Wie groß ist der deutsche Jobmarkt für Barrierefreiheits-Profis?

Wie viele Barrierefreiheits-Profis werden wir der Zeit mit Anfragen überschüttet. Ich habe in den letzten 12 Monaten mehr Angebote geschrieben als in der gesamten Zeit vorher. Zudem habe ich einen guten Teil der Anfragen abgelehnt, größtenteils aus Kapazitätsgründen.

Wie viele Jobs zur Barrierefreiheit gibt es tatsächlich?

Allerdings ist das Bild verzerrt. Schaut man sich den Stellenmarkt für Barrierefreiheits-Profis an – gemeint ist hier nur digitale Barrierefreiheit – gibt es wenig bis kaum Nachfrage nach Expert:Innen.
Richtig, es gibt zahlreiche Ergebnisse, wenn man bei Interamt – der Jobbörse des öffentlichen Dienstes oder Indeed, dem Meta-Jobportal – schaut. Dabei muss man aber alle Ergebnisse rausfiltern, in denen der Begriff „Barrierefreiheit“ irgendwie vorkommt. Es gibt einige Organisationen, die sich zurecht oder unrecht für barrierefrei halten und das in ihre Jobbeschreibung aufnehmen. Zudem muss man alle Stellen rausnehmen, in denen Barrierefreiheit irgendwie vorkommt, also Redakteur:innen, Entwickler:innen, Designer:innen und einige mehr, wo es um unterschiedliche Fähigkeiten geht und der Begriff Barrierefreiheit irgendwo weit unten vorkommt. Man darf davon ausgehen, dass dann Barrierefreiheits-Fähigkeiten auch kein entscheidender Einstellungsgrund sein wird. Gehen wir einmal davon aus, dass noch mal ein halbes Dutzend Stellen irgendwo auf den Jobseiten der Einrichtungen versteckt sind bzw. so formuliert sind, dass sie mit einer einfachen Suche nicht gefunden werden können.
Dann bleiben zu fast jedem beliebigen Zeitpunkt vielleicht fünf Stellen im öffentlichen Dienst übrig. Im privaten Sektor sind es ungefähr ein Dutzend, wenn man Doppel-Aufführungen und mehrere Standorte abzieht ein paar weniger. Für ein Land mit X Kommunen, 16 Bundesländern und unzähligen Bundeseinrichtungen sowie Dutzenden größerer Agenturen und App-Entwickelnden Firmen ist das nicht besonders viel.
Auch die Unternehmen, Hochschulen, Agenturen und viele Einrichtungen mehr scheinen nicht besonders eifrig nach Barrierefreiheits-Expert:Innen zu suchen.
Wo sie es tun sind die Erwartungen häufig übertrieben. Da wird ein Studium der Informatik von jemandem erwartet, der Webseiten auf Barrierefreiheit prüfen soll. Ich habe einige Informatiker:Innen in meinen Kursen gehabt und konnte besser mit HTML und CSS umgehen als diese Personen. Wie so oft im öffentlichen Dienst stehen Angebot und Erwartung in keinem Verhältnis zu dem, was tatsächlich getan werden muss. Die meisten Barrierefreiheits-Expert:Innen sind Quereinsteiger:Innen, würden also die formalen Kriterien nicht erfüllen. Aber ein Informatik-Jungspunt aus der Uni, der nie eine Zeile HTML geschrieben hat würde mit Kußhand genommen. Der würde sich aber nicht auf so eine Stelle bewerben, weil er in der Privatwirtschaft mindestens das Doppelte verdienen kann.
Interessant ist auch, dass die Agenturen, die sich auf Barrierefreiheit spezialisiert haben nicht besonders eifrig nach neuen Mitarbeiter:Innen suchen. Natürlich ist jede Einstellung ein Risiko. Allerdings scheint der Bedarf ja da zu sein. Natürlich kann man nicht – wie viele es tun – fertige Barrierefreiheits-Expert:Innen erwarten, dafür ist die Qualifizierung in Deutschland zu lange vernachlässigt worden. Andererseits wird meines Erachtens das „Onboarding“ überschätzt. Man kann in wenigen Tagen eine technisch halbwegs fitte Person dazu befähigen, Webseiten zu testen oder PDFs barrierefrei zu gestalten. Weitere vertiefende Fähigkeiten können dann später dazu kommen, aber dies sind die Sachen, die aktuell und bis auf absehbare Zeit benötigt werden.
Was sagt uns das? Zum Einen, dass Barrierefreiheit als Nebenbei-Tätigkeit verstanden wird. Irgendwelche Personen, die angelernt werden oder auch nicht sollen es neben ihrer eigentlichen Arbeit umsetzen. Zum Anderen wird aber auch deutlich, dass auch die großen Agenturen und andere Dienstleister:Innen das Geschäftsfeld noch nicht erschlossen haben.