Wettbewerbs-Nachteil: mangelnde Barrierefreiheit

Es gibt eine interessante Regelmäßigkeit: Wenn man bei einem international oder zumindest im anglo-amerikanischen Raum tätigen Anbieter von Software nach Barrierefreiheit sucht, wird man fast immer fündig. Es ist nicht immer VPAT oder ähnlich aussagekräftig, aber zumindest findet man ein Statement.
In Deutschland gilt genau das Gegenteil: Sucht man nach Barrierefreiheit zum Produkt, findet man meistens nichts oder etwas sehr Allgemeines. Das ist mir bei diversen Alternativ-Lösungen zur Online-Kollaboration aufgefallen. Vor allem aus Datenschutz-Gründen möchte man ein wenig weg von US-amerikanischen Anbietern. Man hat also die Wahl zwischen Pest (mangelnder Datenschutz) und Cholera (mangelnde Barrierefreiheit). Ein aktuelles Beispiel ist TaskCards, welches auf die Frage nach Barrierefreiheit antwortet, dass sie das nicht unterstützen – mit anderen Worten, kein Plan, um das Thema anzugehen.

Am Kunden vorbei entwickelt

Es spricht denke ich für sich, dass viele deutsche Anbieter das Thema Barrierefreiheit gar nicht auf dem Schirm haben. Und das, obwohl sie ihre Programme vor allem an staatliche Organisationen oder öffentliche Einrichtungen verkaufen wollen, die ja zur Barrierefreiheit verpflichtet sind. Im Vordergrund stehen vor allem die Schulen und allgemein der Bildungssektor. Aktuell fällt es mir aber auch bei vielen Arztpraxen auf. Sie setzen externe Tools zur Termin-Buchung ein, von denen bisher keines barrierefrei war, welches ich gesehen habe.
Barrierefreiheit scheint für viele dieser Unternehmen ein Feature zu sein, kein Muss. Keines dieser Unternehmen würde mit öffentlich bekannten Mängeln zum Datenschutz online gehen, aber Barrierefreiheit – das kann man irgendwann später einbauen oder auch lassen.

Den Markt nicht verstanden

Das spricht leider für einen Mangel an Weitsichtigkeit. Seien wir mal ehrlich: In den letzten 20 Jahren hat man das Thema Barrierefreiheit im öffentlichen Sektor größtenteils nicht ernst genommen – die erste BITV ist über 20 Jahre alt. Aber der Druck und das Bewusstsein dafür sind gestiegen.
Das heißt, im Zweifelsfall kann ein anderer US-amerikanischer Anbieter das Rennen machen. Ich bin absolut kein Experte für Datenschutz, aber nach meiner Erfahrung ist das Thema bei den meisten internationalen Anbietern auf dem Schirm. Ansonsten könnten sie sich auch gar nicht auf dem Markt der EU einbringen. Teams und WebEx werden auf breiter Front in öffentlichen Institutionen in Deutschland eingesetzt, alternative Anbieter aus der EU spielen bisher keine Rolle. Mittlerweile hat etwa auch der Bundesstaat Kalifornien ähnliche Bestimmungen für den Datenschutz wie die EU.
Auch wenn ich die Passion für den Datenschutz hierzulande nicht teile, finde ich es gut, auch alternative Lösungen in Erwägung zu ziehen. Ich nutze Zoom nicht, weil ich Monopole so toll finde, sondern weil ich selber Veranstaltungen hoste und diese steuern können muss. Für meinen Newsletter nutze ich einen nicht-barrierefreien, aber DSGVO-konformen Anbieter. Wenn es eine Alternative gibt, die ebenso gut für mich und andere Teilnehmende funktioniert wie Zoom, würde ich sie gerne nutzen, auch wenn sie ein wenig teurer ist. Bisher ist mir keine untergekommen. Big Blue Button zum Beispiel hat sich gemacht, ist aber wegen der Tonqualität für eine Person mit Hörschädigung nicht so gut nutzbar.
Klar, es gibt einen eklatanten Mangel an Fachkräften, vor allem an Software- und Web-Entwicklerinnen mit Barrierefreiheits-Kenntnissen. Dann muss man die Leute halt dazu qualifizieren. Es ist ja nicht so, als ob es ein esoterisches Hexenwerk ohne jegliche Schulungs-Materialien wäre. Das Thema wird ja in fünf Jahren nicht weg sein und bei jeder anderen Sache würde man auch die Leute qualifizieren. Nur bei Barrierefreiheit wird ein Theater bei der Weiterbildung gemacht.
Sicherlich gibt es auch Probleme, die mit aktueller Technik kaum lösbar scheinen. Dazu gehören die Themen Mindmaps oder Whiteboards. Diese ganzen visuellen Dinge, die auf Pfaden basieren sind recht schwierig barrierefrei umzusetzen. Hier würde ich mir aber zumindest den Mut wünschen, neue Dinge auszuprobieren und es zumindest zu versuchen. Wie es Taskcards macht, das Thema einfach abzubügeln finde ich nicht korrekt.
Doch reden wir hier auch von Alltags-Technologien wie einem Buchungs-Tool für Arzt-Termine: Das Tool soll mir 1. anzeigen, welche Termin-Slots noch frei sind und 2. mich den Termin buchen lassen. Das ist mit Verlaub Pipifax und scheitert zumeist an schlechten Frameworks und der mangelnden Fähigkeit der Entwickler. Da ist schlicht der Wille nicht da, es barrierefrei umzusetzen.
Hier bin ich ausnahmsweise bei den Bonzen der FDP: Wenn jemand seinen Job nicht richtig macht, dann sollte man den Anbieter austauschen. Man sollte jene belohnen, welche sich von Anfang an um Barrierefreiheit bemühen.

Fazit

Wie oben gesagt vermute ich eher, dass man da die Marktforschung vernachlässigt hat – Stichwort Compliance. Datenschutz ist Pflicht, Barrierefreiheit ist Pflicht – ohne diese Aspekte kann man keine Software an den öffentlichen Sektor verkaufen. Barrierefreiheit nachzurüsten ist wie die Arbeit zwei Mal zu machen, für ein KMU kaum zu stemmen. Man sollte es also von Anfang an mitdenken.
Auch finde ich, dass der öffentliche Dienst keine Software mehr einkaufen sollte, die nicht barrierefrei ist. Diesbezüglich wurde die Privatwirtschaft in den letzten Jahrzehnten verhätschelt.

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