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Forderung nach Barrierefreiheit als moralisch-philosophisches Problem


In dieser Betrachtung geht es um die Frage, ob die Forderung nach Barrierefreiheit legitim ist – verstanden als ein moralisch-philosophisches Problem. Der Ausgangspunkt ist die alltägliche Praxis, dass Menschen und Organisationen von Anbietern digitaler Angebote erwarten, dass deren Websites, Apps oder Plattformen barrierefrei zugänglich sind. Daraus ergibt sich die grundlegende Fragestellung: Sind wir moralisch und philosophisch legitimiert, eine solche Forderung zu stellen?

Zusammenfassung – TLDR

Der Text diskutiert die Frage, ob die Forderung nach digitaler Barrierefreiheit moralisch und philosophisch legitim ist. Grundsätzlich gilt eine individuelle Forderung als legitim, wenn sie sachlich begründet und respektvoll formuliert ist. Sie richtet sich in der Regel von Einzelpersonen an Organisationen und ist insbesondere aufgrund des bestehenden Machtungleichgewichts gerechtfertigt: Betroffene sind auf die Angebote von Institutionen angewiesen, während diese die Mittel und Verantwortung haben, Barrierefreiheit umzusetzen.
Eine besondere Situation entsteht, wenn Accessibility Consultants Forderungen äußern. Sind sie selbst betroffen oder nah an Betroffenen, ist dies unproblematisch. Wenn sie jedoch gleichzeitig Dienstleistungen in diesem Bereich anbieten, kann der Verdacht wirtschaftlicher Eigeninteressen die moralische Legitimität schwächen.
Auf der Seite der Empfänger ist entscheidend, ob die Forderung zumutbar ist. Große Organisationen verfügen über Ressourcen und Fachwissen und können Barrierefreiheit daher realistisch gewährleisten, während kleine Akteure wie Handwerkerinnen, Ärztinnen oder private Websitebetreibende oft weder die finanziellen noch die technischen Möglichkeiten haben. Hier ist Zurückhaltung angebracht, während bei großen Unternehmen Forderungen nach Barrierefreiheit klar berechtigt sind.
Zur Bewertung zieht der Text philosophische Ansätze heran. Aus idealistischer Sicht, etwa bei Kant, gilt: Nur wer selbst barrierefreie Angebote schafft, darf dies auch von anderen verlangen. Ansonsten droht der Vorwurf der Doppelmoral. Der Utilitarismus dagegen stellt nicht die Konsistenz des Absenders, sondern den gesellschaftlichen Nutzen in den Mittelpunkt. Forderungen sind auch dann legitim, wenn der Absender selbst hinterherhinkt, solange sie insgesamt mehr Barrierefreiheit bewirken. Allerdings leidet die Glaubwürdigkeit, wenn Organisationen wie die Aktion Mensch oder der VdK andere öffentlich kritisieren, ohne die eigenen Angebote barrierefrei zu gestalten.
Ein zentrales Prinzip bleibt daher die Eigenverantwortung. Wer Barrierefreiheit fordert, sollte im Rahmen seiner Möglichkeiten selbst dafür sorgen. Vollständige Perfektion ist nicht erforderlich, aber ernsthafte Bemühungen sind unverzichtbar. Fehlt dies, geht Glaubwürdigkeit verloren und Forderungen wirken widersprüchlich. Insgesamt zeigt sich: Die Forderung nach Barrierefreiheit ist moralisch legitim, insbesondere gegenüber großen Institutionen, ihre Wirksamkeit hängt jedoch entscheidend von Eigenverantwortung, Zumutbarkeit und Glaubwürdigkeit derjenigen ab, die sie erheben.

Forderung und Geforderter

Die Perspektive des Absenders

Zunächst ist zu unterscheiden, von wem die Forderung ausgeht. Grundsätzlich lassen sich zwei Ausgangspunkte benennen:
1. Die Forderung wird von einem Individuum erhoben.
2. Sie geht von einer Organisation oder Institution aus.
Im Folgenden soll die erste Perspektive – das Individuum als Absender – im Vordergrund stehen.

