Die Mobilitätswende wird ohne Barrierefreiheit scheitern

autoDer Diskurs um die Verkehrswende ist von einem fatalen Missverständnis geprägt: Es geht stets um den fitten Middle Ager, der problemlos zwischen Car Sharing, privatem Auto, Fahrrad und ÖPNV wechseln kann. Den gibt es tatsächlich, aber er ist in der Minderheit. Die Mehrheit hat wenig bis keine Auswahl für ihr präferiertes Verkehrsmittel, weil sie auf dem Land lebt oder kein Geld hat. Viele ältere Menschen können rein physisch weder einen E-Roller noch ein Fahrrad nutzen. Viele Gehbehinderte können Bus und Bahn nicht nutzen. Sie kommen nicht in das Fahrzeug, weil sie keine Stufen steigen können. Oder sie müssen insbesondere heute dank des 9-Euro-Tickets befürchten, keinen Sitzplatz zu finden. Ein 30-jähriger kann problemlos eine Stunde stehen oder auf dem Boden Platz nehmen, ein 70-jähriger hat dafür nicht die Beweglichkeit oder Energie.
Hinzu kommen die Mobilitätsbehinderten. Rollstuhlfahrende werden wegen nicht-barrierefreier Wohnungen oder teurer Mieten – sie brauchen größere Wohnungen – aus der Metropole verdrängt. Sie landen, wenn sie Glück haben, in der Peripherie der Großstadt oder auf dem Land. Sie haben meist keine Alternative zu einem privaten Fahrzeug, weil die versprochene Barrierefreiheit des ÖPNV Theorie geblieben ist. Sehbehinderte und Blinde haben diese Wahl gar nicht. Für sie heißt das: Kein ÖPNV = keine Mobilität.
Es gibt eine große Schnittmenge zwischen behinderten und älteren Menschen und finanzieller Armut. Gewiss muss niemand von uns Hunger leiden, doch gibt es außer für Blinde keinen pauschalen finanziellen Ausgleich für die Behinderung. Die Teuerung von Energie, ÖPNV, Mieten und so weiter schlägt umso härter zu Buche. Viele Hilfen sind auf Steuer-Erleichterungen ausgelegt, das hilft aber jenen nicht, die keine oder kaum Einkommenssteuer zahlen. Weniger Geld heißt in der Regel weniger Möglichkeiten der Mobilität.
Mein Eindruck ist, dass die Medien und die Politik in einem Takatukaland mit Wünsch-Dir-Was gefangen sind. Man hört nur Fahrrad hier, Tesla da. Das Fahrrad ist wie oben geschildert ungeeignet und der Tesla ist ein teures Hipster-Spielzeug.
Die Probleme sind seit Jahrzehnten bekannt. Die Lösungen übrigens auch: Die Anschaffung behindertengerechter Fahrzeuge, die verbesserte Taktung für das Land, ggf. auch rollstuhlgeeignete Anruf-Sammel-Taxis, die barrierefreie Umgestaltung der gesamten Infrastruktur, genügend Sitzplätze, sichere Fahrzeuge insbesondere für Ältere und Frauen und so weiter. Möglicherweise gibt es auch für ältere Menschen geeignete Alternativen zu E-Rollern und Leihfahrrädern, dazu kenne ich micht zu wenig aus. Ich denke zum Beispiel an Elektro-Mobile analog der Motor-Rikschas, wie sie in Südasien üblich sind.
Leider wird es nicht dazu kommen, da wir in den letzten Jahren und Jahrzehnten Autominister statt Verkehrsminister hatten. Die Einen waren nur unfähig, die Anderen haben die Verkehrswende aktiv blockiert. Von der FDP ist tatsächlich in der aktuellen Regierung gar keine Initiative zu erwarten, außer Ideen Anderer ablehnen kann diese Partei offenbar nichts.
Meines Erachtens liegt hier tatsächlich ein Verstoß gegen die Bürger- und Menschenrechte vor. Durch mangelnde Barrierefreiheit wird die Freiheit eingeschränkt: Die Freiheit, unterwegs zu sein, die diversen Angebote zu nutzen, die Wahl-Freiheit – weil man nur die barrierefreien Möglichkeiten nutzen kann.
Leider ist das oben beschriebene Problem – Verantwortliche optimieren Strukturen und Prozesse für sich selbst – symptomatisch für unsere Gesellschaft. Das mag in Gesellschaften mit einer überwiegend jungen Bevölkerung funktionieren. Dazu gehört aber keiner der westlichen Staaten. Nicht nur die Mobilitätswende, sondern auch viele andere große Themen wie die Digitalisierung werden an dieser Herausforderung scheitern oder zumindest verlangsamt. Das wir sehenden Auges in diese Probleme hineinlaufen ist ignorant. Es gibt ja Instrumente wie Design Thinking, die genau dafür diese Probleme bekämpfen sollen.
The mobility revolution will fail without accessibility