Kosten und Wert von Barrierefreiheit


Barrierefreiheit wird von vielen Akteuren als soziale Aufgabe angesehen. Außerhalb des öffentlichen Sektors sieht die Sache jedoch anders aus: Bei Wirtschaftsunternehmen und Nonprofits steht die Wirtschaftlichkeit im Vordergrund: Was kostet es und was bringt es uns? Diese Fragen sind durchaus legitim, vor allem, wenn hohe Investitionen notwendig sind. Außerdem wird man die Barrierefreiheit nicht bei erster Gelegenheit fallen lassen, wenn sie auch aus wirtschaftlicher Sicht geschätzt wird.
Deshalb möchte ich in diesem Beitrag die Indikatoren zeigen, an denen sich der Wert der Barrierefreiheit erkennen lässt.

Der finanzielle Wert

Kein Barrierefreiheits-Experte wird sich dazu versteigen, konkrete Zahlen zu nennen, was den Return on Investment von Barrierefreiheit angeht. Nehmen wir das Thema barrierefreies Banking. Die meisten Behinderten haben schon ein Bankkonto, mit dem sie irgendwie zurechtkommen. Wenn sie zurecht kommen, werden sie nicht massenhaft zu einer Bank wechseln, nur weil sie gerade ein barrierefreies Banking eingeführt hat. Es kann ja sein, dass der nächste Vorstand Barrierefreiheit für teuflisches Gutmenschentum hält und es wieder abschafft, weil es total unhübsch ist. Ein RoI kann sich hier bestenfalls in Jahren und vielleicht auch gar nicht ergeben.
Anders sieht es zum Beispiel bei Online-Shops aus. Sie scheinen sich allesamt gegen Behinderte verschworen zu haben, um möglichst behindertenungerecht zu werden. Ich kaufe meine nicht-verschreibungspflichtigen Medikamente online und kann sagen, dass die Online-Apotheken durch die Bank für Blinde schlecht zugänglich sind. Sie sind repräsentativ für Online-Shops: eBay ist ein reiner Alptraum, Amazon funktioniert recht gut, aber auch nur, wenn man sich an die zahlreichen Macken gewöhnt hat.
Eine Online-Apotheke, die für Behinderte und andere Menschen gut bedienbar ist, wäre ein echter Besuchermagnet, sobald sich das herumgesprochen hat. Behinderte, chronisch Kranke und ältere Menschen, die besonders auf Barrierefreiheit angewiesen sind kaufen auch überdurchschnittlich oft Medikamente. Da sie oft auch zu den Menschen mit geringem Einkommen gehören, sind sie auch stärker auf die günstigen Preise der Online-Apotheken angewiesen. Das gilt im Übrigen auch für andere Online-Shops. Behinderte sind im Durchschnitt weniger mobil und vor allem speziellere Produkte sind für sie kaum barrierefrei zu beziehen, weshalb sie oft auf das Internet ausweichen müssen.
Wenn also der Shop barrierefrei ist, die Konditionen sich im branchenüblichen Rahmen bewegen und das Angebot ausreichend bekannt ist, sollte einem angemessenen RoI nichts im Wege stehen. Wie hoch der sein wird, kann aber kein Mensch im Voraus sagen.
Analoges gilt auch für Online-Spendenverfahren. Es ist immer wieder erschreckend, wie schlecht zugänglich solche Verfahren sind. Für eine Spende, die ich bei betterplace.org gemacht habe, musste ich mir tatsächlich sehende Hilfe holen, was ich fast nie mache. Offenbar kommen die ohne mein Geld aus, allerdings sind andere auch große Organisationen, die praktisch nur von Spenden leben da auch nicht besser.

Reputation

Es gibt aber noch mehr als Geld. Der Ruf einer Organisation spielt ebenfalls eine wichtige Rolle.
Amazon hat sich zum Beispiel den Ruf erarbeitet, für Behinderte gut bedienbar zu sein. Außerdem sind die Preise auch von Drittanbietern zumeist moderat. Deshalb bestellen auch viele Behinderte bei Amazon, statt zum Beispiel direkt bei dem Anbieter, der seine Produkte auch bei Amazon anbietet. Apple gilt bei vielen Behinderten als erste Wahl, wenn es um bedien bare Geräte geht, obwohl Google und Microsoft viel an ihren Produkten gearbeitet haben.
Auf großen Märkten gibt es nur wenige Kriterien, anhand derer sich die Akteure differenzieren können. Die Produktqualität und die Dienstleistungen sind relativ gleich, daher ist Barrierefreiheit eine weitere Möglichkeit, sich vom Wettbewerber abzuheben. Wichtig ist dabei, dass die Barrierefreiheit entsprechend kommuniziert wird. Wenn mein Angebot barrierefrei ist und das niemand mitbekommt, sind meine Chancen, davon zu profitieren relativ gering.

