Drücke "Enter", um den Text zu überspringen.

Mythen zu Barrierefreiheits-Overlays

Braucht es den drölfundreißigsten Artikel zum Thema Accessibility Overlays? Eigentlich nicht, irgendwie haben sich alle dazu geäußert und alles wurde gesagt. Andererseits gibt es sogar große Organisationen wie der VdK oder die Aktion Mensch, die diese Tools einsetzen. Sie erfüllen damit eine leider negative Vorbild-Funktion für Organisationen, die es anders als die Aktion Mensch oder der VdK nicht besser wissen können.

Es gibt die super-aggressive Akquise deutscher Anbieter und auch die großen US-amerikanischen Anbieter kommen jetzt auf den deutschen Markt.

Es ist auch so, dass zwar die Barrierefreiheits-Community gut Bescheid weiß, aber die Personen außerhalb des Bereiches immer noch uninformiert und deshalb empfänglich für die Aussagen der Overlay-Anbieter sind.

Ein paar Vorbemerkungen

Ein Accessibility- oder Barrierefreiheits-Overlay ist eine Javascript-Bibliothek, die in eine Website integriert wird und verschiedene Funktionen bereit stellt. Dazu gehören meistens Kontrast-Modi, Zoom, Schriftbild-Anpassung und ähnliche Funktionen. Seltener gibt es auch automatisch erzeugte Bild-Beschreibungen, Übersetzungen in verständliche Sprache und Ähnliches. Solche Funktionen können manchmal dazu gebucht werden.

Vorneweg sei gesagt, dass ich nur die Overlay-Anbieter kritisieren möchte, die sich wie unten geschildert verhalten. Wenn man seine Lösung als Hilfe für technik-unaffine oder ältere Personen verkauft, ist das vollkommen in Ordnung. Wer sich so verhält, braucht sich an dieser Stelle nicht angesprochen zu fühlen. Leider suggerieren viele Overlay-Anbieter, ihre Lösungen würden die Website komplett barrierefrei machen. Mittlerweile sind sie ein wenig vorsichtiger und sagen es nicht mehr offen, damit sie nicht für false claims haftbar gemacht werden können. Da die meisten Kunden allerdings keine Ahnung von Barrierefreiheit haben, fallen sie auf die Suggestionen der geschulten Sales-Leute herein.

Auch ist es richtig, dass einige Overlay-Anbieter weitere durchaus sinnvolle Tools verkaufen. Einzelne Anbieter haben etwa Monitoring-Tools im Portfolio, die durchaus sinnvoll sein können. Wenn sie ihr Haupt-Gewicht auf den verkauf von nutzlosen Overlays legen, zeigt das aber, wo ihre Priorität liegt. Wenn sie gleichzeitig Dienstleistungen wie Beratung oder Schulung anbieten ist zu befürchten, dass es sich um verkappte Verkaufs-Veranstaltungen für ihre Tools handelt.

Mythos 1: Accessibility Overlays sind eine Zwischen-Lösung

Accessibility Overlays werden oft als Zwischen-Lösung beworben, bevor man die Website „richtig“ barrierefrei macht. Das funktioniert aus vielen Gründen nicht.

Diese Tools beheben oft nur oberflächliche Aspekte der Barrierefreiheit, wie Kontrastprobleme oder Schriftgröße, während strukturelle und tiefere Probleme wie falscher HTML-Code, unzureichende ARIA-Labels oder schlechte UX unberührt bleiben. Sie lösen also gar kein Barrierefreiheits-Problem, sondern bieten ein paar basale Anpassungs-Möglichkeiten insbesondere für seheingeschräkte Personen. Für sehbehinderte Personen sind diese Anpassungs-Möglichkeiten in der Regel nicht ausreichend.

Viele der Funktionen sind vollkommen irrelevant oder funktionieren nicht: „Ton abschalten“ auf einer Website, auf der es keinen Ton gibt oder Animationen ausschalten, was aber nicht funktioniert, weil das Tool Animationen nicht erkennt, eine Vorlese-Funktion, die nichts vorliest oder ein Hochkontrast-Modus, der Bedien-Elemente verschwinden lässt – alles schon gesehen, ohne dass ich groß suchen musste.

Ich habe einige Websites beobachtet, die diese Tools einsetzen. In dieser Zeit ist es zu keiner sichtbaren Verbesserung der Barrierefreiheit gekommen. Vielmehr wird es durch die permanenten Kosten für die Overlays eher schwieriger, Budgets für die Barrierefrei-Machung der Website zu bekommen. Die Geschäftsführung wird fragen, warum man noch mehr Geld haben möchte, obwohl schon das Overlay eingekauft wurde.

