Subjektivität und Motivation in der Usability

Spontan möchte man annehmen, dass die benutzerfreundlichste Lösung sich am Ende durchsetzt. das ist aber nicht immer so. In Wirklichkeit gibt es sehr viele Gründe, warum die Benutzerfreundlichkeit nicht konsequenter umgesetzt wird oder sich nicht durchsetzt.
Usability liegt oft im Auge des Betrachters, wie Jens Jacobsen es am Beispiel der Kommandozeile beschreibt:

Damit lassen sich in der Tat manche Aktionen sehr schnell durchführen, schneller als es mit grafischen Oberflächen möglich ist. Aber nicht zu vernachlässigen ist, dass dieses Können eine Auszeichnung ist und man sich damit von anderen abheben kann. Ist die Hürde zum Erlernen eines Systems hoch, kann das dazu führen, dass derjenige, der diese Hürde genommen hat, an dem System festhält. Dabei spielt das mit, was Psychologen „Kognitive Dissonanz“ nennen. Vereinfacht gesagt denken wir: „Was mich so viel Mühe gekostet hat, muss gut sein!“ – obwohl ihnen klar war, dass sie schwieriger zu bedienen sind. zitiert aus Jens Jacobsen. Website-Konzeption. Erfolgreiche Websites planen und umsetzen. Addison Wesley 2007, Seite 230

Viele der Ideen zu diesem Beitrag habe ich aus dem zitierten Beitrag von Jacobsen entnommen. Es gibt eine Reihe von ineinander greifenden Faktoren, die Usability verhindern können:

  1. Man ist gewohnt, mit einem bestimmten System zu arbeiten. Das ist ein Grund für das Scheitern von Windows Vista, das vom Aufbau her vollkommen anders ist als Windows XP. Einige Leute werden noch im Jahr 2020 Windows XP verwenden, Die Pirouetten des Bundesaußenministeriums von Linux zu Windows XP zu Windows 7 braucht man wohl nicht weiter zu kommentieren.
  2. Ein häufiges Argument ist, das eine bestehende Lösung funktioniert. In bestimmten Bereichen verwendet man seit Jahrzehnten die Programmiersprache Cobol, obwohl es moderne Sprachen gibt, mit denen sich leichter entwickeln lässt. Es sind aber auch vor allem die alteingesessenen Mitarbeiter, welche die Einführung neuer Systeme verhindern, weil sie die alten beherrschen. Das sind die gleichen Leute, die Faxe statt E-Mails schicken oder sich E-Mails von der Assistentin ausdrucken lassen.
  3. Man erlangt einen Expertenstatus. Wenn man der einzige Lokalhero ist, der das komplexe System bedienen kann, ist man der Guru. Wenn ein neues System eingeführt wird und auf einmal alle auf dem gleichen Stand sind büßt man seinen Status sehr bald ein.
  4. Benutzerfreundlichkeit ist nicht unbedingt zielführend: Nehmen wir die WYSIWYG-Editoren im Webdesign. Auf den ersten Blick sind sie praktisch. Wer aber den Code später ändern möchte erlebt einen Alptraum aus schlechtem Quellcode. Frontpage ist legendär für seinen schlechten HTML-Code. Dreamweaver hatte in der letzten Macromedia-Version eine wirklich grausame CSS-Implementierung. Wer seinen Code liebt, benutzt einen HTML-Editor oder einen einfachen Texteditor.
  5. Die Kostenfrage: Wer vor ein paar Jahren 100.000 Euro für ein Redaktionssystem ausgegeben hat, wird heute nicht auf bessere und günstigere Open-Source-Lösungen setzen. Diese Systeme sind zumindest für Redakteure wesentlich benutzerfreundlicher als alles, was ich bisher an kommerziellen Redaktionssystemen gesehen habe. Die Agenturen haben sich hier eine Goldgrube geschaffen, denn sie sind häufig die einzigen, die ihre Systeme warten, patchen und weiter entwickeln können und das sichert einen ständigen und zuverlässigen Geldfluss.

