Das Scheitern der Barrierefreiheits-Veteranen

Schild mit dem Text Goodbye

Die Stimmung in der Accessibility-Szene hat sich nach meiner Wahrnehmung in den letzten Jahren ins Negative gewandelt. Die latente Aggressivität, die wir sonst auch in der Gesellschaft finden hat sich auch in diesem Bereich verbreitet. Leider tragen auch einige Personen aus der internationalen Barrierefreiheits-Szene dazu bei.

Toxische Kommunikation

Gemeint sind nicht alle Profis. Ich habe von vielen Personen überwiegend konstruktive Beiträge gelesen. Ein Beispiel ist Eric Eggert, den ich als sehr sachlich erlebe, auch wenn ich die meisten seiner Einschätzungen nicht teile und es umgekehrt vermutlich auch so ist. Ich kann anderer Meinung sein, ohne jemanden persönlich anzugreifen.

Ich erkenne durchaus die Leistungen dieser Personen an und möchte nicht despektierlich erscheinen. Dennoch glaube ich, dass der Punkt überschritten ist, an dem man alles kommentarlos durchgehen lassen sollte. Die Kommunikation dieser Personen schadet auch der Barrierefreiheit. Da es ja überwiegend diese Personen sind, die auf Konferenzen reden und öffentlich mit dem Thema verbunden werden, haben sie eine große Verantwortung. Dieser Verantwortung werden sie nicht mehr gerecht.

  • Sie verfälschen und verengen den Diskurs, indem sie die Argumente kritischer Personen falsch oder verzerrt darstellen.
  • Sie schrecken Personen ab, die diesen Diskussionsstil nicht mögen oder es nicht wagen, sich kritisch dazu zu positionieren.
  • Sie schrecken Personen vom Thema digitale Barrierefreiheit ab. Warum soll man sich mit neuen, innovativen Ideen dort einbringen, wenn die Oldbies ohnehin alles blöd finden außer der WCAG?
  • Sie fördern die allgemeine Verdrossenheit durch ihre Negativität. Die Aussage, alles würde schlechter werden oder Politikerinnen würden nichts tun ist pauschalisierend und sachlich größtenteils falsch, wirkt aber demotivierend auf Leute, die in diesem Bereich arbeiten oder damit zu tun haben.

Leider ist es so, dass allgemein aggressive und negative Postings mehr Reichweite haben: Sie werden mehr geteilt, von den Algorithmen hochgespült, noch mehr verbreitet und so weiter. Wer nicht schimpft, sondern konstruktiv ist taucht in den Timelines nicht auf.

Es stimmt , dass ich auch viel schimpfe oder mich über bestimmte Dinge lustig mache. Allerdings bemühe ich mich immer, konstruktiv zu sein. Auch greife ich keine Einzelpersonen an oder versuche, ihre Integrität in Frage zu stellen. Man muss eine Person nicht niedermachen, weil man anderer Meinung ist als sie. Auch die Kritik behinderter Menschen möchte ich ausnehmen: Es ist oft frustrierend, wenn man auf Barrieren trifft. Auch hier gilt aber, dass man eine Institution kritisieren sollte, nicht Einzelpersonen und dass man immer versuchen sollte, sachlich zu bleiben.

Ich weiß, dass man viel davon hierzulande oder außerhalb der Accessibility Bubble gar nicht mitbekommt, deswegen lassen Sie mich drei Beispiele aus den letzten Monaten nennen:

