Mit behinderten Menschen gestalten

Beim Co-Design, Design-Thinking und ähnlichen Konzepten geht es darum, Angebote gemeinsam mit der Zielgruppe zu entwickeln. Leider haben sich solche Konzepte zumindest im Zusammenhang mit Behinderung in Deutschland bisher nicht durchgesetzt.

Das Problem

Das Kernproblem dürfte sein, dass die klassischen Hilfsmittelhersteller nicht die Behinderten, sondern die Kostenträger als Kunden ansehen. Für viele Produkte wie für Screenreader übernimmt normalerweise die Krankenkasse, die Arbeitsagentur oder die Rentenkasse die Kosten. Denen ist relativ egal, welche Qualität die Hilfsmittel haben, sie müssen ja nicht damit arbeiten. Den Hilfsmittelherstellern wiederum ist es relativ egal, was die Kunden wollen könnten. Auf dem Markt für Screenreader zum Beispiel gab es lange Zeit ein Quasi-Monopol von Freedom Scientific, dem Entwickler von Jaws. Jaws hatte immer so seine Macken, war aber im Großen und Ganzen ein brauchbares Produkt. Kein anderes Programm hat so viele Büroprogramme so gut unterstützt.
Aber irgendwann haben sie den Kontakt zum Kunden verloren. Das Programm ist immer weiter aufgeblasen worden, es wurden immer mehr Features implementiert, die von kaum einem Nutzer gebraucht werden, aber niemand hat an der Stabilität gearbeitet.
Es ist daher nicht überraschend, dass Window Eyes, NVDA oder VoiceOver Jaws zumindest im privaten Bereich den Rang ablaufen. NVDA und der Linux-Screenreader Orca sind Community-Projekte, die schnell, stabil und einfach sind. Window Eyes hat eine vernünftige Update-Politik, Freedom Scientific ist das Apple unter den Hilfsmittelherstellern.
Ein ähnliches Problem dürfte Hersteller anderer Hilfsmittel ereignen. Die speziellen Navigationsgeräte Kapten oder Trekker Breeze werden massenhaft zum Wieder-Verkauf angeboten. Niemand möchte so ein teures, unflexibles Teil mit sich herumschleppen, wenn er für den gleichen Preis ein iPhone kaufen kann, dass zwar seine Einschränkungen bezüglich Genauigkeit hat, dafür aber die Möglichkeiten vieler einzelner Hilfsmittel in sich vereint.
Ohne Zweifel sind in die Entwicklung dieser Anwendungen Blinde beteiligt gewesen. Aber sie sind Angestellte des Unternehmens und ebenso betriebsblind wie die sehenden Kollegen. Es ist so, als ob man Informatiker einen Fahrkartenautomaten entwickeln lässt: es funktioniert alles einwandfrei, aber kein Außenstehender kann ihn bedienen.

