicht zu klein gedruckt sind. Den Spaß, auf den Seiten der Anbieter nach den passenden Fahrplänen zu suchen will man sich weder auf dem Computer noch mobil antun. Blinde sind hier aufgeschmissen, leider können auch viele normal Sehende den Fahrplan nicht lesen – oder verstehen. Hier würden aber auch schon fühlbare QR-Codes weiterhelfen, die einfach nur mit dem Smartphone abfotografiert werden müssten.
Ein wirklich ärgerliches Problem sind Busse, Bahnen oder Züge, die zu spät kommen. An kleinen Bahnhöfen gibt es keine Durchsagen, so dass niemand weiß, was eigentlich los ist. Auf der anderen Seite haben Gehörlose das Problem, dass sie Durchsagen nicht hören und ihnen damit wichtige Informationen entgehen.
Die Verknüpfung von geographischen Orten und zugehörigen Websites könnte eine der interessantesten Anwendungen der nahen Zukunft werden. Und für viele Blinde und andere Gruppen Behinderter ebenfalls ein Stück Autonomie bringen.

Virtuelle Realität als Alternative zu mangelnder Barrierefreiheit

Virtuelle Welten wie das Metaverse des Meta-Konzerns sind zugegebenermaßen noch Zukunftsmusik. Sie bieten aber große Chancen für behinderte Menschen.
Das Problem der digitalen Barrierefreiheit ist nicht gelöst, scheint aber mit überschaubaren Mitteln regelbar zu sein. Anders sieht es mit zwei anderen großen Bereichen aus: Wohnen und Mobilität.
Generell fehlen unzählige Wohnungen, zumal durch die starke Zuwanderung durch die diversen Zuzüge von Flüchtlingen. Für die Einwanderung in den Arbeitsmarkt wären weiterhin zusätzliche adäquate Wohnungen in den Metropolen notwendig. Gar nicht erwähnt ist dabei das Thema barrierefreie Wohnungen, der Markt ist leergefegt und unsere diversen Regierungen schaffen es nicht, das Problem zu lösen. Es wären Investitionen im Rahmen von Milliarden sowie entsprechende Fachkräfte notwendig – beides ist nicht absehbar.
Das gleiche Trauerspiel finden wir bei der Mobilität: Es gibt Fortschritte, aber zu wenige und zu langsam. Ältere und behinderte Menschen mit Mobilitäts-Problemen konkurrieren mit Pendlern, Schülern und anderen Menschen um die knappen mobilitäts-Ressourcen, uralte Busse, Bahnen, Bahnhöfe und Züge machen das Ein- und Aussteigen zu einer Tortour.
Gleichzeitig sehnen wir uns nach menschlicher Nähe – zumindest die Meisten von uns. Der große Nachteil der Peripherie sind die eingeschränkten Möglichkeiten, Freunde zu treffen und kulturelle Einrichtungen zu nutzen. Remote Work ist eine gute und sinnvolle Sache, doch möchte man zumindest ab und zu mal die Kolleg:Innen persönlich treffen. Online-Meetings sind gut, aber nicht optimal.
Virtuelle Welten könnten viele dieser Probleme lösen. Remote Work ist, wie ich an anderer Stelle schrieb, für Menschen mit Mobilitäts-Einschränkungen interessant, solange es inklusiv stattfindet, man also nicht benachteiligt wird gegenüber vor Ort arbeitenden Personen. Mit VR könnte sich das Standort-Problem besser lösen lassen als mit Online-Meetings. Auf In-Persona-Meetings muss man trotzdem nicht verzichten, aber sie müssten seltener stattfinden. Ich erinnere mich an die Fantasy-Saga „Otherland“ von Tad Williams. In dieser Geschichte kamen drei behinderte Personen vor, die durch die dort gut verfügbare VR-Welt teilweise von ihren Behinderungen lösen konnten.
Und natürlich das ganze Thema Freizeit-Gestaltung – auch das eine Herausforderung dank mangelnder Barrierefreiheit. Auch das wäre mit der entsprechnden VR machbar. Klar, die Atmosphäre eines Live-Festivals wird man vielleicht nie über VR-Wearables spüren, aber es ist ein Kompromiss und besser als nichts. Man vergisst gerne, dass solche Events mit Tickets, Anreise, Übernachtung und so weiter gerne mal so viel kosten wie ein kleiner Urlaub, auch Geld bzw. dessen Fehlen kann eine Barriere sein.

