Warum digitale Barrierefreiheit gescheitert ist

FehlerEin Nachtrag, da ich mehrfach darauf angesprochen wurde: Natürlich äußere ich in diesem Beitrag meine persönliche Meinung. Und natürlich halte ich mich immer an die gültigen, rechtlich verankerten Richtlinien, wenn es um Projekte für Dritte geht. Dass man gängigen Verfahren kritisch gegenüber steht heißt nicht, dass man sich nicht an sie halten muss.

Nach 15 Jahren im Bereich digitale Barrierefreiheit muss ich mir eingestehen, dass wir im Wesentlichen gescheitert sind. Während Behörden-Seiten mal mehr, mal weniger barrierefrei sind – BTW ist es manchmal unglaublich, wie schlecht viele kommunale Seiten nicht nur bei der Barrierefreiheit heute noch sind, ist das Thema bei der Privat-Wirtschaft bisher nicht angekommen. Und das Barrierefreiheits-Stärkungs-Gesetz wird das im Wesentlichen nicht ändern. Ja, einige Leute mehr machen sich jetzt Gedanken darüber. Aber selbst die Gutwilligen sind miserabel. Ein Beispiel ist die Comdirect/Commerzbank – meine Bank. Ich weiß, dass da durchaus jemand ist, der sich Mühe gibt, das Thema dort zu verankern. Aber bekommen sie es hin, ein sehr wichtiges Untermenü tastatur-zugänglich zu programmieren? Nein. Haben sie eine Ansprechstelle dafür? Nein. Sind sie in den letzten Jahren tatsächlich besser geworden? Nein.

Der Berg wird größer

Statt kleiner zu werden wird der Berg an Dingen größer, die barrierefrei gemacht werden müssten. Es gibt immer mehr PDFs, eGovernment-Anwendungen, native Apps und natürlich die zahllosen normalen Websites.
Leider muss man auch sagen, dass die gleichen Dinge immer wieder falsch gemacht werden. Man macht es einmal falsch, um es hinterher ein bisschen besser zu machen statt es von Anfang an richtig zu machen. Wir müssen uns mit Mikro-Optimierungen beschäftigen statt zu schauen, wie wir auch die Nutzerinnen-Erfahrung für behinderte Menschen verbessern können. Wir müssen uns mit wenig ambitionierten Personen aus Entwicklung und Design herumschlagen. Und mit noch weniger ambitionierten Entscheidungs-Trägern.
Wir müssten eigentlich zehn Jahre weiter sein, aber viele Innovationen sind in der Barrierefreiheit nicht angekommen. Dazu gehören zum Beispiel Patterns für die Gestaltung von Benutzer-Oberflächen, Test-Automatisierung, Standardisierung von Komponenten und Automatisierung von Korrekturen in Design und Entwicklung.
In gewisser Weise können wir froh sein, dass die Privat-Wirtschaft das Thema bislang größtenteils ignoriert. Wenn wir ernsthaft alle Websites, Apps und Dokumente auf die Art testen, wie wir es heute tun und mit der heutigen Human Power barrierefrei machen würden, sind wir im Jahr 2124 noch nicht fertig. Und leider können wir den Lauf der Welt ja nicht aufhalten. Wenn wir also fertig sind, dürfen wir gleich von vorne anfangen, weil 1. sich vieles in der Zwischenzeit geändert hat und 2. immer mehr dazu kommt als wegfällt. Es ist wie die Entbürokratisierung, die am Ende doch noch mehr Bürokratie bedeutet hat.

Die Barrierefreiheits-Szene ist Mitschuld

Ich werde mich morgen nicht auf eine Bühne bei einer Fuck-Up-Night stellen und darüber erzählen, wie wir gescheitert sind. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass wir aus unserem Scheitern nichts gelernt haben, und es uns sogar nicht eingestehen wollen. Stattdessen fangen wir jeden Morgen aufs Neue an, den Augiasstall auszumisten oder den Felsen den Berg hochzurollen.
Wir bauen noch mehr komplexe Regeln – weil ja die alten so gut funktioniert haben, packen wir noch ein paar dazu. Wir testen fleißig manuell, schließlich ist das unsere Haupt-Einnahmequelle und Existenz-Berechtigung. Wir mikroptimieren PDF, die wahrscheinlich kein Mensch nutzen wird. Wir sind dogmatisch mit unserem Beharren auf 100% Konformität und stoßen damit Leute vor den Kopf, die sich viel Mühe geben. Wir schimpfen auf unfähige Menschen aus Konzeption und Entwicklung, weil die nicht alle Konformitätsbedingungen und Ausnahmen auswendig kennen. Wir rennen mit unseren Verfahren wie der Entwicklung der Guidelines der technischen Entwicklung hinterher, statt uns dranzuhängen und der Abstand wird immer größer. Wir sagen, die Guidelines sind keine Regeln, pochen aber diktatorisch und kleinlich auf deren Einhaltung. Wir nennen als positive Beispiele Apple oder Microsoft – zwei der reichsten Unternehmen der Welt. Wir messen die lokale Pommesbude und den Milliarden-Konzern mit den gleichen Maßstäben. Wir sagen Anderen, sie sollen sich doch inklusiv aufstellen und verhalten und gleichzeitig gibt es kaum behinderte Expertinnen in der Szene – behinderte Menschen sind nur als Versuchskaninchen gut.
Es gibt zwei typische Verhaltensweisen, die man nicht nur in dieser Szene beobachten kann:

  • Das eigene Verhalten wird rationalisiert. Das heißt, egal wie man sich verhält, man kann erklären, warum genau dieses Verhalten richtig ist, auch wenn es das nicht wäre. Dann sucht man nach Gründen, die es rechtfertigen, die man natürlich auch immer findet.
  • Damit verwandt ist der Abwehr-Reflex gegen jegliche Kritik. Man kann nach Herzenslust alle kritisieren, aber bitte nicht uns. 1. Arbeiten wir ja für eine gute Sache und 2. wäre doch alles gut, wenn alle auf uns hören würden. Da schwingt implizit mit, dass man selbst zu den wenigen Erleuchteten gehört und alle Anderen mehr oder weniger ignorant sind. Zum Beispiel wird meine Kritik, dass kaum behinderte Menschen als Expertinnen in der Szene präsent sind – das lässt sich ganz leicht empirisch belegen – komplett ignoriert. Ebenso wenig werden die Vorträge und Panels paritätisch mit Frauen und Männern besetzt, obwohl eher mehr Frauen als Männer in der Barrierefreiheit arbeiten.

Mit anderen Worten, wir machen immer wieder den gleichen Mist, statt einmal innezuhalten und uns einzugestehen, dass wir die letzten Jahrzehnte in die falsche Richtung gelaufen sind. Mir zumindest sind keine Überlegungen bekannt, die das ganze Thema neu denken möchten.

Die Lösung muss von extern kommen

Ich fürchte, dass die alten Accessibility-Hasen nicht in der Lage sind, die geschilderten Probleme zu lösen. In gewisser Weise haben wir es uns in der Schimpf-Ecke gemütlich gemacht, während wir fleißig das Geld unserer Kunden kassieren. Wir schimpfen auf die Overlay-Anbieter, auf uneinsichtige potentielle Kunden und auf unsere Konkurrenten. Wie Homer Simpson einmal sinngemäß sagte: „Es ist einfach, uns selbst die Schuld zu geben. Es ist aber noch einfacher, Anderen die Schuld zu geben.“
Leider muss die Lösung von außen kommen: Durch junge Menschen, welche die Fenster aufreißen und neuen Schwung reinbringen, die anders über Probleme und Lösungen nachdenken.
Es ist für die „amtierende“ Generation immer sehr schwer, grundlegende Änderungen umzusetzen. Von der Erkenntnis, dass Ärzte sich mal die Hände waschen sollten bis zu dem Punkt, wo es die meisten auch gemacht haben, ist viel Zeit vergangen. In der Szene selbst sehe ich hingegen weder intrinsisch noch extrinsisch einen großartigen Druck, sich zu verändern. Wir arbeiten nicht daran, uns überflüssig zu machen – wir arbeiten daran, uns unentbehrlich zu machen. Ich finde nirgendwo auch nur eine Spur von Selbstkritik – immer sind die Anderen verantwortlich. Ein eispiel dafür ist die zumindest teilweise unsachliche Kritik an Jakob Nielsen.
Meines Erachtens hat Nielsen recht, wenn er die Zukunft in der automatischen Anpassung sieht. Zumindest für komplexe Angebote wie Applikationen oder komplexe Formulare sehe ich nicht, wie wir mit allen denkbaren Regelwerken und Patterns einen Status erreichen, der auch für wenig technik-affine und mit assistiver Technologie nicht vertraute Menschen funktioniert. Seien wir mal ehrlich: Im Augenblick sind die WCAG oder die EN 301549 ein netter Versuch, es für Leute gut zu machen, die perfekt mit ihrem Screenreader oder der Sprachsteuerung und digitalen Oberflächen allgemein umgehen Können. Andere Personen wie Sehbehinderte mit starkem Zoom, Neuro-Diverse und viele weitere Gruppen sind wenig bis gar nicht abgedeckt. Wir erreichen also vor allem jene, die auch mit 50 Prozent Barrierefreiheit wahrscheinlich noch zurechtkämen. Wir verfehlen diejenigen, für die auch 100 Prozent Barrierefreiheit zu wenig wäre – die überwältigende Mehrheit. Im Augenblick ist digitale Barrierefreiheit noch ein Projekt für die Elite-Behinderten, den Rest ignorieren wir, siehe dazu auch meinen Beitrag Warum persönliche Einstellungen die Zukunft sind.
Eben weil wir so ungeschickt agiert haben wird uns die Technik zumindest zu einem großen Teil überflüssig machen. Was die Kritiker Nielsens nicht verstanden haben ist, dass er nicht von spezifischen Entwicklungen für behinderte Menschen spricht. Die hochgradige Anpassung von GUI’s ist etwas, von dem alle Nutzerinnen profitieren werden.
Digital Accessibility has failed