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Barrierefreiheits-Stärkungs-Gesetz – warum die Bundesregierung der Wirtschaft schadet

einkaufswagenNun ist es doch da, das neue Barrierefreiheits-Stärkungs-Gesetz. Die Defizite des European Accessibility Act und deren deutscher Umsetzung sind an anderer Stelle schon ausgeführt worden, das muss ich hier nicht wiederholen. Hier erfahrt ihr, warum Deutschland der heimischen Wirtschaft damit keinen Gefallen getan hat.

Eine Regierung des Stillstandes

Wir haben eine mut- und innovationsfreie Bundesregierung, im Grunde haben wir seit der Regierung Merkel I einen großen Stillstand. Wenn sie nicht gerade durch äußere Umstände gezwungen wurde, hat die Bundesregierung kein großes Thema angepackt. Wo sie es doch getan hat, war die Situation oft nur wenig besser als vorher – siehe Bundesteilhabegesetz. Das ganze Schema des Versagens sieht man in anderen Bereichen wie dem Klimaschutz oder der Digitalisierung. Meines Erachtens geht es hier also nicht so sehr darum, dass Behinderte bewusst ausgegrenzt werden, wie in anderen Kommentaren zu lesen. Es ist das Gleiche passiert wie bei so vielen anderen Gesetzes-Vorhaben – mangelndes Interesse, geringe Ambitionen und Ministerien, die viel Bürokratie ohne nachhaltige Wirkung produzieren. Vielleicht muss man aber auch glücklich darüber sein, dass die CDU im Wesentlichen den Status Quo verwaltet, wenn man sieht, welche unsozialen Reformen der aktuelle Gesundheitsminister Spahn auf den Weg gebracht hat.

Deutschland wird wirtschaftlich abgehängt

Viele große Märkte, insbesondere der gesamte anglo-amerikanische Raum – haben strengere Gesetze zur Barrierefreiheit als Deutschland. Selbst innerhalb der Europäischen Union steht Deutschland in einigen Bereichen deutlich schlechter da als andere Staaten. So hat Österreich härtere Richtlinien zur Barrierefreiheit auch für die Privat-Wirtschaft.
Leider habe ich keinen Vergleich der Barrierefreiheits-Richtlinien in den einzelnen Ländern der Welt gefunden. Falls jemand da einen heißen Tipp hat, freue ich mich. Allerdings kann man davon ausgehen, dass viele der Wachstums-Märkte wie China, Indien, Russland, die Staaten Lateinamerikas und im Nahen Osten ebenfalls zumindest Basis-Anforderungen der Barrierefreiheit gesetzlich verankert haben bzw. es noch tun werden. Hier spielt der Druck durch die sozialen Bewegungen und der Wunsch nach Legitimität eine große Rolle.
Der große Marktfaktor überhaupt ist der demografische Wandel. Er trifft das gesamte Europa, Japan, China, Russland und etwas schwächer die beiden Amerikas. Man hat im Bereich barrierefreier Tourismus schon große Fortschritte gemacht. In anderen Bereichen ist man hier allerdings relativ uninnovativ. Es ist anscheinend in der Privat-Wirtschaft noch nicht angekommen oder man sieht die Kosten für Innovationen als zu hoch an. Am Ende werden aber jene profitieren, die hier langfristig gedacht haben.
Nehmen wir ein Beispiel: Deutschland gehört zu den großen Herstellern von Personen-Zügen. Züge können schwellenfrei gebaut werden, so dass man sie in der Regel ohne fremde Hilfe als Rollstuhlfahrende oder Rollator nutzende Person nutzen kann. Aber die Deutsche Bahn und andere Bahnbetriebe kaufen lieber nicht barrierefreie Züge und organisieren eine personal-intensive Mobilitätshilfe. Kein Staat der Welt wird diese Züge aus Deutschland importieren – entweder werden sie angepasst oder man nimmt sie von Unternehmen, die von vorneherein barrierefreie Züge bauen. Wenn deutsche Unternehmen keine barrierefreien Bankautomaten bauen kann, wird man sie eben von Anbietern beziehen, die das können. Wenn die paar international aktiven deutschen Software-Unternehmen ihre Produkte nicht barrierefrei gestalten können, sind sie global nicht konkurrenzfähig.
Barrierefreiheit ist ein interessanter Markt für global agierende Unternehmen möchte man meinen. Für Deutschland allerdings nicht. Die Regierung traut sich nämlich nicht, hier harte Regelungen oder vernünftige Fristen zu setzen. Deutsche Unternehmen werden nicht zu Innovationen gezwungen und verlieren damit den Anschluss an den Weltmarkt.

Deutschland als großer Bremser

Obwohl Deutschland sich immer als Musterschüler vorkommt, ist es in Wirklichkeit das Gegenteil. Immer, wenn ein internationales Gremium wie die EU Gas gibt, tritt Deutschland auf die Bremse. So war es bei den Richtlinien zur digitalen Barrierefreiheit, so war es beim marakesch-Treaty über den Zugang für lesebehinderte Menschen zur Literatur und so war und ist es beim European Accessibility Act. Der European Accessibility Act sollte ursprünglich wesentlich mehr Bereiche umfassen. Es bleibt ein Rätsel, warum etwa das gesamte Thema Bauen, Arbeits-IT oder Haushaltsgeräte schon im Act komplett außen vor bleibt. Der Act war also schon unambitioniert, als er verabschiedet wurde und er wurde noch weniger ambitioniert in deutsches Recht umgesetzt.
Die Bundesregierung glaubt tatsächlich, man würde der heimischen Wirtschaft dadurch einen Gefallen tun. Das mag kurzfristig gedacht tatsächlich zutreffen. Mittelfristig ist es der Todesstoß für eine export-orientierte Wirtschaft. Was glaubt ihr, welche Lösung/Dienstleistung wird ein großer Markt-Teilnehmender einkaufen, der zur Barrierefreiheit verpflichtet ist? Eine Lösung, die von vorneherein barrierefrei ist oder die deutsche Lösung, die nicht barrierefrei ist? Und selbst in der Binnen-Nachfrage spielt Barrierefreiheit eine wachsende Rolle. Hier hat man meistens die Wahl zwischen einer mittelmäßigen deutschen und einer guten Lösung aus dem anglo-amerikanischen Raum. Der deutschen Lösung wird meistens nur aus Datenschutz-Gründen der Vorzug gegebe, nicht, weil sie in irgendeiner Hinsicht besser wäre.
Das gleiche Schema erkennen wir – wie oben erwähnt – im Klimaschutz wieder. Während alle Welt auf Autos mit geringen Emissionen, weniger Kraftstoff-Verbrauch oder gar Elektro-Autos setzt hat Deutschland die entsprechenden Vorschriften verwässert und dazu beigetragen, dass die deutsche Autowirtschaft international weniger konkurrenzfähig ist. Man hat die Wirtschaft auf kurze Sicht geschont, um ihr auf lange Sicht die Konkurrenzfähigkeit zu nehmen.

