Da ich häufiger gefragt werde, welcher Screenreader unter Blinden am meisten verwendet wird, gehe ich an dieser Stelle auf diese Frage ein. Lesen Sie bitte auch meinen Beitrag: Warum Sehende nicht mit Screenreadern testen sollten.Stand des Artikels ist August 2024.
Valide offizielle Statistiken gibt es keine. Die einzige mir bekannte Erhebung ist jene von WebAIM. Sie ist aber nicht repräsentativ, weil sie vor allem den anglo-amerikanischen Sprachraum erreicht. Außerdem werden die Nutzerinnen eines bestimmten Screenreaders von dessen Anbieter gezielt aufgefordert, an der Umfrage teilzunehmen. Bei wenigen hundert Antworten verzerrt das die Ergebnisse deutlich. Meines Erachtens ist die Zahl der Jaws-Nutzerinnen im Verhältnis zu NVDA verzerrt. Jaws ist außerhalb Nordamerikas sehr teuer und für die meisten Blinden nicht bezahlbar. Jaws wird außerdem wegen seiner Preispolitik außerhalb der USA kritisiert. Es bittet für jedes größere Update, also auch für Bugfixes, zur Kasse.
In Deutschland gibt es aktuell drei große Systeme unter Windows: Jaws, NVDA und den Narrator, der aber erst seit Windows 10 mehr als rudimentär ist.
Daneben gibt es VoiceOver auf dem Mac, der unter Blinden wie es scheint ähnlich verbreitet ist wie unter Sehenden. Der Marktanteil liegt bei Blinden bei ca. 10 Prozent.
Unter Linux gibt es verschiedene Hilfstechnologien. Orca ist sicherlich der wichtigste, aber nicht der einzige Screenreader. Auch hier ist der Anteil der blinden Nutzerinnen ähnlich wie unter Sehenden, also praktisch sehr gering. Anders als Sehende müssen sich Blinde nicht nur mit der grafischen Bedien-Oberfläche, sondern auch mit den Eigenheiten der Screenreader-Bedienung beschäftigen, was den Ein- oder Umstieg teils schwierig macht.
Übersichtlicher ist die Situation unter mobilen Betriebssystemen. Auf iOS gibt es nur VoiceOver. Auf Android gibt es TalkBack, Voiceview auf Amazon-Geräten sowie den Samsung-Screenreader auf Samsung-Geräten. TalkBack ist hier das einzige System, was konsequent weiter entwickelt umd am meisten genutzt wird. Tatsächlich sind VoiceView und der Samsung Screenreader Forks von Talkback. Der Samsung Screenreader wird nicht mehr weiterentwickelt, Samsung setzt stattdessen auf Talkback. Samsungs Talkback ist ein wenig anders implementiert, da Samsung seine eigene Strategie fährt. Es gibt noch zumindst einen Screenreader aus China, der zwar auch auf Deutsch verfügbar ist, aber zumindest global keine Rolle spielt. Wenn Sie mit Talkback testen möchten, sind die Geräte mit möglichst nacktem Android, etwa von Google zu empfehlen.
Blinde in Deutschland und weiteren wohlhabenden Ländern sind überwiegen iOS-Nutzer. Die Zahl Blinder, die TalkBack parallel mit iOS oder als einziges System verwenden, würde ich auf ein paar tausend in Deutschland und ein paar 10.000 weltweit schätzen, ein Bruchteil der blinden iOS-Nutzerinnen. Weil Apple-Geräte außerhalb des Westens kaum erschwinglich sind und Apple eine eigenwillige Politik fährt, was die Unterstützung weniger weit verbreiteter Sprachen angeht, mag es in Ländern mit geringerem Einkommen anders aussehen.
Auf dem Desktop hat es in den letzten Jahren fünf größere Umwälzungen gegeben:
- Der Eintritt des Open-Source-Screenreaders NVDA auf der Windows-Plattform.
- Das Aufkommen des Screenreaders VoiceOver auf dem Mac.
- Das Kostenlos-Werden und anschließende Verschwinden von Window Eyes. Window Eyes wurde vom Jaws-Mutterkonzern aufgekauft, der es dann vom Markt genommen hat.
