In den letzten Jahren hat die Zahl an Schrott-Studien massiv zugenommen: Es handelt sich um pseudo- oder empirisch nicht haltbaren Untersuchungen, bei denen entsprechend nur Unsinn herauskommt. Das spielt auch in der digitalen Barrierefreiheit eine zunehmende Rolle.
Was sind Schrott-Studien
Schrott-Studien sind Untersuchungen verschiedener Formate, die eine bestimmte Aussage bestätigen oder widerlegen sollen. Die Anführungsstriche bei Studie muss man sich immer dazu denken, das Wort soll dem Ganzen einen objektiven Anstrich verleihen.
Bestimmte Merkmale haben diese Studien gemeinsam:
- Die Aussage, die bestätigt oder widerlegt werden soll, steht bereits im Voraus fest. Wissenschaft ist generell offen, wenn nicht das gewünschte Ergebnis rauskommt, rechnet man nicht solange herum, bis es doch passt.
- Das Studien-Design ist fehlerhaft. Befrage ich Webseiten-Betreibende, ob sie Barrierefreiheit beachten wird ein anderes Ergebnis herauskommen als wenn ich mir ihre Webseiten anschaue.
- Die Methodik ist fehlerhaft: Ich arbeite mit nicht-repräsentativen Stichproben, selektiere die Befragten nach eigenen Kriterien, verwende Suggestiv-Fragen und so weiter.
- Die Ergebnisse werden falsch oder verzerrend dargestellt.
Praktisch immer geht es bei solchen Studien um PR. Entweder möchte man einfach ein paar Schlagzeilen erzeugen oder ein Angebot verkaufen. Auf Portalen für Pressemitteilungen findet man fast stündlich solchen Junk.
Beispiele für Schrott-Studien in der digitalen Barrierefreiheit
Schauen wir uns ein paar Beispiele an. Jüngstes Beispiel aus 2024 ist der Atlas digitale Barrierefreiheit . Zusammengefasst wird dort der Begriff digitale Barrierefreiheit verwendet, obwohl Faktoren geprüft werden, die damit wenig zu tun haben. Das Studien-Design wird nicht transparent gemacht. Die Ergebnisse und deren Kommunikation vermitteln ein falsches Bild von digitaler Barrierefreiheit.
Selbst Bundes-Einrichtungen sind vor solchem Unsinn nicht geschützt. Die Überwachungsstelle des Bundes für digitale Barrierefreiheit veröffentlichte 2021 Jahr eine Studie zu gendergerechter Sprache. Im Endeffekt hatte sich eine – meines Erachtens nicht besonders erfahrene – Person mit Screenreadern verschiedene Kombinationen von Zeichen angeschaut und es wurden Verantwortliche aus Behinderten-Verbänden befragt. Man hätte auch einfach raten können, das hätte weniger Zeit gekostet. Das Studien-Design ergibt keinerlei brauchbare Erkenntnisse, was leider auf viele Studien dieses Bereiches zutrifft. Still und leise ist man zwischenzeitlich von der Empfehlung des Gendersterns abgerückt mit der neueren Publikation „Die digitale Barrierefreiheit auf der semiotischen Ebene der Genderzeichen“, wo auf einmal kein bestimmtes Zeichen mehr empfohlen wird.
Die WebAIM-Studie habe ich ja bereits zerpflückt. Nur in Kürze: Man leitet aus einem automatischen Prüf-Tool die Barrierefreiheit einer großen Zahl von Websites ab, ohne Probleme zu gewichten. Ob 1 oder 100 Fehler, ob kleine Macke oder Riesen-Fehler, für WebAIM ist das alles das Gleiche. Das hilft dem Diskurs um Barrierefreiheit meines Erachtens nicht weiter.
Ein weiteres aktuelles Beispiel ist die Studie zur Barrierefreiheit von Onlineshops der Aktion Mensch und der Pfennigparade. Hier ist das Problem weniger das Studien-Design als die Herausgeber selbst: Die Aktion Mensch, die selbst einen Onlineshop betreibt, der nicht barrierefrei ist: Das nennt man doppelte Standards; Anderen vorwerfen, dass sie nicht barrierefrei sind, es aber selbst nicht auf die Reihe bekommen. Und die Pfennigparade, selbst ein Dienstleister für Barrierefreiheit, was deren Neutralität bei solchen Erhebungen in Frage stellt. Ja, auch der Absender einer Studie ist wichtig, wenn er nicht neutral ist oder mögliche Interessenskonflikte nicht offenlegt. Die Aktion Mensch, die selbst besonders hohen Standards folgen sollte und es in 15 Jahren nicht geschafft hat, die Gewinnspiele, ihren Loskonfigurator oder Losdesigner barrierefrei zu machen sollte anderen Shops deren mangelnde Barrierefreiheit nicht vorwerfen, Der Gipfel an Peinlichkeit ist der Einsatz eines Accessibility Overlays, um die eigene Unfähigkeit noch mal zusätzlich herauszustellen. Da hat sich der Bock zum Gärtner gemacht. Vielleicht hätten sie das Geld für die Studie lieber in ein fähiges Online-Team stecken sollen. Aber die Aktion Mensch war immer besser darin, anderen zu sagen, was sie falsch machen als es selbst richtig zu machen. Das I-Tüpfelchen ist der Umstand, dass sie den Einsatz von Overlays fördern statt Dienstleister, die wirklich Barrierefreiheit herstellen.
Teile keine Studie, die du nicht verstehst
Das Problem: Kaum jemand macht sich tatsächlich die Mühe, das Studien-Design genauer anzusehen. Zumeist werden nur Überschriften und vielleicht die Zusammenfassungen gelesen. Der Quatsch wird dann mit einem Klick in Social Media geteilt, wahrlich kein Platz für tiefe Diskurse.
Man muss nicht wirklich tief in empirischer Forschung drin stecken, um die Angemessenheit von Methoden, Untersuchungs-Gruppen oder Prämissen infrage zu stellen. Meine Empfehlung lautet daher, solche Untersuchungen gänzlich zu ignorieren, wenn man nicht die Zeit hat, sie genauer zu prüfen. Oder fragen Sie jemanden, der sich auskennt.