Fazit

Wie an anderer Stelle erklärt ist Barrierefreiheit natürlich ein Kostenfaktor. Vor allem in Deutschland, wo man mehr Wert auf Formalitäten statt auf innovative Ideen legt. Das Problem reduziert sich aber dadurch, dass alle Markt-Teilnehmenden sich an die gleichen Regeln halten müssen. Alle Unternehmen haben die gleichen Anforderunge, also kann sich keiner einen Vorteil dadurch verschaffen, dass er die Regeln ignoriert. Durch gemeinsame Anstrengungen und Lösungen werden die Kosten für die einzelnen Markt-Teilnehmenden insgesamt reduziert. Bildungs-Einrichtungen werden dazu gezwungen, die Barrierefreiheit in den Unterricht aufzunehmen, da die entsprechenden Kompetenzen überall gebraucht werden.
Anders als Deutschland manchmal zu glauben scheint wartet die Welt nicht auf deren Innovationen. Sie werden halt wo anders gemacht und dann werden Spanien, Italien oder Irland die Leistungen barrierefrei anbieten, die Deutschland wegen seiner Zögerlichkeit nicht entwickeln konnte.

Der Weg über die Gerichte

In den letzten Jahren hat es einige bahnbrechende Gerichtsurteile gegeben. So ist Deutschland jetzt durch das Bundesverfassungsgericht gezwungen, härtere Maßnahmen zum Klimaschutz zu erlassen.
Möglicherweise ist dies der einzig gangbare Weg: Zum Einen die Bundesregierung durch Klagen zwingen, mehr auf die Barrierefreiheit zu achten. Zum Anderen auch Firmen verklagen, die ihre Software oder andere Produkte nicht barrierefrei machen. Leider ist das in Deutschland schwieriger als in den USA, weil hier das Klagerecht deutlich eingeschränkt ist.
Abgesehen davon sind solche Urteile recht langwierig. Bis man das Bundesverfassungsgericht erreicht, ist viel Sitzfleisch und engagierte Anwält:Innen notwendig. So lange wollen wir eigentlich nicht warten.

Wird barrierefreie Web-Entwicklung zum Mainstream?

Hand gecodete Webseiten erinnern an eine etwas verklärte Zeit. Irgendwie muss ich immer an die Großmutter denken, die am Kamin sitzt und Jäckchen für die kleinen Enkel strickt. Wobei meine Großmutter im tropischen Goa sicher nie an einem Kamin gesessen hat.
Heutzutage kommt man allerdings an Frameworks kaum vorbei. Klar kann man die Website auf dem Desktop betreuen und dann über FTP hochladen. Oder minimalistische Redaktionssysteme verwenden. Doch für moderne Interfaces, die schick, aber auch funktional sein sollen ist das wohl nicht mehr der beste Weg. Wer hat heute noch Ressourcen, ein Akkordeon, eine Flyout-Navigation oder eine Slideshow zu programmieren und sie auf allen möglichen Endgeräten und Browsern zu testen? Die öffentliche IT ganz sicher nicht, eben so wenig wie deren externe Dienstleister.
Nun haben sich die Entwicklerinneninnen dieser Bibliotheken und vieler Redaktionssysteme bisher kaum um Barrierefreiheit gekümmert. Auch für sie war es so anstrengend. Doch der Wind wird sich sehr bald drehen.

Härtere Richtlinien, mehr Betroffene

Ab und zu muss man daran erinnern, dass die BITV nicht erst seit der EU-Direktive 2102 gilt. Die erste BITV wird gerade 20 Jahre alt. Wer sich jetzt erst darum kümmert, hat bisher seine Pflichten sträflich vernachlässigt.
However, die Entwicklung um 2102 hat jetzt einen hohen Grad an Nervosität ausgelöst. Webseiten wirden immer stärker monitort und Barrierefreiheits-Bugs werden nach und nach ausgebügelt. Ein Grund, ungeeignete Frameworks zu entsorgen und durch solche zu ersetzen, die Barrierefreiheit unterstützen.
Nun macht die öffentliche IT einen guten Teil der digitalen Infrastruktur aus. Allein das wäre ein Grund, stärker auf Barrierefreiheit zu achten, um diesen Markt nicht zu verlieren. Aber auch ein Gutteil des Nonprofit-Sektors ist zur Barrierefreiheit verpflichtet. Dies dürfte doch einen guten Teil des Internets betreffen.
Ein aktuelles Beispiel: Der neue BITV-Test fordert die barrierefreie Transformation von Inhalten, heißt, wenn über die Website ein PDF aus einer HTML-Seite erstellt werden kann, muss das resultierende PDF die Barrierefreiheits-Infos aus dem HTML übernehmen. Das kann kaum eine der aktuell angebotenen Bibliotheken zur PDF-Konvertierung.
Natürlich stammen die meisten dieser Frameworks aus dem anglo-amerikanischen Bereich. Dort gibt es auch einen starken Druck vor allem in den USA oder Kanada durch härtere Gesetze und Klagewellen.
Natürlich ist das vor allem für kommerziell vertriebene Frameworks interessant. Doch auch die kostenlosen Anbieter sind sicherlich an einer weiten Verbreitung ihrer Frameworks interessant. Wozu soll man eine Bibliothek weiter entwickeln, die keiner nutzt?

Es wird einfacher, aber nicht einfach

Allerdings wird den Entwicklerinneninnen zwar Arbeit abgenommen. Doch müssen sie sich trotzdem mit Barrierefreiheit beschäftigen. Die Bibliotheken bieten ja schon heute teilweise die Möglichkeit, ARIA oder andere relevante Eigenschaften hinzuzufügen, den Kontrast zu ändern oder den Fokus zu korrigieren.
Oder anders gesagt: Man kann mit einem guten Framework Mist produzieren und mit einem schlechten Framework gute Ergebnisse erzielen.
Doch die Arbeit wird durch gute Frameworks deutlich erleichtert. Tastatur-Bedienung, Fokus-Management, Mindest-Kontraste, ARIA States und so weiter sind wesentlich besser umsetzbar, wenn sie einmal zentral integriert wurden.
Vielleicht sollten wir uns in Zukunft nicht mehr auf einzelne Organisationen stürzen, sondern uns gezielt an die Entwicklerinneninnen der Frameworks wenden. Das dürfte einen wesentlich größeren Impact haben.

Wie groß ist der deutsche Jobmarkt für Barrierefreiheits-Profis?

Wie viele Barrierefreiheits-Profis werden wir der Zeit mit Anfragen überschüttet. Ich habe in den letzten 12 Monaten mehr Angebote geschrieben als in der gesamten Zeit vorher. Zudem habe ich einen guten Teil der Anfragen abgelehnt, größtenteils aus Kapazitätsgründen.

Wie viele Jobs zur Barrierefreiheit gibt es tatsächlich?

