Gendern – warum Unterstrich und Stern nicht barrierefrei sind


Aus gegebenen Anlass möchte ich darauf hinweisen, dass ich zum Thema Gendern und Barrierefreiheit keine Beratung anbiete und keine Anfragen wünsche, entsprechende Nachrichten werden kommentarlos ignoriert. Zu dem Thema ist aus meiner Sicht alles gesagt, alle Diskussionen sind geführt worden und es ist in den letzten Jahren kein neues Argument aufgetaucht.

Vorbemerkung

In diesem Beitrag behandle ich die Frage, ob gendergerechte Sprache barrierefrei ist. Lassen Sie mich vorneweg das Fazit ziehen: Da jede denkbare Variante bei Text und Sprache gängige Konventionen verändern muss und damit komplizierter macht, trägt keine mögliche Variante in unserem Sinne zur Barrierefreiheit bei. Es wäre wünschenswert, wenn sich die Betroffenen-Gruppen auf eine für alle Seiten akzeptable Variante einigen, das ist aber aktuell nicht absehbar.
Man kann die Ansicht vertreten, dass gender-gerechte Sprache wichtiger ist als Barrierefreiheit. Oder das die paar Barrieren nicht relevant seien. Das kann legitim sein. Aber das Gendern zumindest in den bisher gängigen Varianten barrierefrei sein kann, ist falsch. Dazu benötigen wir keinen empirischen Beweis. Durch alle aktuell diskutierten Varianten wird entweder die Zeichenmenge erhöht, ohne den Informationsgehalt zu vergrößern. Oder es werden Sonderzeichen eingefügt, welche die Lesbarkeit bzw. Erkennbarkeit von Wörtern verschlechtern – oder beides. Insofern möchte ich auch ausdrücklich den Aussagen der Überwachungsstelle für Barrierefreiheit des Bundes widersprechen. Schon die Überschrift der sogennanten Studie „Empfehlung zu gendergerechter, digital barrierefreier Sprache“ ist ein Widerspruch in sich. Es ist so, als ob ich eine Empfehlung für eine barrierefreie Treppe gebe. Meines Erachtens ist die Studie handwerklich schlecht gemacht. Im Grunde ist sie nur ein Screenreader-Test durch eine offenbar nicht besonders erfahrene Person und eine Befragung von Betroffenen-Verbänden, das kann man kaum als empirische Studie ansehen.
Auch wenn eine gender-gerechte Sprache zu Inklusion beiträgt, wäre sie dennoch nicht barrierefrei: Inklusion und Barrierefreiheit sind zwei unterschiedliche Themen. Gendern schafft teils intendierte Störungen des Leseflusses, das kann nicht barrierefrei sein. Ebenso könnte ich einem Sehbehinderten erklären, dass die kleine Schrift ja nur an drei Stellen verwendet wird oder einer Rollstuhlfahrerin, dass so ein paar Hubbel oder kleine Stufen doch nicht störend seien.
Selbst unter den Befürwortenden wäre die Akzeptanz von Begriffen wie Poliziststerninnen, Polizistunterstrichinnen oder Polizistschrägstrichinnen relativ gering, behaupte ich mal. Aber Blinde und andere Nutzende von Sprachausgaben sollen damit klar kommen. Wenn man nicht selbst betroffen ist, scheint man das Problem nicht verstehen zu können – und in einigen Fällen nicht zu wollen.
Generell bin ich kein Experte oder Aktivist für gendergerechte Sprache. Ich betrachte das Thema ausdrücklich nur aus der Perspektive der Barrierefreiheit. Da es mehrere Publikationen zu dem Thema gibt, würde ich Ihnen empfehlen, sich verschiedene Aussagen anzuschauen und dann das zu übernehmen, was Ihnen nach Abwägung aller Umstände sinnvoll erscheint. Was immer Sie umsetzen, irgendjemand wird sich darüber ärgern.
Ich weise darauf hin, dass sich Barrierefreiheit nicht nur auf blinde Leser:Innen bezieht. Tatsächlich ist die Gruppe der Blinden relativ klein, es geht viel mehr um Personen mit Autismus, mit Lernstörungen, Konzentrationsstörungen, Sehbehinderungen und so weiter. Es ist zwar nett für die Blinden, dass ständig nach Sprachausgaben gefragt wird, allerdings werden dadurch andere Gruppen aus dem Diskurs ausgeschlossen. Wenn eine Person einen Beitrag über Gender und Barrierefreiheit schreibt, der ganze Beitrag sich aber nur um Sprachausgabe und Blinde dreht, hat diese Person das Thema Barrierefreiheit leider verfehlt. Nicht einmal Blinde sind vollständig erfasst, denn viele Blinde nutzen die Blindenschrift, und da kann man Satzzeichen