Marktstrategie

Generell gibt es drei Marktpositionen, die ein Unternehmen anstreben kann: Die Marktführerschaft, die Qualitätsführerschaft oder die Marktnische.
Die Marktführerschaft bezieht sich darauf, einen möglichst großen Anteil am Markt zu haben. Die Qualitätsführerschaft heißt, dass man die besten Konditionen bieten möchte, man begnügt sich mit einem kleineren Marktanteil, kann aber deutlich höhere Margen einfahren. Bei Nischenmärkten versucht der Akteur, eine attraktive Nische zu finden, die für die großen Akteure nicht interessant ist.
Nehmen wir als Beispiel mobile Geräte. Apple strebt mit seiner iOS-Reihe die Qualitätsführerschaft an. Deswegen wird es vermutlich nie günstige Apple-Geräte geben, weil dieser Teil des Marktes nicht in Apples Strategie passt. Microsoft und Google streben die Marktführerschaft an, deswegen versucht Microsoft, Geräte in allen Preisklassen von billig bis Premium anzubieten. Da der Markt für Smartphones riesengroß ist, gibt es oft auch genügend Platz für Nischenanbieter, die Geräte mit speziellen Betriebssystemen oder Features anbieten.
Die Barrierefreiheit ist dabei vor allem für den Akteur wichtig, der die Qualitätsführerschaft anstrebt. Die Qualitätsführer schneiden häufig besser ab als die Marktführer. Für die Nischenanbieter ist aufgrund der geringen Marktdurchdringung die Barrierefreiheit hingegen uninteressant. Für den Marktführer sollte die Barrierefreiheit wichtig sein, um die Marktdurchdringung zu verbessern.
Der Qualitätsführer kann die Barrierefreiheit problemlos in seine Produkte einpreisen, ohne dass die Kunden abspringen werden, da seine Preise ohnehin hoch sind. Der Marktführer kann die höheren Preise auf eine größere Zahl von Produkten umlegen und muss die Preise wenn überhaupt nur moderat erhöhen.

Compliance

Compliance bedeutet grob gesagt die Einhaltung geltender Bestimmungen. Sie ist in Deutschland von besonderer Bedeutung aufgrund des restriktiven Wettbewerbsrechts. Es gehört zum Unternehmenssport, den Konkurrenten zu verklagen, weil er § 1670 (4) nicht erfüllt hat und das ein Wettbewerbsverstoß ist.
Dabei ist es aber nicht nur sinnvoll, geltende Bestimmungen einzuhalten, sondern auch zu schauen, welche Bestimmungen in Zukunft vielleicht gelten werden. Es ist relativ wahrscheinlich, dass die Europäische Union irgendwann Bestimmungen erlassen wird, die auch private Akteure zur Barrierefreiheit verpflichtet.
Da die Investitionen im Bereich Barrierefreiheit teils recht hoch sein können lohnt es sich, sie frühzeitig zu erfüllen oder mit anderen Maßnahmen zu kombinieren. Gebäude müssen so oder so instand gehalten werden, warum also nicht die Gelegenheit nutzen und das Gebäude frisch dämmen und nebenbei eine Rampe an die Treppe zu bauen? Die Toilette muss renoviert werden? Warum nicht zwei Kabinen zusammenführen und eine behindertengerechte Toilette einbauen? Die Website muss ohnehin Relaunch werden, dann kann sie auch barrierefrei gemacht werden.
Zwar sind viele ältere Menschen heute fitter als ihre Altersgenossen vor sagen wir 30 Jahren. Dennoch treten chronische Krankheiten häufiger auf, vor allem im Alter. Diese Angestellten haben und wollen zumeist auch ein Recht auf Rehabilitation. Wenn aber jemand Rückenbeschwerden oder Haltungsschäden hat, ist es ihm kaum noch zuzumuten, in den dritten Stock des Altbaus zu klettern.
Gehen wir einmal davon aus, dass das Durchschnittsalter der Mitarbeiter heute bei 50 liegt, dann werden viele dieser Menschen in den nächsten zehn Jahren in die Situation kommen, dass sie wegen gesundheitlicher Schäden nicht mehr dort arbeiten können, wo sie bisher tätig waren bzw. dass sie nicht mehr so arbeiten können, wie sie bisher gearbeitet haben. Das ist eine Seite des demographischen Wandels die bisher unter den Tisch fällt. Die Qualifikation der Leute bleibt, ihre Gesundheit nicht. Ich gehe davon aus, dass mittelalte wie ich noch bis ins hohe Alter arbeiten müssen, weil die Rentenkasse bis dahin privatisiert und unter das Grundsicherungs-Niveau gerutscht ist. Die Arbeitswelt von heute ist auf diese älteren Mitarbeiter nicht vorbereitet, wer frühzeitig Vorsorge trifft, kann sich diese Kohorte sichern.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (AGG). Das Gesetz fordert eine generelle Chancengleichheit für Menschen mit und ohne Behinderung, die bisher nicht geschaffen wurde. So sind viele Bewerberportale heute nicht barrierefrei. Theoretisch ist das ein Verstoß gegen das AGG, aber wo kein Kläger, da kein Recht.

Fazit

Der Wert von Barrierefreiheit lässt sich nur schwer messen. Dennoch gibt es einige Indikatoren, mit denen sich die Einführung von Barrierefreiheit auch wirtschaftlich begründen lässt.
Dabei ist es notwendig, langfristig zu denken. Die Zahl der Menschen nimmt ab, die behindert zur Welt kommt, aber es ist absehbar, dass die Zahl der Behinderungen im Alter zunehmen wird. Wer schon heute anfängt, sich darum zu kümmern, wird vielleicht mittelfristig, sicher aber langfristig profitieren.

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