Das Problem ist nicht die Barrierefreiheit, sondern der Prozess

Mookup zur DigitalisierungSagen wir es offen: So, wie Barrierefreiheit heute umgesetzt wird, ist sie teuer, suboptimal und wir werden vielleicht erst in vielen Jahren durchschlagende Erfolge sehen. Nun kostet es Geld, vor allem, weil man es jahrzehntelang verschlafen hat. Die USA haben – im übrigen unter einer konservativen Regierung – vor über 30 Jahren große Teile der Privat-Wirtschaft zur Barrierefreiheit verpflichtet. Auch in den USA gibt es viele Probleme, doch Deutschland hängt nach wie vor weit hinterher. Obwohl wir wissen, dass wir viele 10000 barrierefreie Wohnungen und Häuser brauchen, obwohl die alternde Bevölkerung auf stufenfreie Zugänge bei Kultur und Verkehr angewiesen ist, obwohl viele Ärzt:Innen-Praxen nicht barrierefrei sind, passiert relativ wenig.
Mir scheint die Ursache des Problems aber relativ klar zu sein. Es ist nicht die Barrierefreiheit an sich, sondern die Art, wie die Prozesse gestaltet sind.
Ein Beispiel: Eine Behörde möchte eine Broschüre erstellen. Person X schreibt den Text, Agentur Y erstellt ein druckbares PDF darauf, Agentur Y macht es barrierefrei. Das für den Druck optimierte, halbwegs barrierefreie PDF wird dann ins Internet gestellt. So banal, so blöd. Würde man eine Stufe früher ansetzen und das Dokument mit einer flexiblen Sprache wie XML gestalten, könnte man das Dokument in einem Schritt für den Druck, für die Website und zum Herunterladen optimieren. Ich bin ja ein bekennender PDF-Hasser, aber selbst ich wäre mit so einem Prozess einverstanden. Nur Sehende glauben an perfekt barrierefreie PDFs, sie müssen sie ja nicht nutzen.
Oder: Behörde druckt Formular aus, Blinder muss es mit fremder Hilfe ausfüllen und an Behörde schicken, Behörde scannt es ein.
Ein weiteres Beispiel: Es gibt ein Set an Corona-Regeln. Würde man einmal das komplette Set in einfache Sprache, Leichte Sprache und Gebärdensprache übersetzen und den Ländern zur Verfügung stellen, könnten die Gesetzgeber:Innen exakt die Regeln in diesen Formaten veröffentlichen, die in ihren jeweiligen Gebieten gelten. Stattdessen wird wenig bis gar nichts in verständlichen Formaten umgesetzt – das Argument, Geld. Es gibt aber ein Menschenrecht auf verständliche Informationen.
Die Kern-Botschaft jedes Barrierefreiheits-Vortrags lautet: Denken Sie Barrierefreiheit von Anfang an mit. Das wird meiner Erfahrung nach kaum beherzigt. Vielleicht sollten wir unsere Botschaft so ändern: Denken Sie Ihre Prozesse auf die Art neu, dass Barrierefreiheit immer von Anfang an mitgemacht und mitgedacht wird.
Ähnlich wie bei der Digitalisierung hängt das Problem wohl damit zusammen, dass große Organisationen und vor allem der öffentliche Dienst sich extrem schwer damit tun, bestehende Prozesse destruktiv anzugehen, also einmal komplett zu überdenken. Es gibt keine Fleißpunkte für Barrierefreiheit und es gibt auch keine Oskars dafür, besonders viel Geld investiert zu haben. Das Ergebnis zählt.
Das führt dazu, dass täglich hundertfach gegen Barrierefreiheit verstoßen wird. Ausschreibungs-Unterlagen müssen barrierefrei sein, sind es aber nach wie vor vielfach nicht, weil die verwendeten Programme keine barrierefreien PDFs erzeugen können. Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich geschützte, vom Screenreader nicht lesbare oder gar eingescannte Bilder im PDF erhalte.