  • Mike Paciello, Begründer der Paciello Group, hat zur Firma Audio Eye gewechselt. Audio Eye gehört zu den Accessibility-Overlay-Anbietern und ist deshalb viel kritisiert worden, ebenso wie Paciello wegen seiner Entscheidung, dort anzufangen. Nun kenne ich ihn nicht persönlich und möchte über seine Motive nicht urteilen. Man kann aber sicher sagen, dass er für Barrierefreiheit engagiert ist. Was er bei Audio Eye bewegen wird, wissen wir nicht, aber man sollte ihn nicht persönlich angreifen, wie man es in vielen Social Media-Kanälen gesehen hat.
  • Überhaupt die Overlay-Anbieter: Ja, viele von ihnen haben eine fragwürdige Strategie und die rechtlichen Schritte gegen ihre Kritikerinnen wirft auch kein gutes Licht auf sie. Es macht aber keinen Sinn, sie alle über einen Kamm zu scheren. Einige von ihnen scheinen wirklich ein Interesse an Barrierefreiheit zu haben. Sie pauschal als „Scamming Scammers“ (betrügerische Betrüger) zu bezeichnen, wie es Paul Adam auf Facebook getan hat, ist wenig konstruktiv. Wenn mal ein Vertreter eines solchen Anbieters etwas schreibt, wird er oder sie unabhängig von dem Inhalt häufig persönlich angegriffen. Die Overlay-Anbieter bieten genügend Angriffspunkte für eine sachliche Kritik.
  • Last but not least wäre die Diskussion um Jakob Nielsen, die ich hier ein wenig dargestellt habe. Adrian Roseli schreibt „Jakob has jumped the shark“, im Deutschen sinngemäß etwa „Jakob hat seinen Zenit überschritten“, in dem Artikel werden teils weitere Angriffe auf Nielsen geäußert, so wird er in die Nähe von Rechten gerückt, weil er auf Substack veröffentlicht. Ein anderer übertitelt seinen Beitrag „Shut up Jakob“, also „Halt die Klappe“. Ist das der Diskurs-Stil, den wir haben wollen? Die wenigsten Kritiken waren tatsächlich auf den Inhalt von Nielsens Beitrag bezogen, sondern haben sich an Nielsen und der Überschrift seines Beitrags abgearbeitet. Für die nüchterne Leserin ist klar, wer hier offensichtlich seinen Zenit überschritten hat. Eine selbstbewusste Szene hat solche Töne nicht nötig.

Gibt es keine Beispiele aus Deutschland, weil die Szene hierzulande konstruktiv ist? Nun ja, der deutsche Diskurs ist mausetot. Mit wenigen Ausnahmen kann ich mich an keinen lesenswerten Beitrag aus den letzten paar Jahren erinnern.

Der Ton macht die Musik

Natürlich darf jede Person alles kritisieren und die Kritik muss auch nicht immer sinnvoll sein. Aber sachlich und konstruktiv sollte sie schon sein. Nun steht es natürlich jedem frei, auch unsachliche und sogar beleidigende Kritik zu äußern, solange es im rechtlichen Rahmen bleibt. Was mich wundert ist allerdings, dass solche Beiträge so exzessiv geteilt werden, vermutlich auch wieder von Leuten, die nur Überschriften gelesen haben. Aber selbst das sollte reichen, um kritisch zu werden. Immerhin haben wir es mit gebildeten und qualifizierten Personen zu tun, die überwiegend privat vermutlich auch einen höflichen Umgangston pflegen.

Der leider bereits verstorbene schwedische Mediziner Hans Rosling hat die Motive gut zusammengefasst. Die Leute glauben, moralisch im Recht zu sein. Anschaulich wird das am Beispiel der Letzten Generation: Wenn man glaubt, die letzte Bastion vor der Klima-Apokalypse zu sein, scheint jedes Mittel gerechtfertigt, auch Nötigung und die Infrage-Stellung demokratischer Prozesse. Gleiches treibt dann auch die Gegner dieser Gruppen: Weil sie sich moralisch im Recht glauben, erscheinen Beschimpfungen und körperliche Übergriffe in deren Augen gerechtfertigt. Wenn man recht hat, ist alles erlaubt. Die Spanne zwischen moralisch im Recht und selbstgerecht ist sehr schmal. Das gleiche Phänomen sieht man auch bei einigen Barrierefreiheits-Profis, die vielleicht auch deshalb eine so große Reichweite haben. Wer was Gutes will und laut ist, muss ja irgendwie doch im Recht sein oder?

Das zweite Motiv könnte man mangels anderer Begriffe als „Beleidigtes-Leberwurst-Syndrom“ bezeichnen. Jahrzehntelang haben die WCAG-Nerds den Ton in der Barrierefreiheits-Diskussion angegeben. Behinderte Menschen wurden als Stichwort-Geber ab und zu geduldet, aber diese frechen Overlay-Anbieter, KI-Fuzzis und dann auch noch Nielsen, der scheinbar alles infrage stellt, was sie die letzten 25 Jahre gemacht haben – das war wohl zu viel. Wahrscheinlich hat Nielsen alleine mehr Reichweite als alle BF-Profis zusammen.

