Wer auf der Suche nach einer barrierefreien Wohnung ist, merkt schnell, dass altersgerecht und behindertengerecht nicht dasselbe ist. Aber was ist eigentlich der Unterschied?
Gemeinsamkeiten
Die Gemeinsamkeiten zwischen behinderten und alten Menschen sind groß. So verschlechtern sich im Alter oft die Beweglichkeit, das Gehör oder das Sehvermögen. Die Konzentrations- und Gedächtnisfähigkeit können nachlassen und so weiter. Wir finden also typische Merkmale einer körperlichen oder kognitiven Behinderung. Dabei sind natürlich die Unterschiede enorm. Manch 70-jähriger läuft einen Marathon, während ein Anderer schon auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Ich kann es mir an dieser Stelle einfach machen, wer keine schwerwiegende körperliche oder geistige Einschränkung hat, braucht natürlich auch keine Unterstützung und muss uns an dieser Stelle nicht interessieren.
Es zeigt aber auch, dass ältere Menschen ebenso wenig eine homogene Gruppe sind wie Sehbehinderte oder Rollstuhlfahrer. Das heißt, dass pauschale Angebote für Dienstleistungen immer weniger passen. Stattdessen müssen Angebote modular aufgebaut werden, also so, dass sich jeder das Angebot seinem Bedarf entsprechend gestalten kann.
Die altersgerechten Produkte oder Dienstleistungen werden in der heutigen Form immer weniger akzeptiert. Auf die Hersteller kommt die Forderung zu, ihre Produkte sowohl attraktiver als auch einfacher zu gestalten. So sind die Screenreader, wie sie von Blinden benutzt werden immer noch zu kompliziert für ältere Menschen, die spät erblindet oder sehbehindert geworden sind. SeniorBook mag heute ein attraktives Angebot für Seniors sein, aber die Seniors der Zukunft werden darauf pfeifen und einfach Facebook nutzen oder was immer an dessen Stelle tritt, wieder eine Gemeinsamkeit mit behinderten Menschen.
Unterschiede
Jemand, der im höheren Alter sein Gehör oder Sehvermögen einbüßt, geht damit naturgemäß ganz anders um als ein früh Ertaubter oder Erblindeter.
Ein Blinder oder Gehörloser betrachtet sich meistens, vor allem wenn er es von Geburt an ist als behindert. Jemand, der im reiferen Alter schlechter hört oder sieht tut das oftmals nicht, selbst wenn er einen Behindertenausweis hat oder Nachteilsausgleiche nutzt. Auch viele ältere Menschen oder ihre Angehörigen betrachten sich oft nicht als behindert, auch wenn sie es nach der Definition wären. Oftmals kommen sie gar nicht auf die Idee, dass es spezielle Hilfsmittel gibt, die ihnen einiges erleichtern würden.
Außerdem ist es im Alter deutlich schwieriger, sich an die veränderte Situation anzupassen. Ich muss immer lachen, wenn jemand erzählt, er käme mit seinen 60 Prozent Sehrest nicht mehr klar. Aber natürlich ist seine Situation subjektiv schwieriger als meine, ich habe nie ein Auto steuern oder Informationsschilder lesen können. Ich bin größtenteils an meine Situation angepasst. Für einen Newbie sind selbst die kleinsten Dinge wie das Einkaufen eine Herausforderung. Diese Gruppe tut sich auch oft schwerer damit, Fremde um Hilfe zu bitten. Als Geburts-Behinderte wissen wir, welche Leistungen und Unterstützungen es für uns gibt. Ein Newbie muss sich oft mühsam in das Thema einarbeiten, vorausgesetzt, er ist überhaupt bereit, solche Leistungen zu nutzen.
Was tun?
Anstatt immer mehr Standards für Barrierefreiheit zu entwickeln, die alle ihre Berechtigung haben, ist es wichtig, Barrierefreiheit in bestehende Standards zu integrieren.
Der zweite Schritt, der leider notwendig ist, ist die Erlassung von Gesetzen, die auch private Träger zur Barrierefreiheit verpflichten. Es ist heute nicht mehr hinzunehmen, dass immer noch Gebäude gebaut oder Busse angeschafft werden, die nicht barrierefrei sind. Private Bauherren freuen sich über ein paar tausend Euro Ersparnis, bis sie ihre Wendeltreppe herunterfallen und für zwei Monate einen Gips brauche. Oder bis sie alt werden. Ich darf behaupten, die meisten von ihnen werden zumindest zeitweise dankbar dafür sein, dass man sie zur Barrierefreiheit gezwungen hat.