nicht ohne Weiteres ausblenden. Sprach-Assistenten wie Alexa lassen sich nicht so fein justieren wie Screenreader, also sind auch Personen nicht erfasst, die solche Werkzeuge verwenden. Meines Wissens ist mein Beitrag aktuell der Einzige, der sich mit unterschiedlichen Behinderungen und gender-gerechter Sprache beschäftigt. Deswegen sind auch die Aussagen des Blinden-Verbandes DBSV irrelevant, da sie bestenfalls eine Teilgruppe der Betroffenen erfassen. Der DBSV hat übrigens keine Analyse zur Barrierefreiheit durchgeführt. Vielmehr handelt es sich hier um eine politische Entscheidung, so wie die EU entschieden hat, dass Atomkraft nachhaltig ist.
Ich finde es schwierig, dass sich Personen, die offensichtlich keine Leseschwäche haben, keine assistive Technologie nutzen bzw. gar keine Behinderung haben so stark über die Barrierefreiheit gendergerechter Sprache äußern. Ein bisschen Zurückhaltung wäre hier meines Erachtens angebracht. Schaut man sich die Biografien dieser Personen an, wird man schnell feststellen, dass keinerlei Expertise zur digitalen Barrierefreiheit vorliegt. Man kann niemandem vorwerfen, dass er keine physischen/kognitiven Herausforderungen hat oder dass man sich nicht mit Barrierefreiheit in allen Facetten beschäftigt. Man kann dieser Person aber vorwerfen, dass sie sich äußert, ohne wirklich Ahnung zu haben oder selbst betroffen zu sein. Diese Leute tun das, was sie Anderen vorwerfen: Sie diskriminieren Menschen, indem sie ihre Probleme nicht thematisieren bzw. ignorieren oder gar unterstellen, diese Probleme gäbe es nicht. Man sucht dann Quellen heraus, welche die eigene Meinung bestätigen und ignoriert alles, was dem widerspricht. Auch das hat nichts mit empirischem Vorgehen, Inklusion oder Barrierefreiheit zu tun.
Es sei hier betont, dass ich mich weder für noch gegen eine gendergerechte Sprache einsetze. Es ist eine Tatsache, dass Frauen und Personen ohne eindeutiges Geschlecht nach wie vor stark diskriminiert werden. Ob Sonderzeichen dieses Problem lösen, bezweifle ich zwar, aber es ist nicht an mir, dies zu entscheiden.
Auch bin ich nicht der Meinung, dass Gender-Symbole der wichtigste oder entscheidende Faktor in der Lesbarkeit/Verständlichkeit von Sprache ist. Wenn solche Kombinationen nicht gehäuft in einem Satz auftreten, dann sind sie weniger problematisch als etwa Fachjargon oder Bandwurmsätze, wie wir sie gehäuft bei Behörden, aber auch bei vielen Behinderten-Organisationen finden. Nebenbei bemerkt ist es interessant, dass Organisationen mustergültig gendern, aber überwiegend aus nicht-diversen Teams bestehen und ihre Diskussions-Runden/Konferenzen nicht divers besetzen. Beispiele gibt es viele, aufgefallen sind aber vor allem die Aktion Mensch oder der Rheinwerk-Verlag, siehe Warum die Barrierefreiheits-Bühne diverser werden muss. Auch im öffentlichen Dienst pflegt man nach wie vor das Thema Barrierefreiheit ohne behinderte Menschen zu diskutieren. In meinen Augen ist das eine größere Diskriminierung als ein paar fehlende oder zusätzliche Interpunktions-Zeichen.
Auch möchte ich mich ausdrücklich gegen die Vereinnahmung des Themas durch Rechte, Konservative oder wie auch immer sich die Menschenfeinde schipfen wenden. Ich zweifle nicht daran, dass unsere Sprache und vielmehr die Gesellschaft gegenüber einigen Minderheiten feindlich ist und das hier Abhilfe geschaffen werden muss. Allerdings sind die Rechts-Konservativen bisher nicht dadurch aufgefallen, dass sie sich für digitale Barrierefreiheit oder eine verständliche Sprache einsetzen. Im Gegenteil bekämpfen viele von ihnen die digitale Barrierefreiheit und verständliche Sprache, wo sie nur können. Sie sind gegen die Rechte von Minderheiten oder nutzen das Argument als rechts-populistisches Instrument – damit möchte ich nichts zu tun haben. Hier gilt das Gleiche, was ich oben angesprochen habe: Es werden nur Argumente gesammelt, um gegen etwas zu mobilisieren oder banale Abwehr-Reflexe zu bedienen, das hat nichts mit Inklusion und Barrierefreiheit zu tun, sondern ist plumper Rechts-Populismus.