Allerdings ist das Bild verzerrt. Schaut man sich den Stellenmarkt für Barrierefreiheits-Profis an – gemeint ist hier nur digitale Barrierefreiheit – gibt es wenig bis kaum Nachfrage nach Expert:Innen.
Richtig, es gibt zahlreiche Ergebnisse, wenn man bei Interamt – der Jobbörse des öffentlichen Dienstes oder Indeed, dem Meta-Jobportal – schaut. Dabei muss man aber alle Ergebnisse rausfiltern, in denen der Begriff „Barrierefreiheit“ irgendwie vorkommt. Es gibt einige Organisationen, die sich zurecht oder unrecht für barrierefrei halten und das in ihre Jobbeschreibung aufnehmen. Zudem muss man alle Stellen rausnehmen, in denen Barrierefreiheit irgendwie vorkommt, also Redakteur:innen, Entwickler:innen, Designer:innen und einige mehr, wo es um unterschiedliche Fähigkeiten geht und der Begriff Barrierefreiheit irgendwo weit unten vorkommt. Man darf davon ausgehen, dass dann Barrierefreiheits-Fähigkeiten auch kein entscheidender Einstellungsgrund sein wird. Gehen wir einmal davon aus, dass noch mal ein halbes Dutzend Stellen irgendwo auf den Jobseiten der Einrichtungen versteckt sind bzw. so formuliert sind, dass sie mit einer einfachen Suche nicht gefunden werden können.
Dann bleiben zu fast jedem beliebigen Zeitpunkt vielleicht fünf Stellen im öffentlichen Dienst übrig. Im privaten Sektor sind es ungefähr ein Dutzend, wenn man Doppel-Aufführungen und mehrere Standorte abzieht ein paar weniger. Für ein Land mit X Kommunen, 16 Bundesländern und unzähligen Bundeseinrichtungen sowie Dutzenden größerer Agenturen und App-Entwickelnden Firmen ist das nicht besonders viel.
Auch die Unternehmen, Hochschulen, Agenturen und viele Einrichtungen mehr scheinen nicht besonders eifrig nach Barrierefreiheits-Expert:Innen zu suchen.
Wo sie es tun sind die Erwartungen häufig übertrieben. Da wird ein Studium der Informatik von jemandem erwartet, der Webseiten auf Barrierefreiheit prüfen soll. Ich habe einige Informatiker:Innen in meinen Kursen gehabt und konnte besser mit HTML und CSS umgehen als diese Personen. Wie so oft im öffentlichen Dienst stehen Angebot und Erwartung in keinem Verhältnis zu dem, was tatsächlich getan werden muss. Die meisten Barrierefreiheits-Expert:Innen sind Quereinsteiger:Innen, würden also die formalen Kriterien nicht erfüllen. Aber ein Informatik-Jungspunt aus der Uni, der nie eine Zeile HTML geschrieben hat würde mit Kußhand genommen. Der würde sich aber nicht auf so eine Stelle bewerben, weil er in der Privatwirtschaft mindestens das Doppelte verdienen kann.
Interessant ist auch, dass die Agenturen, die sich auf Barrierefreiheit spezialisiert haben nicht besonders eifrig nach neuen Mitarbeiter:Innen suchen. Natürlich ist jede Einstellung ein Risiko. Allerdings scheint der Bedarf ja da zu sein. Natürlich kann man nicht – wie viele es tun – fertige Barrierefreiheits-Expert:Innen erwarten, dafür ist die Qualifizierung in Deutschland zu lange vernachlässigt worden. Andererseits wird meines Erachtens das „Onboarding“ überschätzt. Man kann in wenigen Tagen eine technisch halbwegs fitte Person dazu befähigen, Webseiten zu testen oder PDFs barrierefrei zu gestalten. Weitere vertiefende Fähigkeiten können dann später dazu kommen, aber dies sind die Sachen, die aktuell und bis auf absehbare Zeit benötigt werden.
Was sagt uns das? Zum Einen, dass Barrierefreiheit als Nebenbei-Tätigkeit verstanden wird. Irgendwelche Personen, die angelernt werden oder auch nicht sollen es neben ihrer eigentlichen Arbeit umsetzen. Zum Anderen wird aber auch deutlich, dass auch die großen Agenturen und andere Dienstleister:Innen das Geschäftsfeld noch nicht erschlossen haben.

Über Sinn und Unsinn von Barrierefreiheits-Tests

Leider hat es sich eingebürgert, komplexe Testverfahren als das Nonplus-Ultra in der Barrierefreiheit anzusehen. Wir nennen hier die wichtigsten Gründe, warum Sie von abschließenden Barrierefreiheits-Tests absehen sollten.

Der BITV-Test ist ein Privat-Projekt

In Deutschland fällt einem natürlich zuerst der BITV-Test ein. Wir nennen ihn hier DIAS-Test, da es sich um ein privates Testverfahren der DIAS GmbH handelt, von dem sie einfach mal behaupten, es würde die BITV testen. Die BITV, die selbst keine Anforderungen an die Barrierefreiheit enthält.
Bitte lassen Sie die Finger von solchen Testverfahren. Wer solche Testverfahren entwickelt und diese so intransparent wie die DIAS GmbH gestaltet, verschafft sich die Definitionsmacht darüber, was Barrierefreiheit ist. Am Ende heißt es dann nicht mehr: Barrierefrei ist Konformität nach WCAG 2.x, sondern barrierefrei ist konform nach DIAS. Leider ist die DIAS aber von niemandem legitimiert, diese Definitionsmacht einzunehmen. Warum sie ihr Testverfahren BITV-Test bzw. WCAG-Test nennen, bleibt dann ihr Geheimnis, als ob es keine anderen WCAG-Tests gäbe. Die DIAS hat damit eine Monopol-Stellung eingenommen, mit der sie meines Erachtens unverantwortlich umgeht.
Dem Vernehmen nach darf der DIAS-Test ohnehin nur noch nichtkommerziell bzw. durch den DIAS-Prüfverbund offiziell durchgeführt werden. Ein weiterer Grund, den Test nicht mehr zu verwenden. Zumindest wird an keiner Stelle genau beschrieben, wer unter welchen Umständen außerhalb des DIAS-Prüfverbundes diese Tests durchführen darf. Ich freue mich über sachdienliche Hinweise, falls Sie da mehr wissen als ich.