Bedingungen für die Legitimität individueller Forderungen

Eine individuelle Forderung nach Barrierefreiheit ist in der Regel legitim, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind:
1. Sachliche Grundlage:
Die Forderung muss nach bestem Wissen und Gewissen gerechtfertigt sein. Wenn eine Person feststellt, dass eine Website nicht barrierefrei ist, darf sie dies anmerken, auch wenn sie keine Fachkenntnisse im Bereich digitaler Barrierefreiheit besitzt. Entscheidend ist, dass die Person mit guten Gründen annehmen kann, dass das Problem nicht bei ihr selbst liegt, sondern tatsächlich an der Website oder der App.
2. Respektvolle Form:
Die Forderung sollte in respektvoller Weise geäußert werden. Das bedeutet: Kritik richtet sich auf den Gegenstand (die Website, App etc.) und nicht auf die dahinterstehenden Personen. Schmähkritik ist deshalb problematisch, weil sie in aller Regel beleidigend wirkt und persönliche Angriffe enthält, statt den eigentlichen Sachverhalt in den Mittelpunkt zu stellen. Respekt bedeutet jedoch nicht zwingend die Einhaltung aller Höflichkeitsformen; vielmehr geht es darum, den Dialog sachlich, achtungsvoll und konstruktiv zu führen. Kritik darf durchaus pointiert und zugespitzt sein, weil sie ansonsten abperlt.

Individuelle Forderungen als moralisch gerechtfertigt

Individuelle Forderungen nach Barrierefreiheit sind somit fast immer moralisch legitim. Ein wesentlicher Grund dafür liegt darin, dass sie sich typischerweise von einer einzelnen Person an eine Organisation richten. Es handelt sich also nicht um eine persönliche Auseinandersetzung zwischen Individuen, sondern um die berechtigte Erwartung, dass Institutionen ihrer Verantwortung für Zugänglichkeit nachkommen.
Ein wesentlicher Aspekt bei der Frage nach der Legitimität von Forderungen nach Barrierefreiheit ist das Machtungleichgewicht zwischen Individuum und Organisation. Häufig besteht eine Abhängigkeit: Wenn eine Person beispielsweise einen Antrag stellen muss oder auf ein bestimmtes Produkt – etwa ein Medikament – angewiesen ist, befindet sie sich in einer Position, in der sie auf die jeweilige Organisation angewiesen ist. In solchen Fällen ist es moralisch gerechtfertigt, Forderungen nach Barrierefreiheit zu stellen, da die Organisation eine Verantwortung gegenüber den Betroffenen trägt.

Sonderfall: Accessibility Consultants

Eine besondere Konstellation ergibt sich, wenn die fordernde Person selbst als Accessibility Consultant tätig ist.
• Handelt es sich um eine betroffene Person (z. B. jemand mit einer Behinderung) oder um eine Person, die enge Bezüge zu Betroffenen hat, ist die Forderung legitim.
• Problematisch wird es jedoch, wenn die fordernde Person selbst Dienstleistungen im Bereich Barrierefreiheit anbietet. In diesem Fall kann der Verdacht entstehen, dass die Forderung nicht nur aus moralischen, sondern auch aus wirtschaftlichen Interessen erhoben wird.
Auch wenn selbstverständlich jeder Accessibility Consultant das Ziel haben kann und soll, dass möglichst viele Websites barrierefrei gestaltet sind, bleibt die Frage nach dem Eigeninteresse bestehen. Denn öffentliche Forderungen – etwa auf Plattformen wie X (ehemals Twitter) oder Facebook – können neben inhaltlicher Aufmerksamkeit auch Marketingeffekte erzeugen: mehr Reichweite, Likes, Shares und potenziell neue Kundinnen. Damit bewegt sich diese Form der Forderung in einem Graubereich der Legitimität, der differenziert betrachtet werden muss.

Die Perspektive des Empfängers

Neben dem Absender der Forderung ist auch der Empfänger entscheidend. Denn nicht jede Organisation oder Person ist gleichermaßen in der Lage, barrierefreie digitale Angebote bereitzustellen.
Während größere Institutionen über Fachwissen und Ressourcen verfügen (oder diese beschaffen können), gilt dies nicht unbedingt für kleine Einheiten oder Einzelpersonen. Beispiele sind:
• eine selbstständige Handwerkerin,
• eine Ärztin mit eigener Praxis,
• oder eine privat betriebene Website im Hobbybereich.
Hier stellt sich die Frage, ob es angemessen ist, dieselben Forderungen zu stellen wie an große Organisationen. Kleinere Akteure verfügen oft weder über das technische Wissen noch über die finanziellen Möglichkeiten, um umfassende Barrierefreiheit umzusetzen. Die moralische Bewertung einer Forderung muss also auch die Fähigkeit und Zumutbarkeit des Empfängers berücksichtigen.
Die Frage nach der Legitimität von Forderungen nach Barrierefreiheit ist auch eine Frage der Kosten. Bei kleineren Akteuren – etwa Einzelpersonen oder Kleinstunternehmen – kann es unverhältnismäßig sein, umfangreiche Investitionen zu verlangen. So kann die barrierefreie Anpassung einer Website mit einem Baukastensystem durchaus mehrere tausend Euro kosten. Für große Unternehmen mag dies eine verkraftbare Ausgabe darstellen, für Einzelunternehmer*innen oder Hobbybetreibende hingegen nicht. Hier ist Zurückhaltung geboten, während bei Organisationen mit ausreichender Größe und finanzieller Ausstattung die Forderung nach Barrierefreiheit grundsätzlich als zumutbar und damit berechtigt angesehen werden kann.

