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Die WCAG 3 – das erwartet uns


Heute möchte ich einen Ausblick auf die WCAG 3 geben – die voraussichtlich nächste Version der Web Content Accessibility Guidelines.

Was sind die WCAG?

Die WCAG bilden die internationale Grundlage für fast alle nationalen Richtlinien zur digitalen Barrierefreiheit. Entwickelt werden sie vom World Wide Web Consortium (W3C).
Aktuell gilt die Version 2.2, die vor etwa zwei Jahren veröffentlicht wurde. Die nächste große Überarbeitung wird die WCAG 3 sein.
Ein kurzer Blick zurück zeigt, wie lange solche Entwicklungsprozesse dauern: Die erste Version der WCAG erschien um das Jahr 2000. Im Jahr 2008 folgte die WCAG 2 – damals eine grundlegende Neuausrichtung, weil sich das Web technisch stark verändert hatte. Die ursprüngliche Fassung konnte den neuen Anforderungen einfach nicht mehr gerecht werden.
Als die WCAG 2 entwickelt wurde, war das Internet im Wesentlichen noch statisch. Es gab zwar erste webbasierte Anwendungen wie Google Docs, doch sie waren noch die Ausnahme. Auch Smartphones waren damals kaum verbreitet.
Mit der WCAG 2.1 kamen schließlich Themen wie Touchscreens, mobile Anwendungen und teilweise auch kognitive Beeinträchtigungen hinzu – allerdings nur in begrenztem Umfang. Die WCAG 2.2 erweiterte den bestehenden Rahmen noch etwas, blieb aber im Grundkonzept unverändert.

Warum eine WCAG 3?