Sehbehinderte und Lese-Behinderte

Alles Ungewohnte kann den Lesefluss stören und Sternchen oder Unterstriche mitten im Wort sind tatsächlich ungewohnt.
Stark Sehbehinderte arbeiten mit teils hohen Vergrößerungsgraden. Dadurch werden Abstände zwischen den Wörtern schnell als Leerzeichen wahrgenommen, da man sowohl den * oben als auch den Unterstrich unten schnell übersehen und als Leerraum interpretieren kann. Daher sind Schrägstrich und Doppelpunkt für Sehbehinderte besser geeignet.
Lese-behinderte Menschen lesen sehr langsam und lassen sich schnell aus dem Konzept reißen. Für sie sind die Leerräume, die durch Stern und Unterstrich erzeugt werden sowie das angehängte „Innen“ eine Verkomplizierung des Textes. Auch sie kommen mit Schrägstrich und Doppelpunkt besser klar, weil diese zumindest den Abstand zwischen den Worten nicht so groß machen. Das ist aber keine optimale Lösung. Menschen mit geringer Lese-Erfahrung können Zeichenketten weniger gut überspringen als Menschen mit großer Lese-Erfahrung, Letztere geben aber den Ton an.

Leichte und einfache Sprache

Eindeutiger ist meine Einschätzung bezüglich Leichter Sprache und einfacher Sprache. Handelt es sich nicht gerade um Spezial-Texte, die sich um das Thema Diskriminierung oder Gender drehen, sollte hier auf sämtliche Varianten des Gender-Mainstreamings inklusive des Gender-Unds verzichtet werden. Ich würde hier absolute Priorität auf die Lesbarkeit und Verständlichkeit legen. Und leider erfüllt keine mir bekannte Variante diese Anforderungen.
Für Personen, die gerade Deutsch lernen ist die deutsche Sprache sehr komplex. Gender ist hier nicht entscheidend, zumindest, wenn nicht wie unten geschildert doppelt oder mehrfach gegendert wird.
In der Regel kann man dieses Problem aber umgehen, in dem man unterschiedliche sprachliche Kniffe anwendet. Man kann zum Beispiel die Leser:Innen direkt ansprechen.
Für die einfache Sprache wäre das große Binnen-I die am leichtesten lesbare Variante. Für die Leichte Sprache sollte generell auf Gendern verzichtet werden, so meine Einschätzung.

Asperger und Autismus

Auch für Menschen mit Autismus und Asperger-Syndrom kann ge-genderter Text schwierig sein.
Menschen aus dem Autismus-Spektrum können schlechter mit Störungen oder Abweichungen umgehen bzw. sie ausblenden. Es fällt ihnen daher auch schwerer, sich an neue Schriftformen anzupassen. Das Autismus-Spektrum ist allerdings recht groß und es mag sein, dass die Sonderzeichen für Einige störender sind als für Andere.
Für diese Gruppe dürfte das Gender-Und am wenigsten störend sein, da es das Schriftbild nicht verändert. Bisher habe ich allerdings noch keine Wortmeldung aus der Autismus-Community zu diesem Thema gehört und möchte es ihnen überlassen, sich dazu zu äußern, was für sie am besten funktioniert.
Hinweis: Ursprünglich hatte ich auf den Beitrag einer Autistin zu diesem Thema verlinkt, der aber aus dem Web verschwunden ist.