Bei einigen Leuten sehe ich aber auch einen lupenreinen Paternalismus gegenüber behinderten Menschen. Karl Marx liebte die Arbeiterschaft und verabscheute den Arbeiter als Indiduum. Viele BF-Profis liben die Barrierefreiheit und glauben, behinderte Menschen verteidigen zu müssen, die sich nach deren Ansicht nicht selbst verteidigen können. Bei vielen von ihnen insbesondere in Deutschland, aber auch global spüre ich diese leichte Herablassung, die man auch kleinen Kindern gegenüber an den Tag legt. Das sind wie gesagt bei weitem nicht alle, leider aber ein paar bekannte Namen, die man häufig auf Veranstaltungen sprechen lässt. Sie sind sich dessen oft nicht bewusst, aber man merkt es an ihren Äußerungen und ihrer Haltung. Aber sie würden es empört von sich weisen, wenn man sie darauf anspricht. Es ist zum Beispiel daran zu erkennen, dass kaum eine deutsche Agentur eine behinderte Person beschäftigt oder regelmäßig mit ihr zusammenarbeitet. Behinderte Menschen werden fast immer als Betroffene angesehen und sehr selten als Expertinnen behandelt. Deswegen äußere ich mich kaum noch in Online-Foren.

Viele glauben auch, überzogene Polemik könnte Argumente verstärken oder ersetzen, zu sehen bei der Kritik an Nielsen. Nielsens Kernthese, behinderte Menschen hätten trotz digitaler Barrierefreiheit eine schlechte User Experience hat keiner seiner Kritikerinnen inhaltlich aufgegriffen. Was unter anderem daran liegen dürfte, dass die meisten von ihnen keine Behinderung haben. Die meisten behinderten Menschen werden zumindest diese Aussage von Nielsen bestätigen. Ob seine Schlussfolgerungen korrekt sind, steht auf einem anderen Blatt.

Die letzte Motivation kommt von den Mitläufern: Sie teilen solche Beiträge, weil sie damit zeigen, dass sie auf der richtigen Seite stehen, wahrscheinlich aus einem schlechten Gewissen, weil sie selbst nichts für Barrierefreiheit oder behinderte Menschen tun. Erfahrungsgemäß haben sie die Beiträge nicht gelesen und die Diskussion überhaupt nicht verstanden. Mitläufer eben. Hier ein Like, da ein Share und schon hat man sein Karma-Konto wieder aufgefüllt.

Die nächste Generation ist schon am Start

Das Wort Generation hat wie es hier gemeint ist nichts mit Alter zu tun, es gibt da keinen eindeutigen Zusammenhang, junge Leute können einen Hang zum Katastrophismus haben wie die letzte Generation und ältere Menschen sind häufig sehr progressiv und konstruktiv. Mit Generation meine ich die Gruppe, die aktuell die Kommunikation dominiert, insbesondere auf Social Media und die sehr viel auf Konferenzen sprechen dürfen. Wenn ich mich mit anderen Leuten austausche, die nicht so stark im Rampenlicht stehen, sind sie häufig meiner Meinung. Viele sehen den harten Umgangston, die Larmoyanz , den Paternalismus, die Innovations-Feindlichkeit oder die WCAG-Zentrierung der alten Garde kritisch.

Aber auch hier zeigt sich der allgemeine soziale Trend einer Diversifizierung. Mir ist zum Beispiel erst auf LinkedIn aufgefallen, wie viele Personen indischer Herkunft im Thema aktiv sind. Es sind auch weit mehr als die Hälfte Frauen, die im Thema arbeiten, aber wir ziehen es vor, nicht-behinderten männlichen Westlern zuzuhören, als ob wir in den 80ern gefangen wären.

Wenn ich mir die Beiträge anschaue, die wir in den letzten Jahren über den Newsletter verbreitet haben, kommt da kaum einer der A11Y-Veteranen vor, einfach aus dem Grund, weil ich schon lange nichts mehr von ihnen gelesen habe, das irgendwie hilfreich oder nachdenkenswert wäre.

Wie ich öfter gesagt habe, ist die Zeit der Dominanz der Männer und nicht-behinderter Personen an der Spitze der Barrierefreiheit abgelaufen. Meine kleinen Nadelstiche sollen dabei helfen, dass dieser Prozess schneller vorangeht. Und auch Sie können dabei helfen, indem Sie mehr Partizipation behinderter Menschen, mehr Diversität in Teams und auf Veranstaltungen einfordern oder umsetzen, wenn das in Ihrer Macht liegt.

Sie sind anderer Meinung als ich? Das macht gar nichts, solange Sie mich dafür nicht persönlich angreifen.

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