Jobs zur Barrierefreiheit – die realitätsfremden Erwartungen im öffentlichen Dienst

Ich beobachte ja seit einigen Jahren den Jobmarkt für Barrierefreiheits-Expert:Innen. Während im angloamerikanischen Raum ein gewisser Anstieg zu sehen ist, sieht es in Deutschland anders aus. Nach meinem subjektiven Gefühl, es fehlt die Daten-Basis, sind es vielleicht ein halbes Dutzend Stellen, die aktuell real verfügbar sind. Man muss dabei die Pseudo-Stellen wie etwa die von Materna abziehen, es ist kaum wahrscheinlich, dass ein großes Unternehmen so lange an so vielen Standorten nach Barrierefreiheits-Consultants sucht. Anlass für diesen Beitrag ist der Artikel The crisis is real: Where are the web accessibility professionals? bei WebAIM.
Nun gibt es diesen Mangel an Expert:Innen, vor allem, weil es bis heute weder in ausbildung noch im Studium vorkommt. Man muss sich das autodidaktisch aneignen oder gut Englisch können, weil es da reichlich Kurse zur Auswahl gibt.
Interessant ist aber, welch unrealistische Erwartungen gerade der öffentliche Dienst hat. Da wird tatsächlich ein Studium der Informatik oder vergleichbar eingefordert, als ob es nicht Informatiker:Innen gäbe, die nie mit HTML in Berührung gekommen sind. Und als ob das Testen auf Barrierefreiheit für diese Personen ein interessantes Betätigungsfeld wäre.
Aber nehmen wir an, wir haben so einen Wunderknaben: Warum sollte er sich im öffentlichen Dienst auf eine Stelle bewerben, die ähnlich wie eine Online-Redakteur:In besoldet ist? Nach meiner Beobachtung sind für solche Stellen TVÖD 12 bis 13 üblich. Das bekommen häufiger Menschen aus der Kommunikation, der einzige Bereich, den ich kenne. Das Gehalt ist für den öffentlichen Dienst durchaus nicht schlecht. Aber es ist weit weg von dem, was eine IT-Absolvent:In verdienen kann, die direkt in die IT geht oder gar in die Privat-Wirtschaft.
Faktisch hätten die meisten Leute, die heute in der Barrierefreiheit arbeiten keine Chancen auf diese Stellen, weil sie die formalen Voraussetzungen nicht erfüllen. Die meisten Consultants und Web-Entwickler:Innen, die ich kenne sind Quereinsteigende aus anderen Bereichen. Keiner hat eine bodenständige Informatik-Ausbildung gemacht. Andersherum ist die Web-Entwicklung für die meisten Informatiker:Innen nicht interessant: Wenn überhaupt, kann man in der regulären Software-Entwicklung deutlich mehr verdienen.
Fassen wir zusammen: Der ÖD hat nicht nur unrealistische Erwartungen, sondern zahlt auch zu schlecht. Meiner Erfahrung nach ist es auch mit der Inklusion oder der Nicht-Diskriminierung Behinderter im ÖD auch nicht so weit her. Ich kenne einige blinde mit IT-Ausbildung, die trotz Berufserfahrung nicht genommen wurden – wo ist wohl der Fachkräftemangel geblieben? Viele große Unternehmen und manch Mittelständler ist deutlich weiter, was Diversität und Inklusion angeht. Die Behörden sind vor allem ab der Führungsebene weiß, überweigend männlich, eher Müller und Schmitz statt Öztürk oder Wischnewski.
Mit der Barrierefreiheits-Kultur innerhalb der Behörden ist es Berichten Befreundeter auch nicht so weit her: So dauert es ewig, bis man die assistiven Technologien eingerichtet bekommt, gerne werden auch Systeme wie Citrix eingesetzt, welche die assistiven Technologien aushebeln. Die IT ist vor allem, was assistive Technologien angeht in der Steinzeit verblieben, übrigens auch bei den ansonsten gut ausgestattteten Bundesbehörden, in den Kommunen und Kreisen sieht es noch schlechter aus. Ausgerechnet der ÖD hat teils wesentlich schlechtere Arbeitsbedingungen für Behinderte als große Teile der Privat-Wirtschaft. Insgesamt würde ich keinem jungen Menschen, erst Recht keinem Behindertem, empfehlen, eine Karriere im ÖD zu starten. Die unglaublich langsamen, formalistischen und verkrusteten Prozesse findet man in vielen großen Organisationen, doch im ÖD sind sie noch hartnäckiger.
Es ist also kein Wunder, dass der ÖD keine Barrierefreiheits-Kompetenz aufbauen kann. Eventuell ist es sogar besser, dass er sie von Fremden einkauft.
Zu Beginn meiner Karriere hatte ich mich tatsächlich viel auf Stellen im ÖD beworben im irrigen Glauben, diese würden es mit der Anti-Diskriminierung ernst meinen. Heute bin ich froh, dass es damals nicht geklappt hat. Unabhängig von der Barrierefreiheit hat der ÖD, also die Verwaltung einfach die moderne Zeit verpasst. Im Privat-Unternehmen verdient man mehr, als Freelancer hat man mehr Freiheiten. Der ÖD ist für Barrierefreiheits-Profis schlicht nicht attraktiv.

