Barrierefrei ist mehr als Sprachausgabe und Alternativtext

inklusion-gruppe-menschenIn den letzten Jahren haben erfreulicherweise die Artikel über digitale Barrierefreiheit zugenommen. Fast jeden Tag erhalte ich Hinweise auf Beiträge bei Spiegel Online und Co. Allerdings verbreite ich diese Artikel selten weiter, weil sie meines Erachtens zu stark auf Blindheit fokussieren. Wie oft lese ich auf Twitter sinngemäß: „Es funktioniert mit Sprachausgabe, also ist es barrierefrei“. Das offenbart eine falsche Ansicht von Barrierefreiheit. Die umgekehrte Aussage „Es funktioniert nicht mit Sprachausgabe, also ist es nicht barrierefrei“ wäre hingegen vollkommen korrekt.
Das erinnert mich an einen ehemaligen Schulkameraden, der jetzt Fachinformatiker ist. Ich erzähle ihm, die Anwendung X wäre nicht barrierefrei, genauer gesagt nicht mit Screenreader nutzbar. Er sagt dann regelmäßig: Doch, die ist barrierefrei, Du musst einfach nur… stellen Sie sich eine gewundene Anleitung vor, die etwas mit Fensterklassen und Screenreader-Cursorn zu tun hat, von denen ich noch nie gehört habe, außerdem sollen vier Tasten gleichzeitig gedrückt und vorher noch das Soundso-Skript heruntergeladen werden. Er hat eine etwas verschrobene Vorstellung von einfach, aber auch wie viele super-fitte Blinde das Konzept von Barrierefreiheit nicht ganz verstanden. Viele von ihnen haben kein Gefühl für die technischen Fähigkeiten anderer Blinder oder eine Idee davon, dass man auch mehrere Einschränkungen haben kann, dass also etwas, was für sie gut funktioniert für andere Blinde oder andere Behinderte nicht gut funktionieren muss.

Drängeln sich die Blinden vor

Meistens beginnen die Artikel vielversprechend. Liest man aber zwei Absätze weiter, werden nur noch Sprachausgaben und Alternativtexte erwähnt. Ein schönes Beispiel war ein Artikel – ich verlinke ihn hier absichtlich nicht – wo zunächst ein blinder Nutzer und anschließend ein blinder Entwickler vorgestellt wurden. Der Eine vertrat die Nutzer:Innen-Perspektive, der Andere die Entwickler:Innen-Perspektive.
Das ist nett, scheint mir aber nicht ausgewogen zu sein. Es gibt sicher Autist:Innen oder Gehörlose, welche die eine oder andere Perspektive hätten beisteuern können. Es leuchtet nicht ein, warum Blinde, deren Belange bei digitaler Barrierefreiheit eigentlich immer erwähnt werden, so deutlich hervorgehoben werden. Wenn ich etwa interviewt werde, muss ich natürlich etwas zum Thema Blindheit sagen, aber ich erwähne auch immer weitere Gruppen, weil ich finde, dass sie im Diskurs um digitale Barrierefreiheit vergessen werden, im übrigen auch von Leuten, die sich in der Materie auskennen. Ich lese zum beispiel etwas über Alternativtexte und Großschreibung bei Hashtags, aber das die Tweets in einer Sprache geschrieben sind, die nicht mal ich als Akademiker verstehe kommt nicht vor. Oder die Unart, irgendwelche Standpunkte oder anderen Blödsinn in den Twitternamen zu packen, so dass man erst irgendeinen Blödsinn vorgelesen bekommt, bevor man den Tweet zu lesen bekommt. Es ist eben typisch für Sehende, die nicht kapiert haben, dass Blinde solche Dinge nicht einfach überspringen können.

Blindheit ist plastisch

Der Grund dafür ist klar, die Belange von Blinden lassen sich sehr einfach beschreiben. Der Alternativtext wird so gerne erwähnt, weil er als Beispiel einfach und einleuchtend ist.
Und es stimmt auch teilweise: Ist eine Webseite per Tastatur bedienbar, sind Formular-Beschriftungen richtig gesetzt und ist die Semantik korrekt, können auch andere wie Tastatur- oder Sprachausgaben-Nutzer:Innen profitieren.
Allerdings sind die Schnittmengen damit fast schon erschöpft. Blinden ist der Kontrast einer Webseite völlig egal, aber der viel größeren Gruppe der Sehbehinderten durchaus nicht.
Noch schwieriger wird es beim Thema kognitive Behinderung, Gehörlosigkeit oder Lernbehinderung. Die erstere Gruppe wurde in den Richtlinien bislang stark vernachlässigt. Bei den letzten beiden Gruppen wissen wir, dass Leichte und Gebärdensprache die Lösung wären, setzen es aber unzureichend um. Aber nur, weil deren Belange schwerer zu beschreiben sind heißt das nicht, dass man sie im Diskurs unterschlagen darf.

Fazit: Blindheit ist wichtig, aber nicht alles

Seitdem ich mich mit dem Thema Barrierefreiheit beschäftige wundere ich mich, wie viel Gewicht auf das Thema Blindheit gelegt wird und wie wenig die anderen Personengruppen Erwähnung finden. Es ist nicht weiter erstaunlich, dass Blinde sich selbst in den Vordergrund stellen, man kann das als Gruppen-Egoismus begreifen. Das ist allerdings recht engstirnig. Wir finden es auch nicht schön, dass räumliche Barrierefreiheit vor allem aus der Perspektive der Gehbehinderung gedacht wird. Meines Wissens gibt es keine andere Gruppe, die behaupten würde, eine Webseite sei barrierefrei, weil sie für ihre Form von Behinderung funktioniert. Wir Blinde tun das andauernd.
Natürlich ist es vollkommen legitim, für die eigenen Interessen bzw. Gruppen-Interessen zu kämpfen. Das sollte man dann aber nicht mit einem Kampf für mehr Barrierefreiheit verwechseln.
Ich darf meine blinden Leser:Innen um ein wenig mehr Generosität und Weitblick gegenüber anderen Betroffenen-Gruppen bitten. Wenn wir bei diesem Thema stärker nach links und rechts schauen und andere Gruppen einbeziehen, werden wir – da bin ich mir sicher – alle profitieren.