Komplexität mit Qualität verwechselt

Wir glauben häufig, wenn ein Verfahren nur komplex und vielschrittig ist, könnten wir eine hohe Qualität sicherstellen. Ich war an einigen Prüfverfahren und deren Entwicklung beteiligt und kann sagen, dass dem nicht so ist. Ein Prüfverfahren neigt dazu, eine komplexe Anwendung in tausend Einzelteile zu zerlegen.
Wie sinnvoll ist so eine Zerlegung bei sagen wir einer komplexen Webanwendung? Tatsächlich ist hier eine heuristische Analyse, wie sie etwa in der Usability eingesetzt wird viel sinnvoller.
Alternativ können auch Schnelltests eingesetzt werden. Sie bestehen aus 10-15 wichtigen Prüfschritten, die im Wesentlichen auf jede Webseite anwendbar sind.
Beide Verfahren, der Schnelltest und die heuristische Analyse haben den Vorteil, dass sie schnell und kostengünstig die meisten Fehler aufdecken können. Ein simples Beispiel: Hat jemand seine Formulare nicht gelabelt, ist die Webseite nach keiner Definition barrierefrei, ein weiterer Test würde sich also erübrigen. Es ist ziemlich unwahrscheinich, dass jemand die Labels vergisst, aber ansonsten sauber gearbeitet hat.

Das Pferd von hinten aufgezäumt

Prinzipiell ist ein Barrierefreiheits-Test keine schlechte Sache. Das Problem ist, dass man die Sache hier falsch angeht. Ein Test bringt vor allem etwas, wenn man Barrierefreiheit von vorneherein berücksichtigt hat. Sie glauben gar nicht, wie viele Apps bei mir eintreffen, wo ein Test überhaupt keinen Sinn macht, weil die Entwickler:Innen die Barrierefreiheit nicht berücksichtigt haben. Ich schicke das dann ungeprüft zurück, weil das Testen und Feststellen der Fehler so viel Arbeit fressen würde, dass ein Nachtest nach den Verbesserungen gar nicht mehr im Budget wäre.
Der erste Schritt ist also, kompetente Designer:Innen und Entwickler:Innen zu beschäftigen, in deren Aufgabe fällt auch das Testen.
In der Theorie klingt es gut: Erst die Entwicklung, dann das Testen, dann Verbesserungen, dann noch mal das Testen. In Wirklichkeit ist das ein hoher Grad an Energie- und Ressourcen-Verschwendung. Die Erfolgskriterien der WCAG 2.x sind ohnehin als testbare Kriterien formuliert. Wie oben gesagt, müssen die beteiligten Personen grundlegend barrierefrei arbeiten, dazu gehört auch das Testen.

Testen am lebenden Subjekt

Wie oben angedeutet ist natürlich wichtig, dass Software bzw. Webseiten grundlegend barrierefrei entwickelt werden.
Der zweite Schritt ist dann, dass mit dem lebenden Subjekt getestet wird. Meines Erachtens ist kein nicht-behinderter Mensch in der Lage, eine komplexe assistive Technologie wie einen Screenreader, eine Bildschirm-Lupe oder eine Sprachsteuerung so zu nutzen wie es ein Betroffener tun würde. Doch gerade bei komplexen Webprojekten – wir reden nicht von der 08/15-statischen Webseite, sind solche Tests enorm wichtig. Sie werden aber nicht gemacht, weil der DIAS-Test schon alle Mittel verschlungen hat.
Allerdings ist im Rahmen der EU-Richtlinie 2102 ohnehin ein Feedback-Mechanismus vorgesehen. Daher mein Vorschlag: Stecken Sie die Ressourcen für den DIAS-Test in den Test der Anwendung durch betroffene Personen. Und setzen Sie auf agile Weiterentwicklung der Anwendung, statt alle zwei Jahre zu überlegen, was Sie besser machen könnten.

Fazit

Wir sind, was die Barrierefreiheit angeht aktuell an einem toten Punkt. Während Millionen Euro in die aufwendige Testung gesteckt werden, gibt es recht wenige in Barrierefreiheit kompetente Entwickler:Innen und Designer:Innen. Gerade im öffentlichen Dienst und den für sie tätigen Agenturen müsste viel mehr Geld in die Kompetenz der zuständigen Personen gesteckt werden. Oder wer soll die Mängel reparieren, die durch die Tester:Innen entdeckt werden? Auch behinderte Menschen sollten zu Tester:Innen qualifiziert werden, das wäre eine sinnvollere Maßnahme.
Der Dreiklang aus Kompetenz auf der Seite der zuständigen Personen und kompetenter Tester:Innen sowie dem Feedback-Mechanismus kann wesentlich mehr zur Barrierefreiheit beitragen als immer stärker aufgeblasene Testverfahren. Heute sind es 90, morgen 120 und irgendwann 150 Prüfschritte. Dann sitzt man mehrere Personentage an dem Test einer Handvoll Webseiten, hat aber im Endeffekt nichts für die Barrierefreiheit erreicht.

Weitere Infos

Barrierefrei ist mehr als Sprachausgabe und Alternativtext

inklusion-gruppe-menschenIn den letzten Jahren haben erfreulicherweise die Artikel über digitale Barrierefreiheit zugenommen. Fast jeden Tag erhalte ich Hinweise auf Beiträge bei Spiegel Online und Co. Allerdings verbreite ich diese Artikel selten weiter, weil sie meines Erachtens zu stark auf Blindheit fokussieren. Wie oft lese ich auf Twitter sinngemäß: „Es funktioniert mit Sprachausgabe, also ist es barrierefrei“. Das offenbart eine falsche Ansicht von Barrierefreiheit. Die umgekehrte Aussage „Es funktioniert nicht mit Sprachausgabe, also ist es nicht barrierefrei“ wäre hingegen vollkommen korrekt.
Das erinnert mich an einen ehemaligen Schulkameraden, der jetzt Fachinformatiker ist. Ich erzähle ihm, die Anwendung X wäre nicht barrierefrei, genauer gesagt nicht mit Screenreader nutzbar. Er sagt dann regelmäßig: Doch, die ist barrierefrei, Du musst einfach nur… stellen Sie sich eine gewundene Anleitung vor, die etwas mit Fensterklassen und Screenreader-Cursorn zu tun hat, von denen ich noch nie gehört habe, außerdem sollen vier Tasten gleichzeitig gedrückt und vorher noch das Soundso-Skript heruntergeladen werden. Er hat eine etwas verschrobene Vorstellung von einfach, aber auch wie viele super-fitte Blinde das Konzept von Barrierefreiheit nicht ganz verstanden. Viele von ihnen haben kein Gefühl für die technischen Fähigkeiten anderer Blinder oder eine Idee davon, dass man auch mehrere Einschränkungen haben kann, dass also etwas, was für sie gut funktioniert für andere Blinde oder andere Behinderte nicht gut funktionieren muss.

