Warum die Wirtschaft von Barrierefreiheit profitiert

einkaufswagenDer European Accessibility Act verpflichtet Teile der Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit, darunter Banken, Buchverlage und Online-Shops. Ob die schon von ihrem Glück wissen?
Da unsere Wirtschaft von kurzfristigem Denken geprägt ist, sehen sie die Vorteile der Barrierefreiheit für sich nicht. Gerade deswegen sind Verpflichtungen sinnvoller als Freiwilligkeit. Das möchte ich in diesem Beitrag näher ausführen.

Das Kosten-Dilemma

Im Grunde würde der Staat der Privatwirtschaft einen Gefallen tun, wenn er sie zur Barrierefreiheit verpflichtet. Ich muss zur Erklärung ein wenig ausholen.
Barrierefreiheit ist natürlich ein Kostenfaktor – das lässt sich nicht leugnen. Die bestehende Infrastruktur muss umgebaut werden. Die Kosten sind teils recht hoch, vor allem, wenn es um Umbaumaßnahmen geht. Es gibt aber keine Verpflichtung, Einzelne müssten also vorpreschen und es umsetzen. Die Kosten dafür müssen auf die Produkte umgelegt werden, anders geht es ja in der Wirtschaft nicht. Wenn ich aber anfange und meine Konkurrenten nicht nachziehen, werden meine Produkte teurer. Die kostenbewussten Käufer gehen aber dorthin, wo die Produkte am billigsten sind. Diesbezüglich brauchen wir uns nichts vorzumachen, Barrierefreiheit ist real genau so wenig ein Attraktor wie Bio.
Wenn aber alle Barrierefreiheit umsetzen müssen, relativiert sich das Ganze. Alle Produkte werden ein wenig teurer, aber der nicht-barrierefreie Konkurrent hat keinen Kostenvorteil. Erforderlich sind dafür aber einheitliche Standards.
Klar ist aber auch: Ohne eine kräftige Förderung wird es nicht gehen. Kleinbetriebe wie Arztpraxen können die Kosten eines barrierefreien Umbaus kaum stämmen. Wenn es aber nur eine oder gar keine barrierefreie Arztpraxis gibt, schränkt das die Wahlfreiheit von gehbehinderten Menschen ein. Wobei Arztpraxis durch einen beliebigen anderen Begriff wie Arbeitsplatz, Apotheke oder Restaurant ersetzt werden kann. Und Gehbehinderte sind das anschaulichste Beispiel, wir können jede andere Behindertengruppe nehmen.

Der Vorteil für die Anbieter

Längerfristig betrachtet haben die Anbieter Vorteile, die auf Barrierefreiheit setzen. Der demografische Wandel ist oft thematisiert worden, aber die Folgen scheinen den Beteiligten nicht klar. Ein Großteil der Bevölkerung kommt in ein Alter, wo sie Einschränkungen in der Beweglichkeit, in den Sinneswahrnehmungen und in der kognitiven Verarbeitungsfähigkeit haben werden. Die Schwelle, wo das zu leichten Einschränkungen führt beginnt weit vor dem, was amtlich als Behinderung anerkannt wird. Diese Menschen werden Probleme haben, Produktbeschriftungen, Speisekarten oder Bedienungsanleitungen zu lesen. Die Beipackzettel von Medikamenten sahen ja schon immer so aus, als ob sie für die Lektüre durch Ameisen ausgelegt waren, irgedwann wird sie keiner mehr ohne Lupe lesen können.
Heißt konkret, auch wenn man keinen Rollstuhl oder Rollator braucht, wird man Probleme haben, eine Treppe hochzukommen. Im Zweifelsfall wird man also das Café vorziehen, wo man keine Treppe steigen muss und die Speisekarte ohne 200 Prozent Zoom lesen kann. Das gilt im übrigen auch, wenn man ansonsten noch relativ fit ist und längere treppenfreie Strecken problemlos laufen könnte.
Übrigens sind das – bei aller berechtigten Kritik an der Altersarmut – die Personen, die mehr Geld und mehr Freizeit haben als die hippen Jugendlichen und jungen Familien, die als bevorzugte Zielgruppe gelten. Teile der Tourismusbranche haben das zumindest schon erkannt.
Die Wirtschaft spürt das sicherlich auch schon, sie sind ja nicht dumm. Doch dürfte hier das Kostendilemma durchschlagen, das ich oben beschrieben habe. Leider taugen Apple und Co. hier nicht als Beispiel. Sie spielen gewinn- und umsatzmäßig in der höchsten Liga.
Ein schönes Beispiel in der Corona-Krise: Diegitale Kommunikationslösungen fallen durch, wenn sie nicht barrierefrei sind. Dazu gehören die Platzhirschen Adobe Connect, GoToMeeting oder WebEx. Profitieren können Lösungen, die barrierefreier sind wie BigBlueButton, Zoom oder Teams.

Barrierefreiheit spart auf lange Sicht Geld

Der Wohnungsmarkt ist für gehbehinderte Menschen eine Katastrophe. Rollstuhlgeeignete Wohnungen müssen häufig bundesweit gesucht werden. Der Umbau einer bestehenden Wohnung ist wenn überhaupt möglich für eine Privatperson mit durchschnittlichem Einkommen kaum zu stämmen. Denken wir an Rollatoren, wird der Bedarf in den nächsten Jahren stark steigen. Wohnungen, die jetzt nicht barrierefrei sind müssen teuer nachgerüstet werden.
Krankenkassen und andere Träger stöhnen schon heute über die Kosten, die sie für Reha und Hilfsmittel übernehmen müssen. Wie wird das aber aussehen, wenn ein Viertel der Bevölkerung darauf angewiesen ist?
Anderes Beispiel: Es ist nicht recht nachvollziehbar, warum die neuen ICEs nicht mit schwellenlosen Zugängen oder integrierten Rampen versehen sind. Die Mobilitätszentrale ist zweifellos bemüht, doch schränkt sie am Ende des Tages die Wahlfreiheit und Flexibilität gehbehinderter Menschen auf eine Weise ein, die nicht tolerierbar ist.
Ich könnte auf diese Weise noch viele Beispiele aneinander reihen. Die Kosten durch mangelnde Barrierefreiheit sind enorm, nur dass sie heute im Wesentlichen nicht durch die Firmen, sondern durch den Staat und die Sozialversicherungen, also durch uns alle getragen werden. Wie ich oben gezeigt habe, wird das nicht mehr lange gut gehen, deshalb sollte der Staat einheitliche Vorschriften zur Barrierefreiheit schaffen.
Why Companies benefits from being accessible