Entsprechend müssen Rehaleistungen angepasst werden. Meiner Erfahrung nach zielen die meisten Leistungen auf junge oder Behinderte im mittleren Alter, Menschen, die oft am Anfang oder in der Mitte des Erwerbslebens stehen. Der Bedarf an altersgerechten Rehas wird steigen. Sie brauchen ein Orientierungs- und Mobilitätstraining und Hilfsmittel, die an ihre Bedürfnisse angepasst sind. Komplexe Hilfsmittel wie Screenreader müssen radikal vereinfacht werden. Krankenkassen und andere Rehaträger müssen endlich damit aufhören, Anträge endlos zu verschleppen.
Dann wiederum gibt es Bereiche, in denen Ältere und Behinderte gleichermaßen profitieren: Touristische Angebote, Produkte und Dienstleistungen können so weiterentwickelt werden, dass sie einer wesentlich größeren Zahl von Menschen zugutekommen. Der Fehler, der heute grundsätzlich gemacht wird ist, dass Behinderung immer als Ausnahme und nicht als Regel betrachtet wird. Ein Flughafen ist für den gesunden Sehenden gebaut und nicht für den gehkranken Sehbehinderten. Die Deutsche Bahn rühmt sich mit ihrem Mobilitätsservice, statt die Bahnhöfe und Züge so einzurichten, dass dieser Service nur noch in Ausnahmen benötigt wird. Wer an dieser Stelle mit dem Geldargument kommt, Barrierefreiheit ist im Vergleich sicher nicht der höchste und oftmals überhaupt kein relevanter Kostenfaktor. Es wird schlicht verkannt, dass es um eine riesige Gruppe geht, die als potentielle Kundschaft ausfällt, wenn nicht die richtigen Verhältnisse geschaffen werden. Ich wiederhole es gerne: Viele Leute sind nicht bereit, Fremde um Hilfe zu bitten oder spezielle Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen, weil sie sich nicht als Zielgruppe dafür betrachten oder schlicht nicht wissen, dass es solche Angebote gibt. Im Ergebnis verzichten sie darauf, bestimmte Leistungen zu nutzen und fallen als Kunden aus.
Eine andere Frage ist, ob die Leistungen für Behinderte angepasst werden müssen. Wenn sich jemand nicht als behindert betrachtet, wird er auch keine Behinderten-Leistungen in Anspruch nehmen. Muss der Lappen Schwerbehindertenausweis heißen, obwohl er auch von Menschen mit chronischen oder psychischen Krankheiten genutzt wird, die nicht „schwer behindert“ sind? Ist schwer behindert eine Kategorie, die wir im 21. Jahrhundert noch brauchen?
Last not least sollten behinderte und ältere Menschen aktiv werden, um die Inklusion schneller und nachhaltiger in die Gesellschaft zu verankern. Ältere Blinde legen noch sehr viel Wert auf Kurse, wo sie unter sich sind. So bieten die Aurazentren zahllose Kurse in abgeschiedenen Kurorten. Zweifellos wird es diese Angebote in Zukunft noch geben, dennoch gehe ich davon aus, dass die Inklusion in den Schulen dazu führen wird, dass die Behinderten von heute wie selbstverständlich davon ausgehen werden, dass alle Angebote inklusiv sind. Um ein Motto abzuwandeln: Was nicht inklusiv ist, wird inklusiv gemacht. Das heißt, Kursleiter und andere Verantwortliche, die dafür offen sind werden sich von den behinderten und älteren Menschen zeigen lassen, wie sie ihre Angebote inklusiv oder altersgerecht gestalten können.
Dieser Punkt ist wichtig. Es wird nie genügend Inklusions-Fortbildungsangebote geben, damit alle Verantwortlichen sich schulen lassen können, wie sie ihr Angebot inklusiv gestalten können. Der Ball wird zurückgespielt an die Early Adopters, wie man sie nennen kann. Sie bzw. wir sind an der Reihe, unseren Beitrag zur Inklusion zu leisten.
Ebenso ist die Inklusion älterer Menschen kein Selbstläufer. Natürlich ist es immer einfacher, darauf zu warten, dass der Staat Gesetze und Richtlinien gegen Altersdiskriminierung und Ähnliches erlässt. Aber die Barrieren in den Köpfen können wir nur selbst abbauen.
Zum Weiterlesen
- The difference between age-friendly and accessible
- Demografischer Wandel, alternde Gesellschaft und Barrierefreiheit
- Barrierefreies Internet für Senioren
- The difference between age-friendly and accessible
- Ich empfehle besonders die Studie des Schweizer SZB Im Alter eine Sehbehinderung erfahren als PDF
- thunertagblatt.ch. Wie ich die Eltern an die Schwerhörigkeit verliere
- SZB.ch Wenn Sehbehinderung mit Demenz verwechselt wird – PDF