Barrierefreier Shared Space

Behinderte sind schnell dabei zu sagen, was alles nicht geht. Ich bin da immer misstrauisch, denn meistens geht es doch. Die Frage ist, was muss getan werden, damit es geht.
Der Shared Space ist so ein Beispiel, dabei handelt es sich um ein nicht mehr ganz neues Verkehrskonzept aus den Niederlanden. Ziel ist es, den Verkehrsraum miteinander zu teilen. An die Stelle fester Verkehrsregeln treten informelle Regeln und die Ad-hoc-Absprache der Verkehrsteilnehmer per Augenkontakt, Bürgersteigkanten und andere Beschränkungen werden abgeschafft.

Keine Freunde des Shared Space

Die Kritik von Blinden beruht vor allem darauf, dass sie zum einen keinen Blickkontakt mit anderen Verkehrsteilnehmern herstellen können und zum anderen keine Orientierungspunkte haben. Rollstuhlfahrer befürchten, dass sie in einem toten Winkel sind, wo sie von KFZ-Fahrern nicht gesehen werden. In fast allen Situationen sitzt ein Rollstuhlfahrer tiefer als ein Autofahrer.
Die Sorge mag berechtigt sein, suggeriert aber, dass es aktuell wesentlich besser steht. Das ist meines Erachtens nicht der Fall. Hier in Bonn gibt es zahlreiche Stellen, die Blinde und Rollstuhlfahrer nicht gefahrlos überqueren können. Zum Beispiel ist irgendein Genie auf die Idee gekommen, eine Zugstrecke mitten durch die Stadt zu legen – oder die Stadt um die Zugstrecke herum aufzubauen. An vielen Stellen gibt es keine blindengerechte Möglichkeit, diese Strecke zu überqueren. Ein anderer Witzbold ist auf die glorreiche Idee gekommen, eine U-Bahn teilweise oberirdisch zu verlegen, die an einigen Stellen den Fußgängerüberweg kreuzt. An einer Stelle gibt es nicht einmal eine Schranke, die runtergeht, wenn die Bahn durchfährt, so dass Blinde da in eine lebensgefährliche Falle geraten können. An einigen Stellen der B9 ist die Verkehrsführung dermaßen verworren, dass ich selbst mit einer ordentlichen Einweisung da nicht drüber gehen würde. Viele akustische Ampeln sind so gestaltet, dass man nie genau verorten kann, ob jetzt die eigene Ampel grün ist oder die Ampel der Parallelstraße. Und Bonn ist bekanntermaßen ein Dorf, in größeren Städten dürfte es noch schlimmer zugehen.
Marburg wirkt da auf den ersten Blick wie das verlorene Paradies für Blinde. Akustische Ampeln an allen ecken, lauter blindenfreundliche Menschen und kaum gefährliche Ecken, zumindest bis die Ampeln an der vollkommen ungefährlichen Schnellstaße am Hauptbahnhof um 22 Uhr abgeschaltet werden. Diese Straße ist auch vollkommen unwichtig, sie muss nur überquert werden, um vom Bahnhof in die Innenstadt zu kommen und wer will das schon.
In gewisser Weise schadet dieses System den Blinden mehr, als es ihnen nutzt. Wenn sie Marburg verlassen wöllten hätten sie im schlimmsten Fall nie mit einem Verkehrssystem zu tun gehabt, in dem es diese Ampeln nur sporadisch gibt. Sie hätten große Probleme, in anderen Städten zu Recht zu kommen. Das dürfte der Grund sein, warum viele Blinde im mittleren oder reiferen Alter in Marburg bleiben, auch wenn sie dort keinen Job finden. Um Missverständnissen vorzubeugen, ich würde mich freuen, wenn es diese Ampeln flächendeckend gäbe, sie würden auch älteren Menschen mit Sehproblemen zugute kommen. Aber ich sehe diesbezüglich keine Entwicklung in eine bestimmte Richtung. Am einen Ort werden sie aufgebaut, an anderem Ort abgebaut.