Blinde und Vorlese-Software für Lese-Behinderte

Kurz zum Hintergrund: Sprachausgaben von Blinden und Lesebehinderten lassen sich so einstellen, dass sie Satzzeichen entweder vorlesen oder ignorieren. Standardmäßig werden Kommata, Interpunktionspunkte und ähnlich häufige Zeichen nicht vorgelesen. Es stört einfach den Lesefluss und an der Intonation kann man in der Regel auch hören, welches Zeichen da steht.
Generell verfügen Desktop-Screenreader wie NVDA oder Jaws über mehr Konfigurations-Möglichkeiten als mobile Screenreader wie Android Talkback oder iOS VoiceOver. Darüber hinaus hat aber jeder Screenreader bzw. jede Sprachausgabe eine eigene Policy dazu, welche Zeichen in welchem Kontext vorgelesen werden oder nicht. Das Sternchen wird aber regelmäßig vorgelesen, da es im anderen Kontext im Web wichtig ist: So wird es z.B. zur Kennzeichnung von Pflichtfeldern in Formularen oder für den Hinweis auf Kleingedrucktes verwendet.
Für Blinde ist es prinzipiell schwieriger, Störungen auszublenden. Eine sehende Person ist besser in der Lage, Zeichen innerhalb eines Wortes oder komplexe Konstrukte wie „der/die Notar*In“ zu überspringen. Die Blindenschrift muss zeichenweise gelesen werden, die Sprachausgabe liest prinzipiell erst mal alles vor.

Der Gender-Schrägstrich

Pilot/innen, Aktivist /innen, Polizist/innen –
Der Gender-Schrägstrich ist eine beliebte Variante. Der Screenreader liest:
PilotSchrägstrichinnen, AktivistSchrägstrichinnen, PolizistSchrägstrichinnen –

Das Gender-I

PilotInnen, AktivistInnen, PolizistInnen
Diese Variante klingt mit der Sprachausgabe ein wenig besser, aber wirklich nur ein wenig. Mit dem Screenreader klingt das so:
Pilot innen, Aktivist innen, Polizist innen
Es klingt also wiederum wie zwei Worte, als ob hinter dem Substantiv das Wort „innen“ käme. Das klingt unlogisch und stört daher den Lesefluss.

Das Gender-Sternchen

Das Sternchen soll sämtliche möglichen Geschlechter abdecken.
Pilot*innen, Aktivist*innen, Polizist*innen –
Für Sprachausgaben ist das nicht optimal. Wir lesen:
PilotSterninnen, AktivistSterninnen, PolizistSterninnen
Es klingt also wie beim Schrägstich so, als ob es sich um ein Wort handelt, in welches das Wort „Stern“ eingefügt wurde.

Der Gender-Unterstrich/Gap

Der Gender-Gap soll alle Geschlechter meinen, ähnlich wie das Gender-Sternchen.
Pilot_innen, Aktivist_innen, Polizist_innen
Der Screenreader liest:
Pilotunterstrichinnen, Aktivistunterstrichinnen, Polizistunterstrichinnen

Das Gender-Und

Pilotinnen und Piloten, Aktivistinnen und Aktivisten, Polizistinnen und Polizisten
Hier kann ich mir die Screenreader-Variante sparen, denn es wird genau so vorgelesen, wie es da steht.
Aber das sind doch auch schon wieder drei Worte? Ja, aber drei Worte, die logisch mit einem und verkettet sind. Es entspricht unserem Sprachgefühl. Und nach einem „Pilotinnen und“ ist relativ sicher, dass ein „Pilot“ nachgeschoben wird. Der Lesefluss fließt.
Ein Problem ergibt sich allerdings, wenn solche Varianten gehäuft, etwa in einem einzigen Satz auftreten.
„Die Ärztinnen und Ärzte, die Pflegerinnen und Pfleger und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“
Wir haben hier eine Vermehrfachung der Wortmenge, ohne dass für die Leser:in ein echter Mehrwert an Informationen geschaffen wird.
Anzumerken ist auch, dass durch das und nur weiblich und männlich repräsentiert sind.
Mittlerweile halte ich diese Paarbildung für die schlechteste Variante überhaupt.