Drängeln sich die Blinden vor

Meistens beginnen die Artikel vielversprechend. Liest man aber zwei Absätze weiter, werden nur noch Sprachausgaben und Alternativtexte erwähnt. Ein schönes Beispiel war ein Artikel – ich verlinke ihn hier absichtlich nicht – wo zunächst ein blinder Nutzer und anschließend ein blinder Entwickler vorgestellt wurden. Der Eine vertrat die Nutzer:Innen-Perspektive, der Andere die Entwickler:Innen-Perspektive.
Das ist nett, scheint mir aber nicht ausgewogen zu sein. Es gibt sicher Autist:Innen oder Gehörlose, welche die eine oder andere Perspektive hätten beisteuern können. Es leuchtet nicht ein, warum Blinde, deren Belange bei digitaler Barrierefreiheit eigentlich immer erwähnt werden, so deutlich hervorgehoben werden. Wenn ich etwa interviewt werde, muss ich natürlich etwas zum Thema Blindheit sagen, aber ich erwähne auch immer weitere Gruppen, weil ich finde, dass sie im Diskurs um digitale Barrierefreiheit vergessen werden, im übrigen auch von Leuten, die sich in der Materie auskennen. Ich lese zum beispiel etwas über Alternativtexte und Großschreibung bei Hashtags, aber das die Tweets in einer Sprache geschrieben sind, die nicht mal ich als Akademiker verstehe kommt nicht vor. Oder die Unart, irgendwelche Standpunkte oder anderen Blödsinn in den Twitternamen zu packen, so dass man erst irgendeinen Blödsinn vorgelesen bekommt, bevor man den Tweet zu lesen bekommt. Es ist eben typisch für Sehende, die nicht kapiert haben, dass Blinde solche Dinge nicht einfach überspringen können.

Blindheit ist plastisch

Der Grund dafür ist klar, die Belange von Blinden lassen sich sehr einfach beschreiben. Der Alternativtext wird so gerne erwähnt, weil er als Beispiel einfach und einleuchtend ist.
Und es stimmt auch teilweise: Ist eine Webseite per Tastatur bedienbar, sind Formular-Beschriftungen richtig gesetzt und ist die Semantik korrekt, können auch andere wie Tastatur- oder Sprachausgaben-Nutzer:Innen profitieren.
Allerdings sind die Schnittmengen damit fast schon erschöpft. Blinden ist der Kontrast einer Webseite völlig egal, aber der viel größeren Gruppe der Sehbehinderten durchaus nicht.
Noch schwieriger wird es beim Thema kognitive Behinderung, Gehörlosigkeit oder Lernbehinderung. Die erstere Gruppe wurde in den Richtlinien bislang stark vernachlässigt. Bei den letzten beiden Gruppen wissen wir, dass Leichte und Gebärdensprache die Lösung wären, setzen es aber unzureichend um. Aber nur, weil deren Belange schwerer zu beschreiben sind heißt das nicht, dass man sie im Diskurs unterschlagen darf.

Fazit: Blindheit ist wichtig, aber nicht alles

Seitdem ich mich mit dem Thema Barrierefreiheit beschäftige wundere ich mich, wie viel Gewicht auf das Thema Blindheit gelegt wird und wie wenig die anderen Personengruppen Erwähnung finden. Es ist nicht weiter erstaunlich, dass Blinde sich selbst in den Vordergrund stellen, man kann das als Gruppen-Egoismus begreifen. Das ist allerdings recht engstirnig. Wir finden es auch nicht schön, dass räumliche Barrierefreiheit vor allem aus der Perspektive der Gehbehinderung gedacht wird. Meines Wissens gibt es keine andere Gruppe, die behaupten würde, eine Webseite sei barrierefrei, weil sie für ihre Form von Behinderung funktioniert. Wir Blinde tun das andauernd.
Natürlich ist es vollkommen legitim, für die eigenen Interessen bzw. Gruppen-Interessen zu kämpfen. Das sollte man dann aber nicht mit einem Kampf für mehr Barrierefreiheit verwechseln.
Ich darf meine blinden Leser:Innen um ein wenig mehr Generosität und Weitblick gegenüber anderen Betroffenen-Gruppen bitten. Wenn wir bei diesem Thema stärker nach links und rechts schauen und andere Gruppen einbeziehen, werden wir – da bin ich mir sicher – alle profitieren.

IAAP DACH – behinderte Menschen nicht in vorderster Reihe

Rund zwei Monate ist es her, dass die IAAP für den deutsch-sprachigen Raum gestartet wurde. Leider bin ich von dem bisherigen Auftreten mäßig begeistert.

Verhunzter Auftakt

Schon die Auftakt-Veranstaltung über WebEx fand ich mäßig gelungen. Einige der Vortragenden konnte man wegen der schlechten Tonqualität und des ausgeprägten Dialekts kaum verstehen. Für Schwerhörige wie mich war das eine absolute Zumutung.
Was mich aber wirklich negativ überrascht hat war, dass da relativ wenige behinderte Menschen als Sprecher:Innen dabei waren. Mein Eindruck ist, dass in den vordersten Reihen der IAAP Dach Menschen ohne für die Barrierefreiheit relevante Behinderung sind: Die Leute von T-Systems oder Professor Zimmermann zum Beispiel. Das waren einige der Personen, die da präsent waren und als prominente Vorstände präsentiert wurden. Auf der Website der IAAP DACH ist nicht einsehbar, wer tatsächlich die IAAP DACH maßgeblich steuert. Wenn es da behinderte Menschen gibt, sind die gut versteckt. Dass der DVBS Startmitglied ist, tut da nichts zur Sache.

Barrierefreiheits-Event ohne Behinderte

Der negative Eindruck setzt sich aber fort, wenn man die Referent:Innen-Liste des Events vom 25.1. bis 29.1. durchschaut. Da treten die üblichen Verdächtigen aus dem BITV-Test-Club auf. Die Mehrheit ohne Behinderung, es wären noch weniger gewesen, wenn der Leiter der Überwachungsstelle nicht blind wäre. Möchte mir man ernsthaft sagen, man hätte keinen einzigen behinderte Menschen als Fachreferent:In oder zumindest Co-Referent:In gewinnen können? Ich stelle die Kompetenz dieser Leute nicht infrage, dazu kenne ich die Meisten nicht gut genug. Allerdings gibt es ähnlich kompetente behinderte Menschen, die man hätte inladen können.
Nun mag es sein, dass die große internationale IAAP ähnlich aufgestellt ist. Von den dortigen Personen ist mir tatsächlich niemand bekannt. Sollte dem so sein, muss ich leider auch das negativ werten.

Die 90er haben angerufen

Leute, ihr wisst schon, dass die 90er Jahre vorbei sind? Sprechen wir nicht seit 10 Jahren darüber, das nichts über uns ohne uns passieren soll? Und dann reden Leute über die Relevanz von Barrierefreiheit, auf die sie selbst nicht angewiesen sind. Selbst, wenn sie jeden Tag eine Stunde lang einen Screenreader nutzen oder drei Mal pro Stunde die Bildschirm-Lupe aktivieren, sprechen sie ganz anders darüber als Personen, die darauf täglich angewiesen sind. Für uns ist es keine Option, einfach mal das Ding ein- und auszuschalten. Warum wird Barrierefreiheit einmal mehr aus der Perspektive der Nicht-Behinderten abgehandelt?
Symbolisch sagt das aus: Nicht-Behinderte Menschen machen die Welt barrierefrei, ihr Behinderte dürft zuschauen.