Wie barrierefrei sind VR/XR heute?

Und nun die Preisfrage, ist VR/AR barrierefrei realisierbar? Zumindest was motorisch und Sehbehinderte sowie Schwerhörige/Gehörlose angeht, sollte es hier keine größeren Probleme geben. Man müsste natürlich sicherstellen, dass Zoom, Sprach- und Bewegungssteuerung, Untertitel und die ganzen anderen existierenden Hilfsmittel sich weiterhin verwenden lassen, dass also die entsprechenden Schnittstellen vorhanden sind.
Für Blinde gibt es besondere Herausforderungen, wenn virtuelle Welten vor allem visuell gestaltet werden. Bis in die 2000er Jahre hinein habe ich gerne Computerspiele gespielt: Civilisation, Monkey Island, Need for Speed und so weiter haben mir einige Nachmittage versüßt. Danach wurde mein Sehen schlechter bzw. die Spiele so visuell komplex, dass es nicht mehr machbar war. Aber weil ich aus der Sehenden-Welt komme, konnte ich mit Audio-Games bis heute nichts anfangen. Computerspiele sind 95 Prozent Optik und vielleicht 5 Prozent Audio.
Wenn wir das Gleiche bei VR/AR erleben – das befürchte ich – dann wird das für Blinde nicht funktionieren. Das heißt, man braucht auch eine saubere Akkustik: Wenn ich an einem virtuellen Konferenztisch sitze, muss die Stimme einer sprechenden Person aus der entsprechenden Richtung kommen oder halt von oben oder unten, 3D-Sound halt. Der klassiche Stereo-Kopfhörer reicht nicht aus. Die visuelle Welt – nun ja, man kann sie für blinde Menschen weder real noch virtuell wirklich zugänglich machen, zumindest nicht mit absehbar verfügbarer Technik.
Dringend notwendig wäre auch die wesentlich aufwendigere Entwicklung von Tools für haptisches Feedback. Das scheint im Augenblick noch Zukunftsmusik zu sein, aber wenn hier nicht geforscht wird, passiert da gar nichts. Und das könnte umgekehrt auch für Sehende interessant sein. Es ist doch sehr schade, dass in einer ohnehin visuell ausgerichteten Welt auch die VR rein visuell und ein wenig akustisch, aber kaum haptisch ist.
Doch sagt niemand, dass VR einfach nur die Realität kopieren muss. Wo man gedruckte Handouts verteilen würde, kann man in der VR digitale Unterlagen verteilen. Eine virtuelle Leinwand kann digital befüllt und von der Sprachausgabe vorgelesen werden und so weiter.

Nutzungs-Szenarien für VR/AR und behinderte bzw. ältere Menschen

Generell kann AR/VR genutzt werden, um zum Beispiel physiotherapeutische Übungen ohne fremde Anleitung korrekt auszuführen. Die Bewegungs-Abläufe könnten über eine geeignete Kamera oder Sensoren überwacht und korrigiert werden.
Interessant ist außerdem die Kombination von VR/AR-Anwendungen mit text- oder sprach-basierten Chat-Systemen wie ChatGPT. Der große Vorteil ist, dass die Nutzenden Rückfragen in natürlicher Sprache an das System stellen können und nicht nur auf den Output des Systems angewiesen sind.
Im Arbeitskontext können VR/AR genutzt werden, um dezentrale Sitzungen persönlicher zu gestalten als es mit Video-Kommunikation heute möglich ist. Meetings mit VR können realen Meetings näherkommen als reine Video-Meetings und zusätzliche Barrierefreiheits-Möglichkeiten bieten.
Generell ist die Kombination unterschiedlicher Entwicklungen spannend: So können Blinde mit dem Smartphone viele interessante Dinge machen, aber es ist unpraktisch, das Smartphone die ganze Zeit in der Hand zu halten. Außerdem sind viele Anwendungen wie die Text-Suche oder Objekt-Erkennung im Freien sehr ressourcenaufwendig und fehlerbehaftet. Die Kombination von AI und VR könnte sowohl die benötigte Kapazität als auch die Erkennung von Text und Objekten deutlich verbessern.