Barrierefreiheit schaffen

Der Shared Space könnte eine Lösung für einige Mobilitätsprobleme sein. In vielen Fällen wäre er sogar eine Verbesserung, Rollstuhlfahrer zum Beispiel können nie wissen, ob nicht irgendeine Baustelle ihren Stammweg blockiert und sie können nicht ohne Weiteres auf die Straße ausweichen. In den meisten Punkten sind die Bürgersteigkanten zu hoch, sie kämen vielleicht noch unfallfrei runter, aber nur schwer wieder hoch.
Wer schon mal in einem Entwicklungsland gewesen ist weiß, wie chaotisch es da zugehen kann. In Indien zum Beispiel gibt es Verkehrsregeln – an die sich niemand hält. Wir fahren links wie die Engländer, alles andere ist Flow. Dennoch haben sich informelle Regeln herausgebildet, es gilt das Recht des Stärkeren. Mopeds dissen die Fußgänger, Autos die Mopeds, Lkws und Busse die Autos. Wer überholen will hupt zwei Mal. Das Ganze ist weder vorbildhaft noch konfliktfrei, aber es funktioniert erstaunlich gut. Die Schwachen wissen, dass die Starken keine Rücksicht nehmen und passen daher auf sich selber auf. So viel anders als in Deutschland ist es auch nicht, wo es keine Ampeln oder Zebrastreifen gibt sind die Schwachen immer diejenigen, die den Autos weichen müssen.
Natürlich kann der Shared Space nicht ganz ohne Prinzipien auskommen. Eines unserer Prinzipien muss also heißen: Der Starke muss auf den Schwachen Rücksicht nehmen.
Das zweite Prinzip heißt: Der Schwache muss auf sich selbst aufpassen. Eine Ausnahme gilt nur für kleine Kinder, die das bekanntermaßen nicht können. Alle anderen sollten das beherrschen, wenn sie am Verkehrsraum teilnehmen möchten, ansonsten macht es auch keinen Unterschied, ob Shared Space oder etwas anderes.
Das Problem mit den Orientierungspunkten für Blinde lässt sich lösen. Da Häuser voraussichtlich nicht planiert werden sind Häuserwände der beste Orientierungspunkt. In ausreichenden Abständen können taktile Streifen geschaffen werden, die eine Überquerung des Fahrweges erlauben.
Das Überqueren eines Fahrwegs dürfte die schwierigste Herausforderung für Blinde sein. Hier müsste das Prinzip greifen, dass ich oben genannt habe, der Stärkere ist für den Schwächeren verantwortlich. Wenn ein Blinder die Straße queren will hat ein Auto, ein Fahrrad und auch der LKW stehen zu bleiben, Blickkontakt hin oder her. Der Blinde seinerseits muss die Verantwortung für sich selbst übernehmen, das heißt, er darf die Straße nicht überqueren, bis er sich sicher sein kann, dass das Auto stehen geblieben ist bzw. keine Gefahr droht. Ich will nur einmal kurz daran erinnern, dass die Städte nicht den Autofahrern gehören, auch wenn der Blick auf eine Karte etwas anderes suggeriert. Nirgendwo steht geschrieben, dass Autos ein Vorrecht vor Fußgängern haben müssen.
Ein weiteres entscheidendes Prinzip ist die generelle Entschleunigung: Vor allem Autofahrer, aber auch Fahrradfahrer müssen deutlich gebremst werden. Es gibt keinen Grund für Autofahrer, in der Innenstadt deutlich mehr als Schrittgeschwindigkeit zu fahren. Durch die Entschleunigung würden sich ein Großteil der Verkehrsprobleme mit dem Shared Space erledigen.

Fazit

Ich möchte nicht behaupten, alle möglichen Probleme des Shared Space gelöst zu haben, ich liefere nur einige Anregungen. Ich finde das Konzept spannend und es wäre schade, wenn es von den Blindenverbänden kassiert werden würde, weil diese nicht flexibel genug sind.

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