Fazit

Da mir das immer unterstellt wird: Ich selbst habe kein Interesse, an der IAAP in vorderster Front teilzuhaben. Ich hielt und halte genug Vorträge und bin durchaus nicht sauer, dass ich da nicht dabei bin. Ich bin sogar der Meinung, dass mal Menschen mit anderen Behinderungen dran sind. In Anglo Amerika würde man von under-represented groups sprechen: Gehörlose, kognitiv Behinderte, Menschen mit Lernbehinderung und so weiter.
Ich entschuldige mich für den schafen Ton, aber wir reden so lange darüber, dass mir endgültig die Geduld mit diesen Leuten ausgegangen ist. Manchmal hilft es ja auch, einmal Klartext zu sprechen. Eine ähnliche Kritik habe ich am BITV-Prüfverbund geäußert.
Nachtrag: Nach einem knappen halben Jahr muss man feststellen, dass der IAAP DACH ebenso lernresistent ist wie der BITV-Prüfverbund. Transparenz und Beteiligung von Behinderten steht nicht im Vordergrund, vielmehr habe ich den Eindruck von Geklüngel untereinander. Ich werde meine Mitgliedschaft im IAAP deshalb zum Ende des Jahres ausfallen lassen.
Interessant auch, dass die globale IAAP ähnliche Probleme zu haben scheint.

Corona und Barrierefreiheit – ein vorläufiges Fazit

Schematische Darstellung des Corona-Virus
Wie es aussieht, wird uns der Corona-Virus noch weit ins Jahr 2021 beschäftigen. Dennoch können wir nach fast einem Jahr ein vorläufiges und subjektives Fazit ziehen zu der Frage, wie sich Corona auf die Barrierefreiheit ausgewirkt hat.
Vorneweg sei gesagt, dass Barrierefreiheit natürlich ein wichtiges Thema für viele behinderte Menschen ist. Dennoch ist es nicht der einzige Aspekt. Viele chronisch kranke Personen sind seit März in einer dauerhaften Isolation. Für Andere sind die Corona-Maßnahmen eine Belastung in jeder Hinsicht. Welche psychischen Langzeitfolgen Corona und die ergriffenen Maßnahmen haben werden, ist heute noch nicht absehbar. Hinzu kommen natürlich ökonomische Folgen durch Entlassungen, Kurzarbeit und weitere Belastungen.
Es ist leider immer so, dass solche Katastrophen die Armen, zu denen behinderte Menschen häufig gehören, stärker treffen als die reicheren Zeitgenossen.

Mehr Barrieren für die einen, weniger für die anderen

Persönlich kann ich tatsächlich nicht klagen. Nachdem ich in den letzten Jahren viel gereist bin, meist mit Assistenz, habe ich es doch immer mehr als belastend empfunden. Die Unzuverlässigkeit der Deutschen bahn, volle Bahnhöfe und unbekannte Umgebungen waren immer ein Stress-Test für mich.
Corona hat gezeigt, wie viel doch online geht. Ich habe von Mai bis Dezember 2020 mehr Vorträge und Schulungen durchgeführt als in den drei Jahren zuvor. Ich habe an zahlreichen Meetups virtuell teilgenommen, die anderswo stattfanden und für mich nicht zugänglich gewesen wären.
Durch meine Schwerhörigkeit war für mich die Online-Kommunikation ein Vorteil: Ich konnte die Lautstärke der Sprecher:Innen immer für mich passend einstellen.
Ich bin zugleich an meine Grenzen gestoßen, was die Computerbedienung angeht. Der ständige Wechsel zwischen mehr oder weniger unzugänglichen Kommunikations-Plattformen ist eine Belastung. Man arbeitet sich natürlich nicht in Lösungen wie WebEx ein, wenn man weiß, dass man sie vielleicht zwei Mal im Jahr benutzen muss. Microsoft Teams mag für Blinde zugänglich sein, aber es ist eine Zumutung, darin mit anderen Zusammenzuarbeiten. Das Koordinieren zahlreicher Termine via Mail ist eine Herausforderung, aber ich habe dafür noch keine zugängliche Alternative gefunden.
Auch wenn ich die Vorzüge der Onlinekommunikation zu schätzen weiß, ziehe ich doch persönliche Treffen vor, gerade wenn ich die Leute schon länger kenne. Einerseits scheint die Kommunikation online oft fokussierter zu sein. Aber es fehlen die Gespräche, die vor, während und nach den Meeting stattfanden und den eigentlichen Charme von Meetings ausmachten. Ich hatte unter anderem auch mit den Schulungen angefangen, weil mich das dauerende Arbeiten am Computer ohne Kommunikation mit anderen Leute genervt hat. Online-Schulungen erinnern mich gerade bei einer sehr inaktiven Gruppen an einen endlosen Monolog.
Und man neigt bei Online-Meetings eher dazu, viele Termine eng zusammenzuquetschen. Es ist eine Sache, den ganzen Tag am Computer zu arbeiten. Aber einen halben Tag von einem Online-Meeting ins nächste zu wechseln – das muss ich auf Dauer nicht haben. Die ganze Zeit auf einen Bildschirm zu schauen ist keine Sache, die ich langfristig machen möchte. Das ist kurios, weil ich die Menschen ja auch nicht sehen könnte, wenn ich ihnen gegenüber sitzen würde.
Von anderen behinderten Menschen weiß ich, dass sie es ähnlich empfinden. Das ganze Online-Zeug schafft sozusagen eine neue Barriere. Es gibt einen Punkt, an dem man sagt, lieber weniger, aber dafür persönlich. Das mag aber tatsächlich ein Problem des Alters sein. Mit 20 schafft man das vielleicht einfacher als mit 50.
Von wiederum anderen behinderte Menschen weiß ich, dass für sie die Online-Kommunikation die Barrieren sogar verschärft haben. Viele Sehbehinderte haben sich extrem schwer damit getan, weil sie mit den Lösungen nicht zurecht kamen.
Auch Gehörlose haben sich teils schwer getan. Zu zweit kann man gut online kommunizieren. Allerdings erkennen die meisten Lösungen bis heute nicht, dass jemand mit Gebärden spricht, während eine lautsprachlich kommunizierende Person automatisch eingeblendet wird.
Auch für Menschen mit Lernbehinderung sind Präsenz-Situationen häufig leichter zu bewältigen. Mir ist keine Kommunikations-Lösung bekannt, die ohne Weiteres von ihnen bedient werden kann. Persönlicher Support ist aufgrund von Corona eher schwierig zu realisieren.
Leider sind viele der Tools zur Kommunikation und Zusammenarbeit entweder gar nicht barrierefrei oder haben eine sehr hohe Lernkurve. Irgendwie erwartet jeder Auftraggeber, dass man diese Tools entweder schon beherrscht oder sich die Nächte um die Ohren haut, wenn man sie nicht intuitiv versteht.
Mich hätte tatsächlich interessiert, wie es etwa Menschen mit Autismus oder anderen Behinderungen geht. Leider habe ich dazu bisher wenig in Erfahrung bringen können. Hier gibt es Infos zu Lernbehinderung und Barrierefreiheit.
Corona hat allerdings auch gezeigt, wie weit wir von Barrierefreiheit entfernt sind. Das fängt an mit mangelnden Informationen in Gebärdensprache oder Leichter Sprache und endet nicht bei nicht taktil erfassbaren Bodenmarkierungen fürs Abstandhalten. Zudem gibt es eine teils hohe Aggressivität von Menschen, die nicht verstehen, dass man als behinderte Person nicht ohne Weiteres Abstand halten kann.