Der Gender-Doppelpunkt

Aktuell halte ich den Doppelpunkt für die beste Variante für blinde Personen. Der Doppelpunkt wird in der Standard-Konfiguration „einige Zeichen lesen“ der gängigen Screenreader ignoriert, also nicht vorgelesen. Auch Sehbehinderte sollte er nicht stören, da er weniger Abstand zwischen den Zeichen erfordert als der Gender-Stern oder der Unterstrich.

Von einigen – vor allem Sehenden -wird eingewendet, der Doppelpunkt würde eine zu lange Pause erzeugen. „Lang“ ist in diesem Zusammenhang relativ. Ich konnte in keinem Screenreader besagte Pause feststellen.

Das Problem in Blindenschrift/Braille

Insbesondere für die Leser der Blindenschrift ist wünschenswert, dass sich eine einheitliche Variante durchsetzt: Es sind teils koplexe Konstrukte notwendig, um die Zeichen darzustellen.
In der deutschen Braille-Schrift gibt es generell keine eigenen Zeichen für Großbuchstaben. Man kann mit Braille maximal 64 Zeichen darstellen, sie sind bereits mit den gängigen Buchstaben und anderen Zeichen besetzt. Nur zur Erinnerung: In der Schwarzschrift, wie wir sie nennen, gibt es eigene Zeichen für Groß- und Kleinbuchstaben, das kleine a ist eben keine minimisierte Form des großen A, beides sind vollkommen verschiedene Zeichen.
Um Großbuchstaben zu kennzeichnen wird dem Großbuchstaben ein Sonder-Zeichen vorangestellt. Verwendet man also etwa das Gender-Sternchen mit folgendem großen I, hat man zwei Sonderzeichen mitten im Wort. Das ist eine Frage der Lese-Gewohnheiten. Allerdings ist es störend, wenn das Zeichen jedes Mal ein Anderes ist, also Sternchen, Schrägstrich, Unterstrich und so weiter. So kann sich keine Gewöhnung einstellen.
Zu bedenken ist außerdem, dass ein Blinder nicht „vor“-lesen kann. Ein Blinder ist gezwungen, Zeichen für Zeichen zu lesen, während ein Sehender bis zu fünf Zeichen auf einmal erfasst. Für Blinde, insbesondere für Braille-Anfänger, können gegenderte Texte deshalb sehr schwierig werden.
Es sei auch noch darauf hingewiesen, dass selbst geübte blinde Braille-Leser nur eine vergleichsweise geringe Lese-Geschwindigkeit erreichen können. Für einen blinden Braille-Leser sind 100 Wörter pro Minute ein hervorragendes Tempo. Ein sehender Leser soll bereits ab der Mittelstufe mindestens 150, besser 200 bis 250 Wörter pro Minute lesen können. Das heißt, jede Verkomplizierung oder Verlängerung ist in Braille eine Herausforderung.
Eine einheitliche Sonder-Lösung für Braille scheidet leider ebenfalls aus. Das hätte den Charme gehabt, dass man das Wirrwarr der gedruckten Schrift hätte umgehen können. Allerdings ist man in den Gremien zu Recht der Meinung, dass man sich möglichst wenig von der Schwarzschrift entfernen sollte. Insbesondere Blinde im Arbeitsleben müssen wissen, wie sie Texte korrekt schreiben, also auch, welche Gender-Variante verwendet wird, alles andere ist unprofessionell.
Wer Technik wie Screenreader oder Braillezeilen nutzt, kann die Text-Darstellung in gewissem Maße anpassen. Bei gedruckten Texten in Braille funktioniert das allerdings nicht – wieder ein Punkt, den die Gender-Befürwortenden nicht verstanden haben oder verstehen wollen.