Blinde Menschen

Im Alltag könnte AR verwendet werden, um die Orientierung und Erkundung zu verbessern. Beispiele sind:

  • Erkennung von Hindernissen und deren Gefahren – zum Beispiel ist ein sich bewegendes Fahrrad gefährlicher bzw. erfordert andere Strategien als ein geparktes Fahrrad. Bislang können Hindernis-Erkennungen nur sehr grob warnen und gar keine Infos wie „am besten links halten“ geben.
  • Erkennung von Objekten in der Umgebung in Echtzeit inklusive Text-Erkennung. Für Blinde ist es zum Beispiel gut zu wissen, ob sich die Tür eines Gebäudes oder eines Fahrzeugs wie einer Bahn sich vor ihnen oder im Blickfeld befindet. Die Text-Erkennung kann hilfreich zum Erkennen von Straßennamen und Nummern, die Infos auf Displays von Bussen und Bahnen und so weiter sein.
  • Im Computer-Bereich wären das Identifizieren und Beschreiben von Benutzer-Oberflächen interessant. Bislang ist es für Blinde nur auf Touch-Screens möglich, die Anordnung von UI-Elementen auf Bildschirmen zu erkennen. Voraussetzung ist außerdem, dass GUI barrierefrei entwickelt wurden, was bisher nicht immer der Fall ist.

Bei Blinden ist allerdings wichtig, dass Informationen entweder auditiv oder haptisch vermittelt werden. Auch mit einem Rest-Sehvermögen können visuelle Reize nicht so verarbeitet werden wie es Sehende tun. 3D-Effekte zum Beispiel funktionieren nicht, wenn das Sehvermögen auf beiden Augen nicht gleich ist, das trifft auf viele Sehbehinderte und Blinde zu.

Gehörlose und Schwerhörige

Für Gehörlose und Schwerhörige ist insbesondere die Erkennung gesprochener Sprache sowie von Geräuschen wichtig. Sprache kann zum Beispiel von Gesprächspartnern, aber auch von Durchsagen kommen. Sie könnte in Echtzeit in Untertitel oder Gebärdensprache umgewandelt werden. Gebärdensprache wird aktuell aber wohl nicht automatisch umsetzbar sein.
Können die Personen sich nicht lautsprachlich äußern, wäre auch die Umwandlung von Gebärdensprache in Text oder als Sprachausgabe für die Gesprächspartner hilfreich. Aktuell gibt es etwa im nächsten iOS die Möglichkeit, eine künstliche Sprachausgabe an die eigene Stimme anzupassen.

Querschnittsgelähmte

Für Querschnittsgelähmte ergeben sich Möglichkeiten dafür, Orte zu erkunden, die sie physisch nicht oder nur schwer erreichen können. Dazu gehören Gebäude, die nicht barrierefrei sind, aber auch Umgebungen wie Berge oder ansonsten nicht rollstuhlgeeignete Regionen wie Moore. Der visuelle und der auditive Kanal können dabei bedient werden. Die Dimension Geruch der jeweiligen Lokation fehlt allerdings noch, um das Bild zu vervollständigen.
Die Steuerung könnte dabei über Sprache, Kopf- oder Augen-bewegungen durchgeführt werden.

Autismus

Autisten haben in der Regel Probleme mit ungewohnten Situationen oder mit Effekten, die sie als störend empfinden. Die Form der Trigger ist dabei sehr individuell, es kann eine bestimmte Farbe, ein Geräusche wie die Klimaanlage oder etwas anderes sein.
Entsprechende Headsets und Brillen könnten so angewendet werden, dass sie unerwünschte Effekte für das Individuum ausfiltern oder ausgleichen, so dass die Betroffenen nicht mehr getriggert werden. Sie würden dann ihre Umgebung vollständig wahrnehmen, nur dass die Elemente verschwinden, durch die sie getriggert werden.

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