Fazit

Das Fazit ist leider sehr durchmischt: Für technisch fitte Personen hat sich die Situation in der Regel sogar deutlich verbessert. Von zuhause aus zu arbeiten hat für mobilitäts-Bhinderte Menschen seine Vorzüge, wenn sie technisch ausreichend gut ausgestattet sind. Für technik-unaffine Menschen hat sich die Situation hingegen verkompliziert.
Einerseits ist es toll, wie viel online schon geht und wir sollten darauf hin arbeiten, dass es stärker genutzt wird. Andererseits glaube ich noch nicht, dass Corona zu einem dauerhaften Kulturwandel geführt hat: Also mehr Online-Veranstaltungen, weniger kurze Dienstreisen. Ich vermute eher, dass wir ab 2022 doch eine Rückkehr zu den alten Verhaltensweisen erleben werden bzw. zu einer stärkeren Mischung aus offline und online.
Ich meine aber auch, dass man den Mitarbeitenden mehr Zeit geben sollte, sich an die neuen Formen der Zusammenarbeit anzupassen. Die Veränderung ist doch größer, als die digitale Boheme denken mag.

Home Office für Menschen mit Behinderung – Chancen und Risiken


Corona hat viele Prozesse ermöglicht oder beschleunigt, die sich Digitalisierungs-Fans wie ich schon immer gewünscht haben. Eine dieser Möglichkeiten ist die Arbeit von zuhause – Remote Work oder Home Office genannt.

Vorteile des Home Office für Behinderte

Für behinderte Menschen ergeben sich durch Home Office zahlreiche Vorteile, von denen ich einige kurz nennen möchte:

  • Der Arbeitsweg entfällt: Er ist etwa für Blinde oder gehbehinderte Menschen stets eine Herausforderung.
  • Es wird nur eine Hilfsmittel-Ausstattung benötigt. Ansonsten braucht man eine Ausstattung für zuhause und eine für den Arbeitsplatz.
  • Home Office zwingt zu digitalen abläufen. Goodbye zu Faxen, handgeschriebenen Notizen und Bergen an ausgedrucktem Papier, die etwa für Blinde nur schwer zugänglich sind.
  • Die Notwendigkeit zu Umzügen kann entfallen. Der Wohnungsmarkt ist generell angespannt, barrierefreier Wohnraum ist praktisch nicht vorhanden.

Zum Thema Digitalisierung und Chancen für Menschen mit Behinderung habe ich einen eigenen Beitrag geschrieben.

Neue Barrieren durch Technik

Allerdings können durch die Digitalisierung neue Barrieren entstehen. Zum Beispiel ist bei vielen Unternehmen eine Software vorgeschaltet, die den Zugriff auf das interne Netzwerk absichert. Viele dieser Programme sind nicht barrierefrei. Im Worst Case heißt das, dass der behinderte Mitarbeiter die Infrastruktur nicht nutzen kann.
Auch viele der Kommunikations- und Datenverwaltungssysteme sind in der Nutzung recht komplex. Google Docs und ähnliche komplexe Programme, die im Browser laufen mögen für eine sehende Person ähnlich nutzbar sein wie ein installiertes Office. Für eine blinde Person trifft das mit Sicherheit nicht zu. Meines Erachtens gab es in den letzten Jahren auch wenig Fortschritt.

Home Office kann zu Exklusion führen

Aus den Augen, aus dem Sinn, so geht es mit vielen Dingen. Es kann zur Inklusion beitragen, wenn man den behinderten Kollegen regelmäßig sieht. Doch ist das nicht der Fall, kann der gegenteilige Effekt auftreten. Es stellt sich die Frage, wofür man räumliche Barrierefreiheit braucht, schließlich kann der Kollege im Rollstuhl von zuhause aus arbeiten.
Für den behinderten Menschen besteht das Risiko der sozialen Isolation, insbesondere für Gehörlose oder Menschen mit Autismus oder für Personen, die soziale Kontakte vermeiden. Für sie ist der Arbeitsplatz manchmal die einzige Möglichkeit, soziale Kontakte zu haben.
Es besteht durchaus die Gefahr, dass der Arbeitgeber „schwierige“ Personen ins Home Office abdrängt, um deren Schwierigkeiten am Arbeitsplatz nicht lösen zu müssen.
Und natürlich gibt es Tätigkeiten, die sich nicht ohne Weiteres ins Home Office verlegen lassen. Eine Digitalisierung begünstigt generell Wissens- und Kommunikations-Arbeiter, während sie Körper-Arbeiter nicht unmittelbar zugute kommt.

Fazit

Zusammenfassend lassen sich zwei Aspekte beim Thema Behinderung und Home Office erkennen. Es ist eine Chance vor allem für technisch fite Personen, sofern die Lösungen im Wesentlichen barrierefrei sind. Es können aber auch neue Barrieren gerade für jene geschaffen werden, die technisch weniger fit sind. Ein weiteres Risiko besteht in einer möglichen sozialen Isolation und Exklusion.

Zum Weiterlesen

Barrierefreie PDFs mit Google Chrome

Seit Google Chrome Version 85 können mit dem Browser barrierefreie PDFs erzeugt werden. Voraussetzung ist natürlich, dass die ursprüngliche Seite bereits Barrierefreiheits-Informationen wie Überschriften und Alternativtexte enthält. Wie gut das PDF aussieht, hängt im Wesentlichen davon ab, ob der Ersteller ein Druck-Stylesheet vorgesehen und optimiert hat.
In der aktuellen Version ist das Feature experimentell und noch nicht für alle freigeschaltet. Um es zu aktivieren, gehen Sie folgendermaßen vor:
1. Geben Sie in die Adresszeile „chrome://flags/#export-“ ohne die Anführungszeichen ein.
2. Suchen Sie in der erscheinenden Liste nach „Export Tagged PDF“.
Screenshot der Funktion
3. Stellen Sie das Feature auf „enabled“.
Starten Sie Chrome zunächst neu. Rufen Sie dann eine Webseite Ihrer Wahl auf. Wählen Sie „Drucken“ aus dem Menü. Wählen Sie aus dem Auswahlmenü „Als PDF speichern“ und drücken Sie auf den Button „Speichern“.
Screenshot des Drucken-Dialogs
Standardmäßig wird das PDF im Download-Ordner gespeichert.
Chrome kann mittlerweile auch automatisch Überschriften in PDF einfügen. Er ist also auch als einfaches Leseprogramm geeignet, übrigens auch für nicht-barrierefrei getaggte PDF. Leider sind alle Überschriften als h2 getaggt.

