Dieses Jahr habe ich meinen dritten Versuch mit Android als Blinder gestartet. Heißt, ich habe das Haupt-System gewechselt. In Betrieb habe ich immer beide Systeme, unter anderem, um Apps testen zu können.
Zunächst einmal ist dies hier kein objektiver Vergleich beider Systeme. Ich sehe ein Smartphone als Arbeitsgerät, nicht als Gadget oder Statussymbol. Ich habe mir alle iOS-Geräte gebraucht gekauft, weil mir die Preise trotz der zweifellos guten Leistungen von Apple übertrieben scheinen. Ich kann mich nicht entscheiden, ob mir Google mit seiner Datensammelei und der Verbreitung von Hass, Hetze und Verschwörungstheorien oder Apple mit seiner closed-Source-Politik unsympathischer ist. Leider ist Microsoft aus dem Rennen komplett ausgestiegen, ansonsten hätte das sehr spannend werden können. Insgesamt nerven die Konzerne mit ihrer PR für Barrierefreiheit, allerdings steckt bei Apple etwas dahinter, während Google vor allem PR und heiße Luft produziert.
Mein Fazit ist klar: iOS hat eindeutig die besseren Features für Blinde, sie sind sauberer implementiert und das Gesamtsystem funktioniert deutlich besser. Apple liegt mit seinen Smartphones Jahre vor Google. Würde ich Schulnoten verteilen, würde Apple eine 2 + und Google eine 4 minus erhalten.
Zugegeben habe ich iOS deutlich länger genutzt als Android. Talkback war bis zu Android 6 im Grunde unbrauchbar. Dadurch kenne ich das iPhone in jedem Fall besser als Android.
Blinde Android-Fans sagen, funktioniert alles. Es gibt eine gewisse Schönrederei, aber das kennen wir ja schon von den Applenutzern.
Mir persönlich ist meine Zeit aber zu schade, um sie mit dem Lesen von Handbüchern zu verschwenden. Und ich bin zu alt, mir hundert neue Gesten und Tastenkombinationen auswendig zu lernen.
Talkback geht irgendwie
Talkback stellt die wesentlichen Basis-Features eines mobilen Screenreaders bereit. Das Meiste funktioniert irgendwie, gerade die Google-eigenen und die Mainstream-Apps sind gut nutzbar.
Es ist allerdings unintuitiv. Ich habe relativ wenige Gesten bei Apple nachschlagen müssen. Bei Google habe ich bis heute nicht herausgefunden, wie man Text kopiert und einfügt oder Texte schnell und nicht buchstabenweise löscht.
Meine Vermutung ist, dass Google komplett aus dem Rennen ausgestiegen ist. Es gibt kaum neue Features seit Android 6, man konzentriert sich auf Bugfixes, aber auch das nicht effektiv. Beispiele gefällig?
- Es gibt keine Standard-Funktion, um Android bei der Erst-Einrichtung oder im laufenden Betrieb ein- und auszuschalten. Ja, man kann Android nach der Einrichtung auf die Lautstärke-Tasten legen, das geht aber nur, wenn man das einmal in den Einstellungen aktiviert hat.
- Es gibt Latenzen beim Scrollen in Chrome und in Apps, die offenbar Komponenten von Chrome verwenden. Scrollt man, macht Talkback eine mehrere Sekunden lange Denkpause, egal, wie komplex die Webseite ist. Im Firefox tritt das Problem nicht auf.
- Die Google Sprachausgabe spricht seit einiger Zeit keine Emojis mehr und spricht die Überschriften Englisch.
- Es gibt keine Standard-Geste für „Ab dem nächsten Element lesen“, ein Feature, dass man für Bücher oder Webseiten praktisch immer braucht.
- Die Funktion „Ab dem nächsten Element lesen“ funktioniert in alternativen Browsern wie dem Firefox nicht, stattdessen liest er einfach von oben an.
- Die Farbumkehr des Bildschirms wird im Stromsparmodus ausgeschaltet.
- Weder in Google Mail noch im Chrome-Browser kann man Telefonnummern einfach anklicken und anrufen wie bei iOS
In den Apps geht es weiter: So wird in WhatsApp in einem Gruppen-Chat oft nicht klar, wer was geschrieben hat. Bei vielen Webseiten in egal welchem Browser werden Überschriften nicht vorgelesen, etwa bei der Google-Suche oder bei Spiegel Online auf der Startseite. Bei Twitter wird sowohl der angezeigte Name als auch der Twitter-Name vorgelesen, bei mir also Domingos @domingos2, eine dieser Infos wäre vollkommen ausreichend, möchte man mehr als antworten, liken oder retweeten, muss man in den Tweet absteigen. In der Google-eigenen App Fit werden Informationen einer Tabelle in einer falschen Reihenfolge vorgelesen. Die Stimm-Aktivierung von Google Assist habe ich nach endlosem Rumprobieren nicht zum Laufen bekommen.