Unternehmen glauben oft, dass sie mit einem Overlay den Anforderungen von Barrierefreiheitsrichtlinien (wie der WCAG) gerecht werden. Vielmehr wird ihnen das von einigen Overlay-Anbietern suggeriert. Dies führt zu einem falschen Gefühl der Sicherheit und dazu, dass keine weiteren Schritte unternommen werden. Es stimmt nicht, dass Unternehmen die Overlays als Zwischenlösung ansehen, oft genug ergreifen sie keine weiteren Schritte, weil sie das Problem nicht verstanden haben oder für gelöst halten. Das liegt aber nicht an ihnen, sondern an den falschen Versprechen der Overlay-Anbieter.

Mythos 2: Overlays richten sich an behinderte Personen

Der Fokus liegt bei Overlays oft auf der Erfüllung minimaler Compliance-Anforderungen, nicht auf der tatsächlichen Verbesserung der Benutzererfahrung für Menschen mit Behinderungen. Es mag sein, dass einige Personen mit leichten Seh-Einschränkungen von Zoom-Möglichkeiten oder dem Vorlesen profitieren. Die Mehrheit der behinderten Menschen profitiert nicht davon, weil die Anpassungs-Möglichkeiten unzureichend sind. Wenn Sie einem Sehbehinderten sagen, er könne die Webseite um 200 Prozent zoomen, wird er häufig lachend abwinken: Er braucht eher 400, 700 oder 1000 Prozent Zoom.

Menschen mit Behinderungen haben sehr unterschiedliche Anforderungen an die Barrierefreiheit, abhängig von ihrer Behinderung (z. B. Sehbehinderung, motorische Einschränkungen, kognitive Beeinträchtigungen). Basierend darauf verwenden sie eigene Tools oder Strategien, die unabhängig von einem Overlay funktionieren.

Sind KI-Funktionen wie Generierung von Alternativtexten oder Untertiteln oder die Übersetzung in verständliche Sprache dabei, kann das durchaus eine Hilfe sein. Bei aller Begeisterung für die Möglichkeiten ist man sich aber einig, dass man sie bei heutigem Stand nicht ohne menschliche Kontrolle einsetzen kann. Bild-Beschreibungen, Untertitel oder Übertragungen können gut, schlecht oder irgendwas dazwischen sein. Die Personen, die darauf angewiesen sind können das in der Regel nicht beurteilen. Es wäre also ein absolut falscher Ansatz, so etwas ohne Prüfung auf der Website einzusetzen.

Zusammengefasst ist die Behauptung, Overlays würden einen nennenswerten Teil der behinderten Menschen erreichen falsch.

Mythos 3: Die Entwicklung von Overlays ist teuer

Overlays verursachen permanente Lizenz-Kosten, die durch hohe Entwicklungs- und Wartungskosten gerechtfertigt werden.

Die Grund-Funktionen moderner Overlays sind etwa 25 Jahre alt. Schon damals gab es Text-Versionen, Styleswitcher und ähnliche Dinge, wie es sie heute gibt. Die Entwicklung solcher Tools ist dank modernem CSS, Javascript und HTML allerdings deutlich einfacher umsetzbar. Jede Praktikantin in der Web-entwicklung kann entsprechende Funktionen in wenigen Wochen für Ihre Website entwickeln. Es ist ja auch so, dass alle diese Tools in der Basis-Version exakt die gleichen Funktionen anbieten. Haben sie die alle selber entwickelt oder voneinander kopiert – wer weiß?

Es sind ja immer auch behinderte Menschen bei der Entwicklung beteiligt gewesen oder? „Mein Cousin dritten Grades trägt eine Brille und hat mal drauf geschaut“ gilt vermutlich schon als Beteiligung. Aber wozu sollen sie überhaupt eingebunden werden, wenn alle Overlays die gleichen Grund-Funktionen anbieten?

Es kommen nach meiner Beobachtung auch keine neuen Funktionen hinzu: Außer Bugfixing scheint da wenig stattzufinden. Es ist ja auch interessant zu beobachten, dass vor allem Sales-Leute und keine Entwicklerinnen von den Anbietern gesucht werden.

Aber die ganze KI? Nun ja, es gibt KI-basierte Funktionen, die aber vor allem bei der Sprach-Übertragung z.b. in Leichte oder einfache Sprache zum Tragen kommen. In den Basis-Funktionen ist KI weder notwendig noch bemerkbar. Wie gesagt hat da in den letzten fünf Jahren keine erkennbare Weiter-Entwicklung stattgefunden. Funktionen wie Übersetzungen oder automatische Bildbeschreibungen/Untertitel werden einfach zugekauft, was ja in Ordnung ist. Aber dann braucht man nicht so zu tun, als ob man das selbst entwickelt hätte.