WCAG auf solche Nicht-Webinhalte angewendet werden kann. Diese Lösungen sind jedoch eher provisorisch. Mit der WCAG 3 soll ein einheitliches, flexibles Konzept geschaffen werden, das alle digitalen Plattformen und Technologien berücksichtigt.
Die neue WCAG 3 wird daher voraussichtlich abstrakter und umfassender aufgebaut sein als ihre Vorgänger. Während die bisherigen Versionen stark auf klassische Webseiten ausgerichtet waren, soll die kommende Generation auch komplexe Webanwendungen und vielfältige Interaktionsformen abbilden.
Damit trägt das W3C der Realität moderner digitaler Umgebungen Rechnung – und schafft die Grundlage für eine wirklich inklusive Zukunft im digitalen Raum.
Ein zentraler Unterschied der kommenden WCAG 3 im Vergleich zu den bisherigen Versionen betrifft die Art und Weise, wie Barrierefreiheit bewertet wird. Die bekannten Success Criteria (Erfolgskriterien) werden in dieser Form voraussichtlich nicht mehr bestehen bleiben. Stattdessen wird das Konzept der sogenannten Outcomes eingeführt.
Diese Outcomes konzentrieren sich stärker auf das Ergebnis einer Anforderung – also darauf, ob die Nutzerinnen und Nutzer tatsächlich erfolgreich mit einem digitalen Angebot interagieren können. Damit rückt die praktische Wirkung barrierefreier Gestaltung stärker in den Mittelpunkt als die rein formale Erfüllung einzelner technischer Vorgaben.
Mit der WCAG 3 wird es kein einfaches „bestanden“ oder „nicht bestanden“ mehr geben. Stattdessen ist ein abgestuftes Bewertungssystem vorgesehen.
Für jedes Outcome soll es eine Bewertungsmatrix geben, die beschreibt, wie gut die jeweilige Anforderung erfüllt ist. Zudem werden passende Testmethoden definiert, mit denen sich die Erfüllung objektiv messen lässt. Die Ergebnisse können dann auf einer Skala eingeordnet werden – ähnlich einer Punktbewertung.
Damit die Bewertung jedoch nicht zu einer reinen Zahlenspielerei wird, sieht das Konzept auch sogenannte kritische Fehler vor. Wenn ein solcher kritischer Fehler auftritt – etwa eine Tastaturfalle, die die Bedienung vollständig verhindert –, gilt die betreffende Anwendung als nicht barrierefrei, unabhängig davon, wie viele Punkte sie in anderen Bereichen erreicht. Das ist konsequent, weil bestimmte Barrieren die Nutzbarkeit insgesamt ausschließen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der WCAG 3 ist die stärkere Einbeziehung verschiedener Behinderungsformen und Interaktionsarten.
Während sich die bisherigen Richtlinien stark auf assistive Technologien für blinde Nutzerinnen und Nutzer konzentrierten, soll der neue Ansatz deutlich breiter gefasst sein.
Geplant ist, insbesondere kognitive Beeinträchtigungen und Neurodiversität stärker zu berücksichtigen. Auch neue Interaktionsformen – etwa Sprachsteuerung, Gesten- oder Augensteuerung – sollen in die Bewertung einfließen.
Darüber hinaus soll das Regelwerk auch auf immersive Technologien wie Virtual Reality (VR) und Extended Reality (XR) angewendet werden können. Wie das konkret umgesetzt werden soll, bleibt spannend – denn diese neuen Umgebungen stellen ganz eigene Anforderungen an Zugänglichkeit und Interaktion.
Neben der neuen Bewertungslogik wird sich mit der WCAG 3 auch das gesamte Konformitätsmodell grundlegend verändern. Bislang war es so, dass digitale Angebote anhand von drei Stufen bewertet wurden: A, AA und AAA.
Um ein bestimmtes Level zu erreichen, mussten jeweils alle Anforderungen der darunterliegenden Stufen erfüllt werden.
Das bedeutete: Wer AA-Konformität anstrebte, musste sowohl alle A- als auch alle AA-Kriterien erfüllen – und entsprechend für AAA alle drei Ebenen. Dieses System war klar, aber in der Praxis oft zu starr und schwer auf unterschiedliche Anwendungskontexte übertragbar.
In der WCAG 3 wird dieses stufenbasierte Modell voraussichtlich durch ein neues Bewertungssystem ersetzt. Statt A, AA und AAA ist künftig von den Stufen Bronze, Silber und Gold die Rede.
Die Bewertungen basieren auf den bereits erwähnten Outcomes und der dazugehörigen Punktebewertung.
Die einzelnen Ergebnisse werden zu einem Gesamtwert zusammengeführt, wobei die verschiedenen Bereiche unterschiedlich gewichtet werden.
So entsteht ein differenzierteres und zugleich flexibleres Bild davon, wie barrierefrei ein Produkt tatsächlich ist.
In etwa entspricht das Verhältnis den bisherigen Stufen:
• Bronze steht ungefähr für das heutige Level A,
• Silber für AA,
• Gold für AAA.
Allerdings ist das neue System nicht einfach eine direkte Übersetzung, sondern eine grundlegend neue Denkweise. Es soll besser abbilden, wie vielfältig digitale Barrierefreiheit in der Praxis sein kann – und wie unterschiedlich die Anforderungen je nach Anwendung, Technologie oder Zielgruppe sind.
Ein weiterer spannender Punkt ist, dass sich der Anwendungsbereich der neuen Richtlinien deutlich erweitert.
Die Entwicklung der WCAG 3 ist ein komplexer und langwieriger Prozess. Das W3C veröffentlicht regelmäßig neue Working Drafts, also Arbeitsentwürfe, in denen die jeweils aktuellen Überlegungen und Ergebnisse zusammengefasst werden. Diese Entwürfe sind öffentlich einsehbar und können kommentiert werden.
Angesichts der grundlegenden Veränderungen – vom Bewertungssystem über das Konformitätsmodell bis hin zur Einbeziehung neuer Technologien – ist absehbar, dass es noch einige Zeit dauern wird, bis eine stabile Version vorliegt. Mit einer offiziellen Veröffentlichung ist in den nächsten ein bis zwei Jahren eher nicht zu rechnen.
Was sich schon jetzt abzeichnet: Die WCAG 3 wird ein großer Schritt nach vorn sein – ein Rahmenwerk, das das Verständnis und die praktische Umsetzung digitaler Barrierefreiheit nachhaltig verändern dürfte. Allerdings ist derzeit nicht damit zu rechnen, dass sie in naher Zukunft fertiggestellt wird.
Für alle, die nicht täglich mit Barrierefreiheit arbeiten, besteht aktuell kein dringender Handlungsbedarf, sich intensiv mit der WCAG 3 zu beschäftigen. Die Entwürfe befinden sich noch in einem sehr frühen Stadium und können sich bis zur endgültigen Version erheblich verändern.
Ein Beispiel dafür ist das APCA-Kontrastmodell (Advanced Perceptual Contrast Algorithm), das derzeit diskutiert wird. Ob und in welcher Form es tatsächlich in die WCAG 3 integriert wird, ist bislang völlig offen. Es lohnt sich daher, die Entwicklungen im Blick zu behalten – aber noch nicht, bestehende Prozesse oder Prüfmethoden umzustellen.
Selbst wenn man optimistisch annimmt, dass die WCAG 3 etwa im Jahr 2028 veröffentlicht werden könnte – was keineswegs sicher ist –, würde das noch längst nicht bedeuten, dass sie unmittelbar verbindlich wird.
Die bisherigen Versionen (2.0, 2.1 und 2.2) werden weiterhin bestehen bleiben und auch parallel angewendet. Das liegt vor allem daran, dass Gesetze und Verordnungen in der Regel auf eine konkrete WCAG-Version Bezug nehmen – und nicht automatisch auf die jeweils aktuellste Version.
So gilt beispielsweise in vielen Ländern noch immer die WCAG 2.0 als offizieller Standard, während die Europäische Union in ihrer Norm EN 301 549 aktuell auf die WCAG 2.1 verweist – obwohl die Version 2.2 bereits seit rund zwei Jahren veröffentlicht ist. Das zeigt, wie langwierig solche Anpassungsprozesse sind.
Nach der Veröffentlichung der WCAG 3 wird es also zunächst eine Übergangsphase geben, in der die älteren Versionen weiter gültig bleiben.
Erst danach erfolgt die Integration in nationale Regelwerke, etwa:
• in den USA über Section 508 und den Americans with Disabilities Act (ADA),
• in der Europäischen Union über die bereits erwähnte EN 301 549,
• und anschließend in die jeweiligen nationalen Gesetze der Mitgliedstaaten. Dieser gesamte Prozess wird mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Erst dann wird die WCAG 3 in der Praxis eine spürbare Rolle spielen.
Kurz gesagt: Die WCAG 3 ist ein ambitioniertes Vorhaben, das die digitale Barrierefreiheit umfassender, moderner und praxisnäher gestalten soll. Doch bis sie tatsächlich verbindlich wird, bleibt noch viel Zeit.
Wer sich heute an der WCAG 2.1 oder 2.2 orientiert, ist also weiterhin auf der sicheren Seite – und kann die Entwicklungen der WCAG 3 mit Interesse, aber ohne Eile verfolgen.

