Digitale Barrierefreiheit – Die Herausforderung sind die Nicht-Technik-Affinen

In der digitalen Barrierefreiheit neigen wir oft zu Pauschalisierungen. Wir sagen X ist blind, also könnte X dieses Problem haben, Y ist querschnitts-gelähmt, könnte also diese Probleme haben. Die Wirklichkeit ist allerdings komplexer und ignoriert die tatsächlichen Probleme. Die Spaltung verläuft nach meiner Meinung nicht zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten, sondern zwischen technisch Fitten und Unfitten. Leider haben wir zumindest in Deutschland keinen eleganteren Begriff dafür als Technik-Affinität.

Technik-Affinität der Gruppen

Grob kann man die Personen in vier Gruppen einteilen:

  • Die Super-Fitten: Das sind Leute, die über zumindest rudimentäre Skripting-Fähigkeiten verfügen und so gut wie jedes Problem lösen können, auf welches sie treffen. Das ist eine relativ kleine Gruppe.
  • Die technisch Fitten – dazu zähle ich mich – die durch einen Mix aus Erfahrungen und Strategien gelernt haben, mit Problemen umzugehen. Bis auf grafische CAPTCHA’s fällt mir wenig ein, was man nicht irgendwie umgehen kann.
  • Die technisch Bewanderten können grundlegende Aufgaben bewältigen, solange die Anwendungen relativ barrierefrei sind: Nachrichten lesen und schreiben, online bestellen, Überweisungen erledigen und so weiter. Sie scheitern an komplexeren Anforderungen wie etwa einem nicht-barrierefreien PDF oder einem komplexeren Web-Formular sowie an Web-Anwendungen.
  • Die technisch Unfitten können nur rudimentäre oder gar keine digitalen Aufgaben erledigen. Ggf. können sie noch mit Alexa arbeiten, wenn das jemand für sie einrichtet oder WhatsApp-Nachrichten nutzen, das war es aber auch.

Das ist eine sehr schematische Darstellung: Jede Gruppe ließe sich viel feiner aufgliedern. Das Problem besteht darin, dass wir keine geeigneten Daten haben, um die Gruppen zu quantifizieren. Aus meiner Erfahrung heraus würde ich die meisten behinderten und älteren Menschen den letzteren beiden Gruppen zuordnen. Da Gruppe Nr. 4 praktisch keinen Zugang zur digitalen Technik hat, kriegen wir von ihnen gar nichts mit. Für uns Digital-Fuzzis könnten sie ebenso gut in einem fernen Land leben. Sie schreiben keine Blogs, kennen weder Twitter noch X und LinkedIn ist für sie so fern wie der Mond.

Nun neigen wir dazu, diese Probleme eher Seniorinnen unterzuschieben. Da ist sicher was dran. Vor allem Personen, die längere Zeit in Rente sind hatten bisher kaum Berührung mit digitaler Technik und brauchen das vielleicht auch nicht mehr. Aber auch das ist zu schematisch: Es ist eben kein reines Altersproblem.

Während „Irgendwie kriege ich das hin“ früher noch okay war, wird es heute zum Problem: Banken-Filialen verschwinden oder analoge Dienstleistungen werden kostenpflichtig, gedruckte Fahrpläne verschwinden, viele Leistungen von Behörden sollen digitalisiert werden und stehen dann eventuell gar nicht mehr digital zur Verfügung. Und selbst wenn die analoge Welt bestehen bleibt, ist es nicht viel angenehmer, vieles digital zu machen, insbesondere wenn man auf dem Land mit schlechter analoger Infrastruktur lebt?

Konformität spielt eine untergeordnete Rolle

Für diese Gruppen ist nach meiner Einschätzung das Thema Usability wichtiger als 100% Konformität. Häufig gibt es das Mißverständnis, dass 100 % ein erstrebenswertes Ziel sei. Bisher konnte mir aber niemand schlüssig darlegen, dass 80 Prozent Konformität nur 4/5 so hilfreich ist wie 100 Prozent. Gewiss, wenn bestimmte Kriterien wie die Tastatur-Bedienbarkeit nicht erfüllt sind, sind bestimmte Gruppen ausgeschlossen. Allerdings sind nicht alle A-Kriterien oder alle AA-kriterien miteinander gleichwertig.

Das Konformitäts-Bingo spielt wie gesagt in der Praxis für diese Menschen keine Rolle: Ob 80 oder 100 Prozent Konformität, diese Personen kommen nicht zurecht und wir – damit meine ich die Barrierefreiheits-Profis – ignorieren diesen Umstand.

Was tun

Um ehrlich zu sein habe ich die Idee, dass wir das über Barrierefreiheits-Guidelines oder Usability-Heuristiken abdecken können mittlerweile aufgegeben. Wenn einige kluge Leute viel Arbeit reinstecken und dabei die WCAG als Minimal-Konsens herauskommt, dann wird das Problem auch nicht mit der x-ten Überarbeitung dieser Guidelines gelöst. Das World Wide Web ist fast 30 Jahre alt, wir reden seit sehr langer Zeit über Patterns, Ergonomie und Usability und es kommt immer noch massenhaft schlechte Software und Websites heraus. Diesbezüglich scheinen einige Leute lern-unwillig zu sein. Wenn Gedanken töten könnten, wären die Beteiligte an Software-Projekten bereits ausgestorben.

Ich hoffe tatsächlich auf intelligente Assistenten, welche die Oberfläche analysieren und die Nutzerin gezielt dabei unterstützen, eine bestimmte Aufgabe zu erledigen.

Bis dahin muss man an verschiedenen Stell-Schrauben arbeiten:

  • Software und Websites müssen besser werden: Einfachheit, Erwartungs-Konformität und Fehler-Toleranz sind hierbei drei Stichworte.
  • Die Betroffenen müssen besser geschult werden, sowohl im IT-Umgang allgemein als auch im Umgang mit assistiven Technologien.
  • Methoden der QS wie ein brauchbares Feedback-System müssen etabliert werden. Bislang wird Feedback wenn überhaupt beachtet von den Verantwortlichen in der Ablage P verstaut. Wenn die QS verwendet würde, um häufige Pain Points zu finden, könnte sich in diesem Bereich viel tun. Dabei muss das Feedback so einfach wie möglich sein. Auch sehe ich hier gute Chancen für Analytics und automatisierte Analysen, also die automatisierte Testung sowie die Beobachtung einer großen Zahl von Nutzerinnen und der darauf basierenden Verbesserung.
  • Assistive Technologien müssen einfacher nutzbar sein. Mobile Screenreader waren der erste Schritt, aber da geht meines Erachtens noch mehr.

Wir Barrierefreiheits-Profis müssen dieses Thema aber mehr ansprechen. Erhebungen wie die von WebAIM suggerieren, alles werde gut sein, wenn alles konform mit der WCAG 2.x AA ist. Das ist nicht der Fall.