Die Nutzer einbeziehen

Im Bereich Blindheit und Sehbehinderung haben die klassischen Hilfsmittelhersteller keine große Zukunft mehr, wenn sie nicht lernen, sich an die Wünsche der Nutzer anzupassen. Eine Möglichkeit ist das kooperative Design, wie ich s hier nennen möchte. Dabei geht es darum, die Nutzer so früh wie möglich in den Entwicklungsprozess von Dienstleistungen oder Produkten einzubeziehen.
In der Frühzeit der Produktentwicklung hat man einfach irgendwas gebastelt, von dem man glaubte, der Käufer würde es so nehmen. Es gab einen „Verkäufermarkt“, der Nutzer musste nehmen, was da war oder er hatte Pech gehabt.
Später kam der Käufermarkt: Die Nutzer hatten die Wahl zwischen verschiedenen Produkten. Die Unternehmen probierten ihre Produkte aus und nahmen sie vom Markt, wenn sie nicht ankamen. Das ist heute der Standard, tausende Produkte kommen jährlich auf den Markt und verschwinden fast immer ebenso unauffällig, wie sie gekommen sind.
Die nächste Phase dürfte darin bestehen, interessierte und engagierte potentielle Nutzer in den Entwicklungsprozess einzubeziehen. Das wird sicher nicht bei allen Produkten passieren, aber bei einigen bietet es sich doch an.
Dabei gibt es unterschiedliche Methoden, auf die ich im Detail nicht eingehen möchte, weil ich nicht wirklich tief im Thema bin.
Eine Möglichkeit ist das Prüfen von Prototypen durch eine ausgewählte Gruppe. Diese Fokusgruppe sollte mit einem Prototypen arbeiten, weil sie an einem konkreten Objekt besser feststellen kann, was ihnen gefällt oder nicht. Viele Erkenntnisse kann man auch gewinne, wenn man die Gruppe diskutieren lässt. Man benötigt einen Moderator, der mit viel Geschick die richtigen Fragen stellt, ohne die Gruppe in eine bestimmte Richtung zu manipulieren. Es gibt zum Beispiel in Berlin ein Projekt, bei dem Senioren Technik testen.
In der Regel bringt es wenig, die Nutzer zu fragen, was sie gerne hätten, die wissen das nicht. Sie reflektieren ihr Tun nicht ausreichend, um sinnvolle Aussagen dazu machen zu können. Deswegen ist das Beobachten der Menschen bei spezifischen Aktivitäten mit dem avisierten Produkt oder der Dienstleistung eine Möglichkeit des Co-Designs, natürlich nur mit deren Erlaubnis. Die Studentin Sarah Wölfel hat ein Kochgeschirr für blinde Menscheln entwickelt, wobei sie Blinde befragt und in der Küche beobachtet hat.
Das erinnert an den Usability-Check aus dem Webdesign, aber dieser Test setzt leider erst in einer relativ späten Phase an. Da wird nur geprüft, ob die Nutzer mit einem fast fertigen Produkt klarkommen und nicht, ob das da ist, was sie gebrauchen könnten.
Aus dem genannten Grund halte ich auch Fragebögen nicht für sinnvoll. Neulich habe ich mir aus Neugier einen ellenlangen Fragebogen des Blindenvereins DBSV zu Blinden–Navigationssystemen angesehen. Während einige Fragen sicher ihre Berechtigung hatten waren andere eher mäßig durchdacht. Ein Blinder, der sich noch nie von einem Navi hat leiten lassen weiß nur theoretisch, welche Funktionen er benötigen würde. Die Beobachtung von zehn navi-unerfahrenen Blinden bei der Nutzung eines bereits existierenden Navis wäre wesentlich erkenntnisreicher gewesen.
Ich denke, die Hilfsmittelhersteller würden sehr bald zu dem Ergebnis kommen, dass vor allem jüngere Blinde mehr Wert darauf legen, vernünftig aussehende Hilfsmittel zu erhalten. Die zweite Erkenntnis wäre, dass ein günstiger Preis wichtiger ist als alle möglichen Features. Es ist heute schwieriger denn je, auch nur einfache Hilfsmittel von der Krankenkasse zu erhalten, wir sind die Kunden, nicht sie. Das sollte das Mantra der Hilfsmittelhersteller werden. Meine Meinung über das Verhalten der Krankenkassen ist leider nicht jugendfrei, aber wir können leider nichts daran ändern.
Die dritte Erkenntnis, die heranreifen sollte ist das teure Hilfsmittel, die selten benötigt werden nicht mehr gekauft werden. Wenn man nur drei Mal im Jahr ein Navi braucht kann man genau so gut darauf verzichten. Warum nicht einen Verleihservice aufmachen, der die Geräte zeitweise verleiht und damit sein Geld verdient?

Gegenargumente

Es gibt zwei Gegenargumente, die gegen eine kooperative Gestaltung ins Feld geführt werden.
Zum Einen steigen die Kosten durch diesen Prozess. Es muss ein empirisch belastbares Verfahren entwickelt werden, um aussagekräftige Ergebnisse zu bekommen. Die Leute müssen eingeladen, befragt und die Ergebnisse ausgewertet werden.
Allerdings sind die Kosten für die Produktentwicklung generell hoch. Kein Außenstehender- weiß, wie viel es kostet, z.B. ein einfaches Gadget-Handy zu gestalten. Billig ist es sicher nicht und die Kosten für die beschriebenen Prozessschritte würden sicherlich nur einen geringen Anteil daran bilden.
Das zweite Argument ist, dass die Nutzer nicht wissen, was sie wollen. Das ist zwar richtig, aber wissen wir, was sie wollen und wenn ja, woher wissen wir das? Oder sagen wir ihnen, was sie wollen sollen? Ihr versteht mich schon, es geht darum, systematisch und unsuggestiv herauszufinden, was die Leute wollen und das lässt sich nur in einem dafür geeigneten Prozess bewerkstelligen.

Kunde oder Nicht-Kunde – das ist die Frage

Natürlich habe ich hier auf Beispiele aus dem Blindenwesen zurückgegriffen, weil ich mich da am besten auskenne. Aber ich denke, diese Erkenntnisse lassen sich auf andere Gerätschaften wie Hörgeräte oder Apparate zur Unterstützen Kommunikation übertragen. Man kann sich damit abfinden, dass sie teuer sind, man kann sich damit abfinden, dass sie die Möglichkeiten nicht ausreizen. Aber beides zu kombinieren, das geht zu weit.
Ich bin wenig zuversichtlich, was die Wandlungsfähigkeit unserer Hilfsmittelhersteller angeht. Solange die Gewinne sprudeln scheint es vollkommen egal zu sein, was die Behinderten wollen. Ich vermute eher – oder ich hoffe vielmehr – dass sich aus der Behindertenbewegung neue Unternehmen oder Community-Projekte entwickeln, die an den Alten vorbei eigene Projekte auf die Beine stellen. Ansätze dazu sind erkennbar, viele Apps stammen ja auch von Betroffenen selbst oder gehen auf Initiativen aus diesen Kreisen zurück.