Das Problem des Doppel- und Mehrfach-Gender

Die komplexeste und am wenigsten barrierefreie Variante ist das doppelte und das mehrfache Gendern innerhalb eines Satzes.
Variante 1, einfach gegendert:
„die Polizist*In“
Variante 2, doppelt gegendert:
„Der/die Polizist*In“
oder
„ein/eine Polizist*In“
Der Screenreader liest:
„derSchrägstrichdie Poliziststernin“
„einschrängstricheine Poliziststernin“
Entscheiden Sie selbst, ob Sie das gut lesbar finden. Solche Ketten können im Prinzip beliebig häufig in einem Satz vorkommen.

Das Problem der Sprach-Assistenten und Vorlese-Tools

Es gibt verschiedene Sprach-Synthesizer, die mittlerweile eine große Rolle außerhalb der Blinden-Szene spielen. Wichtig sind etwa die Vorlese-Funktionen etwa von eBook-Readern für lesebehinderte Personen sowie für die Nutzenden von Sprach-Assistenten wie Alexa. Diese Sprachausgaben sind weit weniger steuerbar als die Sprachsynthese-Programme für Blinde. Man ist also weitgehend abhängig von den Anbietern. Das Argument, man könne seine Sprachausgabe entsprechend konfigurieren ist eben nicht korrekt.

Wie sollte ein barrierefreies, gendergerechtes Zeichen aussehen?

Alle gängigen Zeichen zum Gendern haben gravierende Nachteile. Sie werden entweder von Speech-to-Text-Software vorgelesen und maximieren dadurch die kognitiven Anforderungen. Oder sie dienen grammatikalisch bzw. traditionell anderen Zwecken: Das Sternchen ist keineswegs wie oft behauptet neutral, sondern wird etwa zum Markieren von Pflichtfeldern oder für Anmerkungen/Fußnoten benutzt. Der Unterstrich erhöht den Abstand zwischen Worten und kann schlecht gesehen werden, weil er sich praktisch am unteren Ende der Zeichenkette befindet.
Es wäre also sinnvoll, ein neues, neutrales Zeichen zu verwenden. Folgende Anforderungen müssen zumindest erfüllt sein:
– Es muss auf allen Tastaturen vorhanden sein bzw. ohne großen Aufwand wie das Drücken zahlreicher Tasten gleichzeitig erstellt werden können.
– Es darf den Abstand zwischen den Worten nicht zu stark erhöhen, damit es nicht die gleichen Probleme wie Stern und Unterstrich schafft.
– Es muss sich auf der Mittellinie einer Textzeile befinden, wenn also etwa ein großes X daneben steht, sollte es auf der gleichen Höhe sein wie der Mittelpunkt vom X.
– Es darf nicht mit einem anderen wichtigen Zeichen verwechselbar sein.
Hat man dieses neutrale Symbol, kann den Entwicklern von Text-to-Speech-Software mitgeteilt werden, wie dieses Symbol ausgesprochen bzw. nicht ausgesprochen werden soll.

Fazit

Sie haben die Qual der Wahl: Gendern Sie, erhöhen Sie die Barrieren für Menschen, die ohnehin benachteiligt sind. Gendern Sie nicht, wird das als Diskriminierung wahrgenommen.
Wünschenswert ist in jedem Fall, dass sich eine einheitliche Variante durchsetzt. Setzt sich eine Variante flächendeckend durch, steigt die Lese-Erfahrung damit und die Argumente haben sich weitgehend erledigt. Eine Ausnahme würde ich bei der Leichten Sprache machen, hier gilt nach wie vor, dass jede Form von Komplexität die Lesbarkeit und damit die Verständlichkeit verringert. Allerdings bin ich kein Experte für Leichte Sprache und überlasse diese Diskussion den Personen, die sich täglich damit beschäftigen.
Der Doppelpunkt scheint aktuell die beste Variante für alle Gruppen zu sein. Er wird von Sprachausgaben nicht standardmäßig vorgelesen und er ist leichter lesbar als Stern oder Unterstrich, weil er den Abstand zwischen den Zeichen nicht so stark vergrößert und sich besser in den Lesefluss einfügt.
Aus der Perspektive einiger Gender-Befürwortenden sind die oben genannten Varianten allerdings nicht gleichwertig. Hier wird der Gender-Stern oder Unterstrich bevorzugt.

2 Gedanken zu „Gendern – warum Unterstrich und Stern nicht barrierefrei sind“

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