Ich kann solche Probleme endlos aneinandereihen. Es funktioniert, aber komfortabel ist was Anderes.
Am schlimmsten finde ich die Google Tastatur GBoard. Bei Apple fokussiert man den Buchstaben und wählt ihn durch Doppeltippen aus. Bei Android wird der Buchstaben bei Fokussieren und Loslassen geschrieben. Oft wird der Buchstabe neben dem ausgewählt, den man eigentlich tippen wollte. Oftmals löst man eine Aktion aus, obwohl man nur scrollen wollte.
Wir erinnern uns: Apple ist ein Hardware-Konzern mit einer Software-Schmiede, Google ist ein Software-Konzern mit einer Hardware-Sparte. Heißt, Google hätte mehr Entwicklungs-Kompetenz, die aber ganz offenbar nicht in die Barrierefreiheit für Blinde gesteckt wird.
Das ist aber nur ein Symptom. Ich habe hier den direkten Vergleich zwischen Android 6 und Android 10. Es sind so gut wie keine Features dazu gekommen. Bei Apple darf man sich bei einem ohnehin sehr ausgereiftem System jedes Jahr über neue Features freuen. Google scheint nicht einmal die Basis-Funktionen richtig zu pflegen. Zumindest gibt es jetzt eine Möglichkeit, Brailleschrift direkt über das Display einzugeben, ein Feature, dass iOS schon lange hat.
Völlig versagt hat Google im übrigen bei Smartwatches. Meines Wissens gibt es nur wenige Geräte, bei denen Talkback überhaupt funktioniert und das auch nur mit viel Gebastel.
Das gleiche Trauerspiel finden wir bei Android-Tablets. Zumindest bei den günstigen Geräten scheint Talkback nicht immer vorinstalliert zu sein. Bei meinem letzten Versuch wurde Talkback nach einer Sekunde beendet. Ich konnte das Gerät nicht selbständig einrichten und habe es deshalb zurückgeschickt.
Traurig ist, dass Google das Potential eines Open-Source-Systems nie ausgenutzt hat. Es ist zum Beispiel nicht ersichtlich, warum es keine Erweiterungs-Möglichkeiten gibt. Könte man Erweiterungen für Talkback schreiben oder es mit der Sprachsteuerung von Google verknüpfen, wären unglaubliche Dinge machbar. Mir scheint aber, dass Google mit seiner 4 minus zufrieden ist.
Im Endeffekt benutze ich auf dem Android fast ausschließlich native Apps. Zum Surfen im Browser greife ich lieber zum iPhone.
VoiceOver
Über VoiceOver muss man nicht so viele Worte verlieren. Es funktioniert einfach sauber, bekommt regelmäßig neue Features und man hat nicht wie bei Talkback das Gefühl, das hier irgendwas zusammengefrickelt wurde. Es gibt Bugs, die Jahre mitgeschleppt werden und letztes Jahr gab es größere Probleme bei einem großen Update. Allerdings war nichts davon so schwerwiegend, dass man jetzt unbedingt wechseln müsste.
Ist VoiceOver besser als Talkback?
Besser oder schlechter ist im Zusammenhang mit komplexer Software selten eine sinnvolle Kategorie. Ist Frankreich besser als Italien? Ist Jupiter besser als der Mars? Sinnfreie Fragen, die am Ende Geschmackssache sind. Wie gesagt verwende ich nach wie vor Android als Hauptsystem. Es funktioniert also, aber der Wow-Effekt stellt sich nicht ein.
Eindeutig messen lässt sich die Zahl der Konfigurationsmöglichkeiten: Sie sind bei VoiceOver wesentlich zahlreicher. Es gibt mehr Stimmen zur Auswahl, mehr Möglichkeiten der Braille-Konfiguration uvm.
Nächste Frage: Würde ich einem Blinden Android oder iOS empfehlen? Auch hier keine eindeutige Antwort. Jemandem, der nicht fit in Technik ist oder keine Erfahrung hat und allen Vollblinden würde ich eindeutig ein iOS-Gerät empfehlen. Bei einem Sehrestler wäre die Entscheidung schwieriger.
VoiceOver ist eindeutig die Referenz, was mobile Screenreader angeht. Natürlich gibt es – wie bei allen komplexen Systemen – Luft nach oben. Allerdings ist bei Android deutlich mehr Luft als bei iOS.
Mit iOS 14 ist die Frage aber meines Erachtens endgültig entschieden: iOS ist für Blinde besser als Android. iOS hat zahlreiche Alleinstellungsmerkmale, Android hat keines.