Einsteiger und Umsteiger

Manchmal hängt es auch nur am Clash der Generationen. Man hat es immer schon so gemacht, deswegen machen wir es so weiter. Das Beispiel Office 2007 kann da genügen. Niemand weiß wirklich, ob die alte Struktur, basierend auf Textmenüs und Icon-Leisten benutzerfreundlicher war als die Ribbon-Struktur.

Möglicherweise sind die Ribbons für Einsteiger einfacher als die Menüs, Microsoft wird vermutlich bei einem so wichtigen Produkt nicht irgendwas ohne User-Tests auf den Markt werfen. Wahrscheinlich.
Dennoch werden viele murrend auf die Ribbons umsteigen, sobald die alten Office-Versionen unter den neuen Windows-Versionen nicht mehr laufen. Und das obwohl mit LibreOffice eine leistungsfähige Alternative bereit steht. Der Umstieg von den Menüs von MS Office auf LibreOffice-Menüs dürfte einfacher sein als der Wechsel von Menüstruktur auf Ribbons. Das wird aber nicht passieren.
Das Gleiche gilt dann auch im Vergleich Linux vs. Windows vs. Mac. Der große Vorteil von Windows besteht darin, dass viele professionelle Programme dafür entwickelt wurden und viele Computerspiele existieren nur als Windows-Versionen. Abgesehen davon lassen sich alle Standardaufgaben, welche die meisten Nutzer erledigen müssen ebenso gut mit Ubuntu oder Knoppix erledigen. Ich hatte in einem anderen Posting den Denkfehler betrachtet, dass der große Vorteil von Linux-Systemen nicht darin besteht, dass Lizenzgebühren gespart werden, was auf lange Sicht hin stimmen mag. Ihr Vorteil liegt darin, dass die Systeme und Formate offen sind. Während man Microsoft-Dateiformate oft nach ein paar Jahren mit Microsoft-Produkten nicht mehr lesen kann, dürfte das Risiko bei Linux-Dateiformaten vergleichwweise gering sein. Das Open Document Format von LibreOffice basiert auf XML, welches mit jedem Texteditor, also auch mit einem 20 Jahre alten Computer gelesen werden kann.

Fazit

Usability ist oft nicht der entscheidende Faktor, ob ein bestimmtes Programm oder eine Website genutzt wird. Der wichtigste Faktor überhaupt scheint die Motivation zu sein. Viele Computerspiele zum Beispiel sind vom Lernaufwand relativ hoch. Früher hatte ich das Strategiespiel Civilisation von Sid Meier gespielt. Das Spielkonzept ist an sich recht kompliziert, wird aber während des Spielverlaufs quasi nebenbei erlernt. Um dieses Spiel zu beherrschen muss man durchaus einige Stunden investieren, aber die Motivation speist sich aus Spannung und Unterhaltung im Spiel. Ob ich so viel Zeit mit einem Programm verwenden würde, dass ich nicht unbedingt lernen muss?
Auch andere Anwendungen sind komplex. Facebook erfordert einen gewissen Lernaufwand, vor allem wenn man die Sicherheitseinstellungen verändern möchte.
Der Unterschied liegt hier klar in der Motivation. Da ich Spiel und Spaß haben möchte, merke ich quasi gar nicht, wie ich in einen Lernprozess einsteige.
Natürlich sollte man es vermeiden, den User in einen bewussten Lernprozess zu zwingen. Wer nicht bereit ist zu lernen, wird mit den meisten aktuellen Webanwendungen nicht zurecht kommen. Diese Mischung aus Subjektivität und Motivation wird unterschätzt, wenn neue Programme eingeführt werden. Sie muss strategisch mit eingeplant werden, wenn die Einführung nicht scheitern soll.

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