Technik wird nicht alle Probleme der Barrierefreiheit lösen


Es ist schon erstaunlich: Je weniger man von Technik versteht, desto größer scheint der naive Technik-Optimismus zu sein. Man könnte davon ausgehen, dass die Leute einfach naiv sind. Die Technik-Optimisten sind ganz überwiegend Leute aus Jura oder BWL, die also bei aller Antipathie noch nie etwas programmiert oder erfunden haben.
In Wirklichkeit geht es aber meistens darum, die Hände in den Schoß zu legen und das eigene Nichtstun zu rechtfertigen, vor allem zu finden bei den C-Parteien, der FDP, weniger stark, aber leider auch bei den meisten anderen Parteien, wenn es etwa um Klima- und Umweltschutz geht. Barrierefreiheit interessiert diese Leute ja nicht, ansonsten würde man dazu wahrscheinlich ähnliches von ihnen hören.
Bezüglich der Barrierefreiheit hat sich in den letzten Jahren sehr viel getan und aktuell sieht es so aus, als ob es einen größeren Sprung geben könnte, das Stichwort ChatGPT darf hier natürlich nicht fehlen. Hier einige Beispiele ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

  • maschinell erzeugte Bildbeschreibungen auf Facebook, Instagram, Chrome, Edge und Office
  • automatisch generierte Untertitel und Captions etwa auf YouTube, in Zoom, Teams und Co.
  • Leichte Sprache-Übersetzungen etwa von Summ AI
  • Verbesserungen bei automatisierten Tests

Die neue Version von ChatGPT ist bereits in der Lage, grafische Benutzeroberflächen oder komplexe Informationsgrafiken rudimentär zu beschreiben. Mit iOS kann man Einzelteile von Bildern oder UI-Elemente identifizieren lassen und vieles mehr.
Bei allem, was wir bisher gesehen haben, gibt es noch ordentlich Luft nach oben. Allerdings sind die entscheidenden Algorithmen bereits entwickelt, sie müssen vor allem weiterentwickelt, verbessert und verfeinert werden. Man braucht kein Prohet zu sein, um zu sehen, dass sie in den nächsten Jahren immer weiter verbessert werden, einfach aus dem monetären Eigen-Interesse der Unternehmen dahinter. Sie wollen ihre Anwendungen verkaufen und stehen in Konkurrenz zueinander, einer der wenigen Fälle, in denen die Marktwirtschaft etwas Sinnvolles bewirkt.
Man kann die technische Entwicklung in zwei Abstufungen einteilen: Die stetige Weiter-Entwicklung verläuft evolutionär. Es werden Dinge ausprobiert, manche davon führen zu einer Verbesserung, die sich dann allgemein ausbreitet.
Daneben gibt es mehr oder weniger komplett neue Innovationen, die man als revolutionär bezeichnen kann: Das Rad, die Dampfmaschine, das Telefon, der Computer und so weiter. Manche Entwicklungen wie das Handy, das Smartphone, das Internet und so weiter hätte man ohne Weiteres voraussagen können. Aber Voraussagen sind etwas anderes, als etwas wirklich zu erfinden. Jules Verne hat über U-Boote geschrieben, aber es hat noch eine Weile gedauert, bis sie tatsächlich jemand entwickelt hat. Science Fiction und Science sind halt zwei Paar Schuhe.
Der Kern der Sache ist, dass man Evolution in gewissem Maße einplanen kann. Technische Revolutionen hingegen sind selten und man kann sie sicher nicht einplanen, vor allem nicht in einem Land wie Deutschland, dass bis auf ein paar Leuchttürme seine Forschungs-Einrichtungen wie die Hochschulen weder besonders schätzt noch ausreichend finanziert.
Natürlich sollte man systematisch weiterforschen, ich würde sogar sagen, die Forschung muss intensiviert werden. Man wird all das, woran es heute in der Barrierefreiheit mangelt aufgrund der hohen Kosten und dem Mangel an Fachkräften nicht durch menschliche Arbeitskraft erledigen können. Wer soll Millionen von Websites reparieren, PDFs taggen, Texte in Leichte und Gebärdensprache übersetzen und so weiter?
Aber das heißt nicht, dass man die Dinge jetzt vernachlässigen sollte. Naturgemäß kann man technische Revolutionen nicht planen oder gar einplanen, wie es manche Partei beim Klimaschutz zu tun scheint. Ein simples Beispiel ist die Medikamentenforschung: Tausende von Stoffen werden erforscht, damit am Ende vielleicht ein Medikament rauskommt. Würden wir der Logik einiger Politiker folgen, bräuchten wir Krebs nicht mehr zu therapieren, wir warten einfach, bis das Heilmittel gefunden ist. Tut natürlich keiner, wir sind ja keine Idioten.
Es ist wahrscheinlich, dass die Themen, über die wir uns heute in der digitalen Barrierefreiheit unterhalten in 50 Jahren keine Rolle mehr spielen werden. Entweder wird die technische Basis eine ganz andere sein oder wir werden die meisten dieser Probleme durch Algorithmen gelöst haben. Das hilft aber nicht den Leuten weiter, die gerade vor dem Computer sitzen, deren Probleme müssen heute, morgen und übermorgen angegangen werden.
Andere Probleme wie die Barrierefreiheit von Treppen kann man auf absehbare Zeit gar nicht technisch lösen. Ja, ich kann mir eine Art flexiblen günstigen Treppenlift vorstellen, welcher gehbehinderte Menschen samt Rollstuhl oder Rollator nach oben oder unten transportiert und sich ansonsten irgendwo verstaut, wo er nicht im Weg ist. So was wünscht sich auch jeder für den nächsten Umzug. Ist so was denkbar? Sicher. Ist es absehbar? Meines Wissens nicht.
Wir dürfen die Lösung der heutigen Probleme nicht verschleppen, nur weil es irgendwann eine technische Lösung geben könnte. Im schlimmsten Fall kommt diese Lösung einfach nicht. Auf jeden Fall können wir nicht sagen, wann sie kommt und sie wird uns heute nicht helfen.

Why Technology will not solve all accessibility problems