Mythos 4: Overlays helfen Technik-Unaffinen

Das ist ein gängiger Mythos, der inzwischen durch die Masterarbeit von Daniela Kubesch widerlegt wurde: Die meisten Personen, die solche Tools benutzen würden erkennen die Funktionalität der Overlays nicht. Meistens steht ein Logo wie das a11y-Männchen, das Logo der jeweiligen Firma oder etwas ähnlich abstraktes auf dem Button, um die Funktion einzublenden. Okay, die Leute wissen nicht, wie sie mit ihrem Browser die Website per Maus zoomen oder die Farb-Schemata im Betriebssystem verändern, aber sie sollen wissen, wofür diese Icons stehen?

Mythos 5: Overlays sind besser als nichts

Sie können nicht in Barrierefreiheit investieren, dann nehmen Sie eben ein Overlay. Das ist doch besser, als nichts zu tun oder? Leider nein. Sie geben ja Geld aus, also können Sie auch in Barrierefreiheit investieren.

Auch wenn ich der strengen Definition der Barrierefreiheit (Barrierefreiheit = 100 Prozent Konformität mit WCAG) nicht folge, in keiner der Anforderungen steht geschrieben, dass die Anbieterin eines digitalen Services selbst Schrift-Vergrößerung oder ähnliche Funktionen bereitstellen muss. Vielmehr muss die Anbieterin dafür sorgen, dass von der Nutzerin definierte Einstellungen funktionieren. Ein Overlay bringt Sie also der Konformität gar keinen Schritt näher. Sie können konform sein oder nicht, das Overlay hat darauf keinen Einfluss.

Mythos 6: Die Overlay-Anbieter sind Teil der Barrierefreiheits-Community

Die Overlay-Anbieter wären gerne Teil der Barrierefreiheits-Community, sind es aber nicht. Egal, wie man die Community definiert, ein paar Grundsätze gelten doch für alle.

  • Man verbreitet keine falschen Informationen über digitale Barrierefreiheit gegenüber möglichen Kunden, um seine Lösung bzw. sein Angebot zu verkaufen.
  • Man verklagt nicht seine Kritikerinnen, bzw. schüchtert sie nicht durch rechtliche Manöver ein, wie es einige Anbieter auch in Deutschland getan haben.
  • Man erzält keinen Quark in Akquise-Gesprächen und betreibt keine derart aggressive und auf Angst basierende Verkaufs-Taktik, wie es zum Beispiel ein deutscher Anbieter gerne tut. Ich habe das sowohl selbst erlebt als auch von Dritten glaubwürdig gehört. Wer das tut, egal ob Overlay oder nicht, hat in der Community nichts zu suchen.
  • Niemand in der Community würde absichtlich ein falsches Bild von Barrierefreiheit und den Herausforderungen von behinderten Menschen verbreiten. Wenn ein Overlay-Anbieter suggeriert, seine Tools würden vielen behinderten Menschen helfen oder die Barrierefreiheit relevant verbessern ist das falsch. Es gibt unterschiedliche Meinungen in der Community zu einzelnen Themen, unterschiedliche Interpretationen oder auch Fehl-Annahmen, aber sie sind nicht dazu itendiert, absichtlich falsche Informationen zu verbreiten, um ein Produkt zu verkaufen.

Ein einzelner Anbieter bzw. dessen Geschäftsführer ist sogar wegen Manipulation auf dem Aktienmarkt in den USA angeklagt worden. Ganz aktuell muss ein US-amerikanischer anbieter 1 Millionen Dollar wegen false Claims bezahlen. Man kann also berechtigt feststellen, dass es sich hier um einen recht unsympathischen Haufen handelt.

Natürlich verdienen viele (auch ich) ihr Geld mit Barrierefreiheit. Dabei geht es uns aber darum, eine qualitativ hochwertige Dienstleistung anzubieten. Den Overlay-Anbietern geht es darum, möglichst viele Tools zu verkaufen, damit sie ihre Shareholder zufrieden stellen können. Das wäre in Ordnung, wenn ihre Tools irgendwie brauchbar wären, sind sie aber nicht.

Auch habe ich noch keinen substantiellen Beitrag zur Community von einem der Overlay-Anbieter gesehen. Sie konzentrieren sich vor allem auf SEO, was sie aber gut können, um ihre wenig originellen Beiträge nach oben zu spielen und geben viel Geld für Google-Anzeigen und anderes Marketing aus.