Der menschliche Faktor in der Barrierefreiheit

Ich denke allerdings, dass er hier aus zwei Gründen zu kurz greift (@Heiko: Du nimmst mir hoffentlich nicht übel, dass ich deinen Beitrag als Aufhänger nehme;-)):

  1. Zum Einen hat Google viele zugängliche Dienste, die ein deutscher Webservice-Anbieter in 3000 Jahren nicht für Blinde zugänglich machen würde. Maps zum Beispiel bietet eine recht gute, zugängliche Wegbeschreibung für Fußgänger an. Es gibt derzeit keinen tauglichen Weg, die normalen Maps mit allen Infos für Blinde zu öffnen. Vielleicht ändert sich das ja mit der Massenverbreitung von Touchscreens.
  2. Zum Anderen sind viele von Googles Angeboten nur Versuchsballons. Man hat an Wave gesehen, dass die Halbwertszeit mancher gehypter Dienste recht kurz sein kann. Das sind quasi Programme im Dauer-Beta-Status. Sie lassen sich auch mit WCAG-1.0-Methoden nicht zugänglich machen. Und selbst wenn, wird es immer noch ein paar Jahre dauern, bis die Hersteller von screenreadern nachgezogen haben, schauen wir mal von NVDA ab, die haben hier oft die Nase vorn. Mit anderen Worten, viele Dienste lassen sich mit gängiger Accessibility-Software nicht zugänglich machen, sogar einige moderne Browser wie Opera werden teilweise ausgeschlossen.

Viele Wege führen nach Rom

Gewußt wie: Ein Leser meines Weblogs fragte mich per Mail, ob Google Books per Screenreader zugänglich sein könne. Im Prinzip nein, aber durch die Hintertür doch, denn die Variante für mobile Endgeräte verzichtet auf Flash und JavaScript und ist somit zugänglich. Die Deutsche Bahn hat sich mtt ihrer mobilen Reiseauskunft selbst übertroffen, so viel schlichte Einfachheit würden wir uns auch bei der normalen Reiseauskunft wünschen. Und viele Blinde ziehen es tatsächlich vor, die mobile Auskunft zu nutzen.
Die überwigende Zahl der Blinden werden beide Dienste aber nicht kennen, womit ich zur Ausgangsfrage komme. Wenn wir jetzt fragen, ob die Reiseauskunft, Google Books und Maps für Blinde zugänglich sind, werden die meisten Blinden Nein sagen, was teilweise richtig ist und teilweise auf Unwissenheit über „Schleichwege“ beruht.
Das ist aber nicht alles: Hinzu kommen mangelnde Computerkenntnisse, veraltete Software, Uralt-Browser, veraltete Hilfssoftware und mangelnder Forscherdrang.
Um herauszufinden, ob Google Books prinzipiell für Blinde nutzbar ist, musste ich fünf Minuten in englischen Foren stöbern, Blinde in Deutschland stellen diese Frage offenbar gar nicht.

Jeden Tag was Neues

Auch wenn man wie ich mehr als zehn jahre mit einem Screenreader arbeitet, stolpert man gelegentlich über neue Funktionen, die einem das Arbeiten echt erleichtern können. Ich denke deshalb, dass viele Blinde, die nicht mehrere hundert Stunden mit ihrem Computer verbringen wollen oder müssen, generell große Probleme bei der Bedienung komplexer Programme und des WWWs haben. Der Augenschein trügt: 80 Prozent von dem, was ich bei meiner Screenreader-Schulung gelernt habe, habe ich nach einer Woche wieder vergessen.
Das heißt aber auch, dass wir gezwungen sind, uns stärker mit dem Computer, dem Web und der Hilfssoftware zu beschäftigen, als wir das bisher getan haben. WAI ARIA mag das Rich Internet zugänglich machen, es wird aber auch die Bedienung des Screenreaders komplizierter machen.
Gehen wir ruhig mal davon aus, dass die Zahl der Internet-Laien unter Blinden ebenso hoch ist wie Durchschnittsbevölkerung, dann sind das rund zwei Drittel – darunter vor allem Ältere – die mit dem Web nicht umgehen können, unabhängig davon, ob die Website barrierefrei ist oder nicht.
Alles Auszeichnen, alle Semantik und alle ARIAs sind vergebliche Liebesmühe, wenn der Blinde nicht weiß, wie er damit umgehen soll. Ich sehe da die Blinden stärker in der Pflicht, sich in die Technik einzuarbeiten. Es ist also nicht damit getan, ein barrierefreies Web zu fordern.
Noch kurz zu Google, sie beschäftigen mindestens einen blinden Entwickler – T. V. Raman – der sich mit Zugänglichkeit beschäftigt. Yahoo übrigens auch, den Namen liefere ich mal nach. Wir haben ihnen sicher dafür zu danken, dass viele Services der beiden relativ barrierefrei zugänglich sind.