Zurück zu Präsenz – ein Rückschritt für die Barrierefreiheit


Ich bin ja immer skeptisch, wenn Megatrends ausgerufen werden. Als die großen Lockdowns vor rund 3 Jahren losgingen und Corona unser Leben längere Zeit einschränkte, sind viele davon ausgegangen, dass dies die digitale Revolution auslösen würde, auf die viele von uns solange gewartet haben. Es würde weniger Reisezirkus geben, wir würden mehr Online-Meetings machen und die Regelungen zum Home Office würden großzügiger werden.
Das mag bei vielen Organisationen der Fall sein, es scheint mir jedoch eher die Ausnahme zu sein. Im Gegenteil, viele Organisationen kehren zur alten Präsenz-Realität zurück. Spätestens seit 2023 werden Remote-Optionen großflächig reduziert und Online-Optionen bei Veranstaltungen abgeschafft. Viele der großen amerikanischen Tech-Konzerne gehen hier ausgerechnet voran: Nicht unerwartet, dass viele dieser Unternehmen von gesunden reichen Männern geführt werden, die sich vermutlich seit ihrem Studentendasein nicht mit dem öffentlichen Verkehr beschäftigen mussten und nie Care-Arbeit für Kinder oder Angehörige übernehmen mussten. Mein Eindruck ist, dass es hierbei mehr um Macht als um die behaupteten Produktivitäts-Vorteile geht.
Auch von Freunden und Bekannten höre ich, dass Remote-Optionen schrittweise abgeschafft werden. Es finden wieder Meetings statt, für welche die Leute stundenlang – gerne mit dem Flugzeug oder PKW – anreisen. Viele Konferenzen finden wieder präsent ohne Remote-Option statt. In Zeiten wie diesen kann man das ruhig ökologischen und ökonomischen Unsinn nennen. Kennt ihr das, wenn man erst mal bei Google Maps nachschlagen muss, in welcher Stadt sich ein Veranstaltungsort für ein Event befindet?
Für viele behinderte Menschen dürfte das ein Rückschritt in Sachen Barrierefreiheit sein. Das gilt vor allem für Menschen, die auf den ÖPNV angewiesen sind. Für Nicht-Behinderte ist das Stress, für behinderte Menschen oft eine Tortur.
Ich persönlich habe übrigens nichts gegen die Arbeit im Büro oder gegenPräsenz-Veranstaltungen, ich habe das lange gemacht und solange es keine Pendelei bedeutet, werde ich das immer vorziehen. Ich habe aber den Vorteil, dass ich zentral in einer Großstadt wohne und fast alles zu Fuß oder schnell mit dem ÖPNV erreichen kann. Zudem habe ich keine chronische Erkrankung, bei der ich mich vor typischen Erkrankungen der Atemwege fürchten müsste. Auch wenn es hier oft anders klingt, ziehe ich persönliche Begegnungen der Online-Kommunikation vor. Allerdings sollte alles verhältnismäßig sein. Das war es teilweise vor Corona nicht und es schaut so aus, als ob es wieder so wird.
Home Office hat zahlreiche Vorteile, die für behinderte Menschen besonders stark gelten. Man ist etwa häufiger örtlich gebunden, zum Beispiel wegen einer barrierefreien Wohnung oder wegen sozialer Bindungen. Der ÖPNV ist weit davon entfernt, barrierefrei zu sein, das gilt leider auch für viele Organisations-Gebäude, Veranstaltungs- oder Übernachtungs-Orte.
Daneben muss man feststellen, dass Corona durchaus nicht weg ist. Für Personen mit Lungen- oder anderen chronischen Erkrankungen kann es wie andere Atemwegs-Infekte nach wie vor eine schwere Erkrankung bedeuten. Wenn Remote-Optionen jetzt nach und nach wegfallen, werden diese Personen benachteiligt. Sie können an Veranstaltungen und den damit verbundenen Vorteilen der Vernetzung, dem Austausch und der Erhöhung der eigenen Bekanntheit nicht teilhaben. Und sie können selbst nicht referieren, also ihre eigene Reputation erhöhen.
Eine Gruppe, an die dabei selten gedacht wird sind chronisch erkrankte Personen. Selbst der Unaufmerksamste sollte mittlerweile gemerkt haben, dass schlecht gelüftete Konferenzräume, Kantinen, Großraum-Büros und der ÖPNV Keimstätten für Viren und Bakterien sind. Wenn man sich längere Zeit in geschlossenen Räumen aufhält, spielen Dinge wie Abstand und Hände-Waschen für Infektionen kaum noch eine Rolle. Lüften im Großraum-Büro im Winter ist fast unmöglich, falls es überhaupt etwas bringt. Die Luft wird ja vor allem in der Nähe der Fenster ausgetauscht, die Kälte kriegen dann die Leute am Fenster ab, die dafür sorgen, dass das Fenster schnell wieder geschlossen wird.
Mein Fazit ist, dass Arbeitgebende und Veranstaltende das Thema Remote/hybrid wieder ernster nehmen sollten. Remote löst sicher nicht alle Probleme aber es kann das Leben vieler behinderter Menschen – und im übrigen auch vieler anderer Personen – deutlich erleichtern. Man redet so viel über New Work. Das sollte sich aber nicht in schicken – nicht barrierefreien – Kaffee-Maschinen oder spacigen Büro-Designs erschöpfen.
Ich denke, dass wir zumindest was Veranstaltungen angeht etwas tun können: Schreibt die Veranstaltenden an, dass sie ihre Events online oder hybrid gestalten sollen.