Umsetzung in Deutschland und Ausblick

In Deutschland ist die EN 301 549 direkt in die nationalen Gesetze zur digitalen Barrierefreiheit referenziert. Das bedeutet: Sobald die EN aktualisiert wird, gilt auch die neue Fassung automatisch als verbindlicher Standard.
Voraussichtlich wird die nächste Aktualisierung der EN 301 549 im Jahr 2026 erfolgen – dann wird auch die WCAG 2.2 offiziell integriert und damit in Deutschland rechtsverbindlich.
Sollte die EN eines Tages die WCAG 3 aufnehmen, würde diese ebenfalls automatisch zum rechtlichen Rahmen für digitale Barrierefreiheit in Deutschland werden. In der Praxis wird es jedoch auch dann Übergangsfristen geben.
Die EN 301 549 deckt zahlreiche Bereiche ab – von Hardware (Kapitel 8) über Apps (Kapitel 11) bis hin zu Telekommunikation und weiteren digitalen Diensten.
Wie sich die künftige WCAG 3 in diese bestehende Struktur einfügen lässt, ist derzeit noch völlig offen.
Im ungünstigsten Fall müsste der gesamte Standard überarbeitet werden, um das neue Konzept der WCAG 3 vollständig zu integrieren.
Ein solcher Prozess würde mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Selbst danach ist mit zusätzlichen Übergangsfristen zu rechnen – möglicherweise bis zu fünf Jahre für alle Stellen, die zur Barrierefreiheit verpflichtet sind.
Angesichts dessen ist es realistisch, dass die vollständige Einführung der WCAG 3 in Deutschland – inklusive gesetzlicher Verankerung und Übergangsfristen – erst in den 2030er-Jahren, vielleicht sogar zwischen 2035 und 2040, abgeschlossen sein wird.

Fazit

Wie schon eingangs gesagt: Für die meisten Organisationen besteht derzeit kein unmittelbarer Handlungsbedarf, sich intensiv mit der WCAG 3 auseinanderzusetzen.
Die aktuelle WCAG 2.1 und künftig 2.2 bleiben noch auf viele Jahre die maßgeblichen Standards.
Es lohnt sich jedoch, die Entwicklungen aufmerksam zu verfolgen – denn die WCAG 3 wird langfristig die Grundlage für ein neues, umfassenderes Verständnis digitaler Barrierefreiheit bilden.