Weiterführende Infos

Warum die Wirtschaft von Barrierefreiheit profitiert

einkaufswagenDer European Accessibility Act verpflichtet Teile der Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit, darunter Banken, Buchverlage und Online-Shops. Ob die schon von ihrem Glück wissen?
Da unsere Wirtschaft von kurzfristigem Denken geprägt ist, sehen sie die Vorteile der Barrierefreiheit für sich nicht. Gerade deswegen sind Verpflichtungen sinnvoller als Freiwilligkeit. Das möchte ich in diesem Beitrag näher ausführen.

Das Kosten-Dilemma

Im Grunde würde der Staat der Privatwirtschaft einen Gefallen tun, wenn er sie zur Barrierefreiheit verpflichtet. Ich muss zur Erklärung ein wenig ausholen.
Barrierefreiheit ist natürlich ein Kostenfaktor – das lässt sich nicht leugnen. Die bestehende Infrastruktur muss umgebaut werden. Die Kosten sind teils recht hoch, vor allem, wenn es um Umbaumaßnahmen geht. Es gibt aber keine Verpflichtung, Einzelne müssten also vorpreschen und es umsetzen. Die Kosten dafür müssen auf die Produkte umgelegt werden, anders geht es ja in der Wirtschaft nicht. Wenn ich aber anfange und meine Konkurrenten nicht nachziehen, werden meine Produkte teurer. Die kostenbewussten Käufer gehen aber dorthin, wo die Produkte am billigsten sind. Diesbezüglich brauchen wir uns nichts vorzumachen, Barrierefreiheit ist real genau so wenig ein Attraktor wie Bio.
Wenn aber alle Barrierefreiheit umsetzen müssen, relativiert sich das Ganze. Alle Produkte werden ein wenig teurer, aber der nicht-barrierefreie Konkurrent hat keinen Kostenvorteil. Erforderlich sind dafür aber einheitliche Standards.
Klar ist aber auch: Ohne eine kräftige Förderung wird es nicht gehen. Kleinbetriebe wie Arztpraxen können die Kosten eines barrierefreien Umbaus kaum stämmen. Wenn es aber nur eine oder gar keine barrierefreie Arztpraxis gibt, schränkt das die Wahlfreiheit von gehbehinderten Menschen ein. Wobei Arztpraxis durch einen beliebigen anderen Begriff wie Arbeitsplatz, Apotheke oder Restaurant ersetzt werden kann. Und Gehbehinderte sind das anschaulichste Beispiel, wir können jede andere Behindertengruppe nehmen.

Der Vorteil für die Anbieter

Längerfristig betrachtet haben die Anbieter Vorteile, die auf Barrierefreiheit setzen. Der demografische Wandel ist oft thematisiert worden, aber die Folgen scheinen den Beteiligten nicht klar. Ein Großteil der Bevölkerung kommt in ein Alter, wo sie Einschränkungen in der Beweglichkeit, in den Sinneswahrnehmungen und in der kognitiven Verarbeitungsfähigkeit haben werden. Die Schwelle, wo das zu leichten Einschränkungen führt beginnt weit vor dem, was amtlich als Behinderung anerkannt wird. Diese Menschen werden Probleme haben, Produktbeschriftungen, Speisekarten oder Bedienungsanleitungen zu lesen. Die Beipackzettel von Medikamenten sahen ja schon immer so aus, als ob sie für die Lektüre durch Ameisen ausgelegt waren, irgedwann wird sie keiner mehr ohne Lupe lesen können.
Heißt konkret, auch wenn man keinen Rollstuhl oder Rollator braucht, wird man Probleme haben, eine Treppe hochzukommen. Im Zweifelsfall wird man also das Café vorziehen, wo man keine Treppe steigen muss und die Speisekarte ohne 200 Prozent Zoom lesen kann. Das gilt im übrigen auch, wenn man ansonsten noch relativ fit ist und längere treppenfreie Strecken problemlos laufen könnte.
Übrigens sind das – bei aller berechtigten Kritik an der Altersarmut – die Personen, die mehr Geld und mehr Freizeit haben als die hippen Jugendlichen und jungen Familien, die als bevorzugte Zielgruppe gelten. Teile der Tourismusbranche haben das zumindest schon erkannt.
Die Wirtschaft spürt das sicherlich auch schon, sie sind ja nicht dumm. Doch dürfte hier das Kostendilemma durchschlagen, das ich oben beschrieben habe. Leider taugen Apple und Co. hier nicht als Beispiel. Sie spielen gewinn- und umsatzmäßig in der höchsten Liga.
Ein schönes Beispiel in der Corona-Krise: Diegitale Kommunikationslösungen fallen durch, wenn sie nicht barrierefrei sind. Dazu gehören die Platzhirschen Adobe Connect, GoToMeeting oder WebEx. Profitieren können Lösungen, die barrierefreier sind wie BigBlueButton, Zoom oder Teams.

Barrierefreiheit spart auf lange Sicht Geld

Der Wohnungsmarkt ist für gehbehinderte Menschen eine Katastrophe. Rollstuhlgeeignete Wohnungen müssen häufig bundesweit gesucht werden. Der Umbau einer bestehenden Wohnung ist wenn überhaupt möglich für eine Privatperson mit durchschnittlichem Einkommen kaum zu stämmen. Denken wir an Rollatoren, wird der Bedarf in den nächsten Jahren stark steigen. Wohnungen, die jetzt nicht barrierefrei sind müssen teuer nachgerüstet werden.
Krankenkassen und andere Träger stöhnen schon heute über die Kosten, die sie für Reha und Hilfsmittel übernehmen müssen. Wie wird das aber aussehen, wenn ein Viertel der Bevölkerung darauf angewiesen ist?
Anderes Beispiel: Es ist nicht recht nachvollziehbar, warum die neuen ICEs nicht mit schwellenlosen Zugängen oder integrierten Rampen versehen sind. Die Mobilitätszentrale ist zweifellos bemüht, doch schränkt sie am Ende des Tages die Wahlfreiheit und Flexibilität gehbehinderter Menschen auf eine Weise ein, die nicht tolerierbar ist.
Ich könnte auf diese Weise noch viele Beispiele aneinander reihen. Die Kosten durch mangelnde Barrierefreiheit sind enorm, nur dass sie heute im Wesentlichen nicht durch die Firmen, sondern durch den Staat und die Sozialversicherungen, also durch uns alle getragen werden. Wie ich oben gezeigt habe, wird das nicht mehr lange gut gehen, deshalb sollte der Staat einheitliche Vorschriften zur Barrierefreiheit schaffen.
Why Companies benefits from being accessible