Ein Gedanke zu „Jobs zur Barrierefreiheit – die realitätsfremden Erwartungen im öffentlichen Dienst“

  1. Moment mal, im letzten Absatz schreibst du doch, du hast selbst nie im ÖD gearbeitet?

    Ich arbeite seit 1995 im ÖD.
    Zugegebenermaßen an einer Universität und damit unter einem besseren und innovativeren Betriebsklima als beispielsweise bei einem Amt.

    Doch vieles was du oben schreibst, trifft trotzdem auch an einer Universität zu, weil es an den Tarifvertrag gebunden ist.
    So beispielsweise eben auch die Eingruppierung der Stelle in E9 bis E13, je nach Tätigkeit. Und auch Bürokratie ist hier vorhanden.

    ABER: Vieles was du oben schreibst ist trotzdem so nicht korrekt bzw. muss so nicht sein und ist nicht eine Eigenschaft des ÖD sondern der Menschen in einer Gruppe.

    Als ich mein Studium der Informatik (sich!) beendete dachte ich auch, dass ein Gehalt um die 100k pro Jahr das Mindeste sei. Und im ÖD sollte jeder IT Entwickler, oder überhaupt jeder der ein Diplom oder Master eines Faches hat, dann auch mit E13 eingruppiert werden.
    Damals wo ich das dachte war ich noch ..jung 😉

    Laut dem Tarifvertrag (!) den die verdi entworfen hat, ist aber für technische Tätigkeiten, wozu nun auch IT gehört, maximal E11 für Leute mit Hochschulabschluss drin, wenn es nur um die Tätigkeiten geht. Für E12 musst du ein Gruppenleiter sein und mindestens 3 Leute anweisen. Für E13 und E14 Abteilungsleiter. Das hat dann aber nichts mehr direkt mit dem Abschluss zu tun.

    Und das ist FAIR und gut so:
    Denn nur so ist es möglich, das Quereinsteiger, die beispielsweise „nur“ ein geisteswissenschaftliches Studium haben oder gar Leute mit einem Abschluss in einem Handwerkberuf und Fortbildungen, aber trotzdem die Chance haben ebenfalls Abteilungsleiter etc zu werden.

    In der Wirtschaft wirst du hier möglicherweise auf eine Barriere stoßen.

    Noch etwas was nicht unerheblich ist und die Fairniss angeht:
    Der Tarifvertrag ist offen. Und gleich. Es ist vollkommen egal ob du Frau, Mann oder Divers bist -jeder, jede, jedes wird hier gleich bezahlt. Hast du das auch in der Wirtschaft? Nein. Hier ist man noch in vielen Bereichen auf dem Stand von 1960, wo Frauen trotz gleicher oder mehr Arbeit weniger bekommen.

    Du schreibst zu recht, dass es Behörden gibt, wo die Digitalisierung ewig dauert. Ja, das stimmt.
    Aber das ist keine Eigenschaft des ÖD, sondern das liegt in der Verantwortung der dortigen Leitung. Es liegt an den Menschen, an den Entscheidern. Es gibt keine Verordnung, kein Gesetz, keine Vorgabe, die tatsächlich verhindert, dass man moderne und effiziente Verfahren nutzt.
    Was das verhindert sind stattdessen Menschen und Entscheider, die sich nicht trauen, die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Die Angst haben, dann „von oben eines auf den Deckel“ zu bekommen.

    Der große Unterschied hier ist nur eines:
    In großen Teilen der Wirtschaft gibt es ein Regulativ, der Ineffizienz bestraft: Der Kunde und der Wettbewerber.
    Wenn ein Abteilungsleiter eines Konzerns die Vorgaben nicht erfüllt oder eben die Produkte nicht ankommen, dann muss er damit rechnen, dass er nächstes Jahr sich woanders einen Job suchen muss. Weil der Konzern mit einem Federstrich eben mal so entscheidet, dass diese Bereich nicht mehr passt.
    (Ich lebe in Erlangen, einen der Hauptstandorte von Siemens.
    Einige meiner Freunde hatten die Erfahrung gemacht, dass genau das passiert. Die Konzernführung hat eine neue Strategie gemacht – Und Zack, der Geschäftsbereich wurde in eine andere Stadt verlagert. Natürlich wurde niemand gekündigt. Neeein… Aber dummerweise musste man nun 100km Pendeln, wenn man den Job behalten wollte. Toll.)

    Dieses Regulativ und diese Gefahr zwingt dazu, effizient zu arbeiten. Weil es um das eigene Überleben/Leben in der Firma geht.
    Das ist im ÖD nun nicht so. Und deswegen gibt es in der Tat bei einigen Entscheidern eine Trägheit, die effiziente Entscheidungen verhindert. Und sogar dafür sorgt, dass moderne Verfahren erst kommen können, wenn manche Personen in den Ruhestand gingen…

    Aber trotzdem: Das Potential ist vorhanden. Der ÖD muss überhaupt nicht so sein, wie du oben schriebst. Es gibt effizient und modern arbeitende Einrichtungen im ÖD.
    Es gibt auch die anderen.

    Um es kurz zu machen: Unter Menschen menschelts.
    Da kommt das Gute und das Schlechte her.
    Die Organisationsform ist da zweitrangig.

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