- Die Insolvenz der Firma Baum und das damit verbundene Ende des Screenreaders Cobra. Cobra hatte einen gewissen Marktanteil in Deutschland, wurde aber ausschließlich von der Firma Baum entwickelt.
- Die stetige Weiterentwicklung des Screenreader Narrator unter Windows 10 und 11.
Das Ende von Window Eyes und Cobra hat dem ansonsten schwächelden Jaws vor allem im Bereich Arbeit wieder erhebliche Marktanteile gebracht. Bei vielen Organisationen ist es nicht erlaub, Open-Source-Systeme wie NVDA zu nutzen. Blinde sind oft auch technik-Konservativ und bevorzugen die vermeintlich sicherere Variante mit Jaws.
Im angloamerikanischen Bereich sind die Screenreader System Access und Dolhin von gewisser Bedeutung, spielen aber in Deutschland keine Rolle. Viele Blinde arbeiten im öffentlichen Dienst, also sehr wahrscheinlich mit Windows, daher spielt auch Mac VoiceOver kaum eine Rolle.
Im privaten Bereich dürfte die Sache differenzierter aussehen: Jaws durch die Krankenkasse finanziert zu bekommen ist nach wie vor schwierig. Deshalb spielt NVDA hier eine größere Rolle.
Viele typische Aufgaben, die früher am PC erledigt worden wären können heute mit einem Smartphone oder Tablet oft einfacher gemacht werden. iPads und iPhones dürften also dem klassischen Notebook oder Desktop-PC im privaten Bereich den Rang abgelaufen haben.
Ich kenne bisher keinen Blinden, der Narrator als ersten oder einzigen Screenreader unter Windows 10 oder 11 verwendet.
In absoluten Zahlen und system-unabhängig betrachtet dürfte VoiceOver auf iOS der eindeutige Marktführer unter den Screenreadern im Westen sein. Für viele Blinde sind iPhone und iPad das first und oft auch only device, Bei Smartphones und Tablets dominiert iOS VoiceOver den Markt für Blinde.
Auf dem Desktop dürften sich Jaws und NVDA ungefähr die Waage halten. Jaws ist dominant im Bereich Arbeit, NVDA im Privat-Bereich.
Der Mac hat einen gewissen Marktanteil, spielt aber meines Erachtens keine Schlüsselrolle. Der Narrator ist wegen mangelnder Entwicklung ein absolutes Nischen-Produkt.
Jaws-Nutzer sind oft mit veralteten Systemen unterwegs. Die Update-Politik von Jaws ist äußerst fragwürdig und für die Nutzer recht kostspielig – zumindest außerhalb der USA, siehe auch Ist Jaws besser als NVDA.
Wer also mit Screenreadern testen will, sollte VoiceOver auf iOS und NVDA unter Windows verwenden. Eine Jaws-Lizenz für Testzwecke zu kaufen halte ich für sinnfrei. Allerdings gibt es auch eine Jaws-Demo, die jeweils 30 Minuten lauffähig ist. Danach muss der PC neu gestartet werden, um die Demo ererneut zu verwenden.
Generell nehmen die Unterschiede zwischen den einzelnen Screenreadern ab, was den Support von Web- und PDF-Strukturen angeht. Der große Vorteil von Jaws ist bzw. war der relativ gute Support für Desktop-Anwendungen: Wenn Anwendungen nicht barrierefrei programmiert sind, können Skripte helfen und Jaws hat eine ganze Menge davon an Bord. Diese spielen aber für Web-Anwendungen keine so große Rolle. Deswegen hat Jaws an Relevvanz verloren. NVDA dagegen bringt zahlreiche Anpassungen mit, die es für viele Aufgaben optimiert.
Durch die neue Browser-Vielfalt wird es jedoch schwieriger, da es häufig auf die Kombination Browser und Screenreader ankommt, ob etwas funktioniert oder nicht. Deswegen lautet die Empfehlung, sich an gängige Standards bei der Web-entwicklung zu halten. NVDA hält sich eher an die Standards als Jaws.
Wenn Sie eine Screenreader-Schulung für Sehende und Entwickler benötigen, nehmen Sie gerne Kontakt mit Silta auf.