Philosophische Argumentationsmuster

Zur Beurteilung lassen sich klassische Argumentationsmuster der Philosophie heranziehen.

Idealismus

Besonders prägend ist der deutsche Idealismus des 19. Jahrhunderts, etwa durch Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel.
Kants kategorischer Imperativ – „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“ – liefert einen klaren ethischen Maßstab: Wer möchte, dass andere Menschen tugendhaft handeln, muss selbst entsprechend handeln. Übertragen auf Barrierefreiheit bedeutet dies: Wer fordert, dass andere ihre Websites barrierefrei gestalten, sollte auch die eigenen digitalen Angebote barrierefrei machen. Andernfalls entsteht ein Widerspruch, der als Doppelmoral oder Heuchelei zu bewerten wäre.

Unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten

Allerdings stößt diese Argumentation an Grenzen. Nicht jeder Adressat einer Forderung verfügt über die Mittel oder die Kenntnisse, Barrierefreiheit umzusetzen. Während Individuen in der Regel keine eigene Verantwortung für die Barrierefreiheit digitaler Angebote tragen, sind sie auf die Zugänglichkeit von Organisationen angewiesen. Das Machtverhältnis ist also asymmetrisch: Individuen benötigen barrierefreie Angebote, können diese aber nicht selbst schaffen, während Organisationen durchaus die Möglichkeit hätten, sie bereitzustellen. Daraus ergibt sich, dass die Forderung eines Individuums gegenüber einer Organisation moralisch legitim ist – selbst dann, wenn das Individuum selbst keine barrierefreien Strukturen anbieten kann.

Organisationen als Absender von Forderungen

Anders gestaltet sich die Lage, wenn eine Organisation selbst Forderungen an andere Organisationen richtet. Ein Beispiel hierfür sind regelmäßige Studien zur digitalen Barrierefreiheit, wie sie etwa von der Aktion Mensch durchgeführt werden. Solche Untersuchungen bewerten Online-Shops oder andere digitale Angebote im Hinblick auf Barrierefreiheit und veröffentlichen die Ergebnisse.
Dabei handelt es sich zwar nicht um eine direkte Forderung, aber um eine Form öffentlichen Drucks. Insbesondere wenn solche Studien regelmäßig erscheinen und immer wieder zeigen, dass sich kaum Verbesserungen ergeben haben, entsteht für die betroffenen Organisationen ein impliziter Erwartungsdruck. So etwa bei der jüngsten Studie im Sommer 2025: Trotz der seit Inkrafttreten des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes (BFSG) geltenden Vorgaben ließ sich darin keine grundlegende Verbesserung feststellen.
Bei der Bewertung öffentlicher Kritik stellt sich die Frage, ob es sich um eine legitime Forderung handelt oder ob ein „Pranger-Effekt“ entsteht. Wenn Organisationen wie die Aktion Mensch regelmäßig Studien zur Barrierefreiheit veröffentlichen und dabei den Vorwurf formulieren, dass sich bestimmte Online-Shops über Jahre hinweg nicht verbessert haben, liegt ein solcher Pranger-Effekt durchaus nahe. Der Vorwurf lautet implizit: Ihr hattet ausreichend Zeit, habt aber nichts getan.

