Ist es die Barrierefreiheit oder sitzt das Problem vor dem Bildschirm?


Es gibt eine große Herausforderung, die mit der zunehmenden Digitalisierung immer größer wird: Es gibt Menschen, die auch mit relativ barrierefreien Lösungen nicht zurechtkommen.
In meiner Schulung habe ich irgendwo immer eine Folie, wo es um die Frage geht, wie sich Barrierefreiheits- von persönlichen Herausforderungen abgrenzen lassen. Mich erreichen unzählige Anfragen dazu, die sich in zwei Kategorien einteilen lassen:

  • Persönliche Vorlieben
  • Geringe Erfahrung mit digitalen Technologien

Diese Herausforderungen nehmen, wie oben gesagt zu, weil viele Prozesse im Wesentlichen nur noch digital stattfinden. Wissen Sie noch, wann Sie das letzte Mal eine Überweisung ausgefüllt haben? Ein Ticket an einem Schalter gekauft? Eine Pizza telefonisch bestellt? Eine Straßenkarte aufgeschlagen? Eine Nummer in einem gedruckten Telefonbuch oder den gedruckten Gelben Seiten nachgeschlagen? Ich zumindest nicht und wahrscheinlich wird das in absehbarer Zeit so exotisch sein wie die Dame vom Amt, welche Telefonate händisch vermitteln sollte. Für unsereins ist das hakelig, aber machbar.
Andererseits habe ich nicht wenige Leute vor mir, die diese Dinge nie in ihrem Leben gemacht haben – und sie sind teils viel jünger als ich. Ich habe Blinde, die ich sehr mühsam durch Zoom führen muss, ein Programm, dessen Basis-Funktionen ich für völlig unproblematisch halte. Ich habe Leute, die kein Online-Banking machen, weil sie es nicht wollen oder können.
Nun ist es korrekt, dass viele Anwendungen von der Barrierefreiheit her konform, aber dennoch katastrophal in der Nutzung sind. Viele erfahrene Blinde würden mir da zustimmen.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass man an einem gewissem Maß an Komplexität nicht vorbeikommt. Man kann keine Überweisung auf ein fremdes Konto machen, ohne eine IBAN einzugeben, Artikel ohne Empfänger-Adresse bestellen oder Tickets ohne Angabe von Anfahrts- und Ankunftsort kaufen. Eine zusätzliche, aber leider notwendige Aufgabe sind die Sicherheits-Abfragen. Auch sie lassen sich sicherlich komfortabler lösen, aber dass sie da sein müssen, steht wohl außer Zweifel.
Natürlich kann man all das, schlechte Benutzbarkeit trotz formaler Barrierefreiheit und die Sicherheits-Mechanismen als zusätzliche Barrieren verbuchen, das löst das Problem allerdings nicht.
Ein weiterer Faktor scheint hier allerdings auch teilweise die mangelhafte Stabilität der verschiedenen Bestandteile zu sein. Bei mir stürzen mehrfach am Tag Programme ab und ich bin mir relativ sicher, dass es am Zusammenspiel zwischen Client und assistiver Technologie liegt. Meine Vergangenheit mit Zoomtext und Fusion liegt auch schon zig Jahre zurück, doch damals habe ich ähnliche Erfahrungen gemacht, die bis heute von einigen Leuten auch bestätigt werden, mit denen ich Kontakt habe. Was die Hersteller von assistiven Technologien da verkaufen, ist teilweise echter verbugter Schrott.
Im Endeffekt liegt es aber auch am mangelhaften Training der betroffenen Personen – sowohl was die Computer-Nutzung als auch was den Umgang mit assistiven Technologien angeht. Da werden 3000 € für eine Jaws-Lizenz ausgegeben, aber die 200 € für das Training werden eingespart. Zumindest die Basics müssen die Leute draufhaben und das scheint bei vielen Betroffenen nicht der Fall zu sein.
Klar, wir können davon träumen, dass die Software-Qualität in den nächsten Jahren immens zunehmen wird. Aber das wird wahrscheinlich nicht passieren. Auch die Revolution in der assistiven Technologie, auf die ich ein wenig hoffe, wird in absehbarer Zeit nicht eintreten, weil wir nicht genügend Leute davon überzeugen können, daran zu arbeiten. Ich stelle mir zum Beispiel eine Software vor, welche behinderten Menschen bei der Nutzung komplexer Benutzeroberflächen assistiert.
Leider ist es so, dass diese Menschen nicht nur von mehr oder weniger verzichtbaren Goodies abgeschnitten sind. Es ist bequemer, sein Banking von zuhause zu machen, aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass die Arbeit der Gegenwart und der Zukunft im Büro-Bereich vor allem die Arbeit mit komplexen Software-Tools ist. Ein Dokument in Word formatieren, ein paar Formeln in Excel schreiben, damit ist es heute nicht mehr getan. Vielmehr haben wir zahllose browser-basierte Tools, an denen man nicht vorbeikommt und die auch nicht durch eine Assistenz übernommen werden können, weil sie ja zu unserer Arbeit gehören. Das heißt, die Arbeitgeberinnen können Personen nicht einstellen, welche diese Programme nicht benutzen können, weil Probleme auf dieser Ebene nicht mit ein paar Jaws-Skripts gelöst werden können.
Um die Eingangsfrage zu beantworten: Wir müssen beide Bereiche angehen, das hinter und das vor dem Bildschirm. Dazu gehört aber auch, dass die Verantwortung nicht immer bei den Software-Herstellern liegt, sondern auch an jenen, denen die Erfahrung fehlt. Das ist der erste Schritte, um sie zu einer besseren Computernutzung zu ermächtigen.

Is it accessibility or is the problem the disabled person?