Eigenverantwortung der fordernden Organisationen

Problematisch wird dieser Ansatz, wenn die fordernde Organisation selbst nicht in der Lage ist, die eigenen Angebote barrierefrei zu gestalten. Die Aktion Mensch betreibt beispielsweise selbst einen Online-Shop für ihre Lotterieprodukte und räumt in ihrer eigenen Barrierefreiheitserklärung ein, dass weder Website noch App vollständig barrierefrei sind.
Aus Sicht des deutschen Idealismus wäre dies ein Widerspruch. Der kategorische Imperativ verlangt, dass Forderungen nur dann legitim sind, wenn man sie auch selbst erfüllt. Übertragen auf den Fall bedeutet dies: Eine Organisation, die andere öffentlich auf mangelnde Barrierefreiheit hinweist, müsste zunächst ihre eigenen Angebote barrierefrei gestalten. Ansonsten besteht der Vorwurf der Doppelmoral.
Dies gilt nicht nur für die Aktion Mensch, sondern ebenso für andere wie den Sozialverband VdK. Auch dieser kritisiert regelmäßig fehlende Barrierefreiheit, ohne gleichzeitig sicherzustellen, dass die eigenen digitalen Angebote durchgehend barrierefrei sind.

Machtverhältnisse und Bekanntheit

Gleichzeitig muss die Größe und Reichweite der jeweiligen Akteure berücksichtigt werden. Während Konzerne wie Amazon oder MediaMarkt über weitaus größere finanzielle Ressourcen verfügen als die Aktion Mensch oder der VdK, besteht in Bezug auf die gesellschaftliche Bekanntheit durchaus ein Gleichgewicht. Die Aktion Mensch ist in Deutschland fast ebenso bekannt wie große Handelsunternehmen, sodass ihre Stimme vergleichbare Autorität entfaltet.
Insofern handelt es sich nicht um einen klassischen Fall von „David gegen Goliath“, sondern vielmehr um „Goliath gegen Goliath“. Die Kritik an kommerziellen Anbietern ist daher zwar legitim, kann aber zugleich an die Aktion Mensch zurückgespielt werden: Auch ihr müsst eure eigenen Angebote barrierefrei gestalten, wenn ihr diese Forderung an andere richtet.

Utilitarismus

Neben dem Idealismus lässt sich das Problem auch aus der Perspektive des Utilitarismus betrachten. Während der Idealismus vom moralischen Prinzip des Einzelnen ausgeht, richtet sich der Utilitarismus nach dem Nutzen für die Gesellschaft als Ganzes. Maßstab ist hier nicht die innere Konsistenz der Forderung, sondern die Frage, ob ihre Umsetzung das größtmögliche Wohl für die größtmögliche Zahl an Menschen hervorbringt.
Der Utilitarismus wurde im 18. und 19. Jahrhundert maßgeblich von Jeremy Bentham und John Stuart Mill geprägt und ist bis heute ein einflussreiches ethisches Modell. Ein prominenter zeitgenössischer Vertreter ist der australische Philosoph Peter Singer, der insbesondere in der Behindertenbewegung stark umstritten, aber zugleich sehr bekannt ist.
Im Unterschied zum Idealismus legt der Utilitarismus weniger Gewicht auf die moralische Konsistenz des Absenders einer Forderung, sondern auf deren gesellschaftlichen Nutzen. Entscheidend ist nicht, wer eine Forderung stellt oder ob die fordernde Person sich selbst daran hält, sondern ob durch die Forderung insgesamt ein größeres Wohl entsteht.
Ein klassisches Beispiel: Auch wenn eine Person selbst Taschendieb ist, kann ihre Forderung an andere, auf Taschendiebstahl zu verzichten, dennoch moralisch sinnvoll sein – vorausgesetzt, sie führt dazu, dass viele Menschen tatsächlich Diebstahl unterlassen. Der Nutzen für die Gesellschaft wäre in diesem Fall größer, als wenn die Person allein ihr Verhalten änderte.
Überträgt man diese Argumentation auf die Barrierefreiheit, könnte man sagen: Wenn Organisationen wie die Aktion Mensch oder der VdK öffentlich fordern, dass Websites barrierefrei gestaltet werden, hat das möglicherweise eine starke Wirkung. Selbst wenn diese Organisationen ihre eigenen Angebote nicht vollständig barrierefrei gestaltet haben, könnten ihre Appelle dazu beitragen, dass zahlreiche andere Anbieter Barrierefreiheit umsetzen. Der gesellschaftliche Nutzen wäre in diesem Fall größer, als wenn lediglich die Aktion Mensch ihren eigenen Online-Shop barrierefrei machen würde.
Allerdings stößt diese Argumentation an Grenzen. Denn Forderungen entfalten ihre Wirkung nicht nur inhaltlich, sondern auch über die Glaubwürdigkeit des Absenders. Wenn eine Organisation Barrierefreiheit von anderen verlangt, aber selbst über Jahre hinweg nicht in der Lage war, ihre eigenen digitalen Angebote entsprechend zu gestalten, obwohl sie die Mittel dazu hat, verliert sie moralische Autorität. Die Aktion Mensch gibt zusätzlich ein schlechtes Vorbild durch den Einsatz eines Accessibility Overlays und die Förderung von Accessibility Overlays bei Anderen ab. Sie zeigt damit das eigene geringe Verständnis von digitaler Barrierefreiheit und untergräbt damit die eigene Glaubwürdigkeit. Viele Anbieter von Accessibility Overlays betätigen sich als Bullys in der digitalen Barrierefreiheit: Sie schüchtern Kritikerinnen mit rechtlichen Mitteln ein, geben falsche Versprechen und setzen mögliche Kunden unter Druck. Der Aktion Mensch ist das bekannt, dennoch fördert sie solche Anbieter und macht sich damit mit deren Methoden gemein.
Dies führt zu einem Dilemma:
• Nutzenargument (utilitaristisch): Der öffentliche Druck erzeugt mehr Barrierefreiheit in der Breite, als wenn die Organisation allein vorbildlich wäre.
• Glaubwürdigkeitsproblem (praktisch-ethisch): Je länger die Organisation selbst hinter den eigenen Ansprüchen zurückbleibt, desto mehr leidet ihre Autorität – und damit letztlich auch die Wirksamkeit der Forderung.
Amazon könnte zu Recht fragen: Warum prüft ihr uns statt selbst mal in die Puschen zu kommen?
Der Utilitarismus bietet hier keine abschließende Lösung. Er kann begründen, warum eine Forderung trotz inkonsistenten Absenders legitim sein kann, blendet jedoch die Frage nach Glaubwürdigkeit und langfristiger Wirksamkeit weitgehend aus.

Eigen-Verantwortung als Grundprinzip

Ein zentrales Prinzip, das sowohl aus idealistischer als auch aus utilitaristischer Perspektive gilt, ist die Eigenverantwortung: Bevor man Forderungen an andere stellt, muss man selbst im Rahmen der eigenen Möglichkeiten für Barrierefreiheit sorgen.
Das bedeutet konkret:
• Man muss über die Ressourcen, das Wissen und die Zeit verfügen, um die eigene Website barrierefrei zu gestalten. Und man muss die Bereitschaft dazu nicht nur verbal ausdrücken, sondern auch wirklich umsetzen. Die Website muss ihm Rahmen der eigenen Möglichkeiten barrierefrei gestaltet werden.
• Erst wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist es ethisch vertretbar, andere auf fehlende Barrierefreiheit hinzuweisen.
Dieses Prinzip zeigt eine häufige Problematik in der Barrierefreiheitsszene auf: Kritik wird oft schnell geäußert, während man selbst nicht immer vorbildlich handelt. Dabei muss jedoch beachtet werden, dass ein Perfektionsanspruch unrealistisch ist. Niemand kann eine Website vollständig nach allen Richtlinien (z. B. WCAG) perfekt umsetzen. Entscheidend ist, dass man im Rahmen der eigenen Möglichkeiten das Bestmögliche tut. Kleinere Unzulänglichkeiten, wie fehlende Alternativtexte oder einzelne Label, sind ärgerlich, aber unvermeidbar.
Im Fall der Aktion Mensch zeigt sich die Herausforderung deutlich:
• Die Organisation hatte viele Jahre Zeit, ihre eigenen digitalen Angebote barrierefrei zu gestalten. Zweifellos verfügt sie auch über die finanziellen Mittel, um Barrierefreiheit umzusetzen.
• Aufgrund mangelnder Einsicht, fehlender Priorität in den Abteilungen oder des Marketings sowie der Geschäftsführung wurde diese Aufgabe bisher nicht umgesetzt. Weder der eigene hohe Anspruch an digitale Barrierefreiheit noch das BFSG haben hier einen entscheidenden anstoß bewirkt.
• Gleichzeitig veröffentlichte die Aktion Mensch Studien, die andere Anbieter öffentlich für fehlende Barrierefreiheit kritisieren.
Dieses Vorgehen ist problematisch, da die Glaubwürdigkeit der Organisation darunter leidet. Aus ethischer Sicht gilt: Wer selbst die Möglichkeiten hat, vorbildlich zu handeln, sollte dies tun, bevor er anderen Vorwürfe macht.
Für Accessibility-Consultants und andere Expert*innen bedeutet dies, dass man vorsichtig und reflektiert agieren sollte, insbesondere wenn man Forderungen öffentlich stellt. Die Botschaft sollte immer sachlich, respektvoll und im Bewusstsein der eigenen Handlungsfähigkeit vermittelt werden.