Barrierefreiheits-Stärkungs-Gesetz – warum die Bundesregierung der Wirtschaft schadet

einkaufswagenNun ist es doch da, das neue Barrierefreiheits-Stärkungs-Gesetz. Die Defizite des European Accessibility Act und deren deutscher Umsetzung sind an anderer Stelle schon ausgeführt worden, das muss ich hier nicht wiederholen. Hier erfahrt ihr, warum Deutschland der heimischen Wirtschaft damit keinen Gefallen getan hat.

Eine Regierung des Stillstandes

Wir haben eine mut- und innovationsfreie Bundesregierung, im Grunde haben wir seit der Regierung Merkel I einen großen Stillstand. Wenn sie nicht gerade durch äußere Umstände gezwungen wurde, hat die Bundesregierung kein großes Thema angepackt. Wo sie es doch getan hat, war die Situation oft nur wenig besser als vorher – siehe Bundesteilhabegesetz. Das ganze Schema des Versagens sieht man in anderen Bereichen wie dem Klimaschutz oder der Digitalisierung. Meines Erachtens geht es hier also nicht so sehr darum, dass Behinderte bewusst ausgegrenzt werden, wie in anderen Kommentaren zu lesen. Es ist das Gleiche passiert wie bei so vielen anderen Gesetzes-Vorhaben – mangelndes Interesse, geringe Ambitionen und Ministerien, die viel Bürokratie ohne nachhaltige Wirkung produzieren. Vielleicht muss man aber auch glücklich darüber sein, dass die CDU im Wesentlichen den Status Quo verwaltet, wenn man sieht, welche unsozialen Reformen der aktuelle Gesundheitsminister Spahn auf den Weg gebracht hat.

Deutschland wird wirtschaftlich abgehängt

Viele große Märkte, insbesondere der gesamte anglo-amerikanische Raum – haben strengere Gesetze zur Barrierefreiheit als Deutschland. Selbst innerhalb der Europäischen Union steht Deutschland in einigen Bereichen deutlich schlechter da als andere Staaten. So hat Österreich härtere Richtlinien zur Barrierefreiheit auch für die Privat-Wirtschaft.
Leider habe ich keinen Vergleich der Barrierefreiheits-Richtlinien in den einzelnen Ländern der Welt gefunden. Falls jemand da einen heißen Tipp hat, freue ich mich. Allerdings kann man davon ausgehen, dass viele der Wachstums-Märkte wie China, Indien, Russland, die Staaten Lateinamerikas und im Nahen Osten ebenfalls zumindest Basis-Anforderungen der Barrierefreiheit gesetzlich verankert haben bzw. es noch tun werden. Hier spielt der Druck durch die sozialen Bewegungen und der Wunsch nach Legitimität eine große Rolle.
Der große Marktfaktor überhaupt ist der demografische Wandel. Er trifft das gesamte Europa, Japan, China, Russland und etwas schwächer die beiden Amerikas. Man hat im Bereich barrierefreier Tourismus schon große Fortschritte gemacht. In anderen Bereichen ist man hier allerdings relativ uninnovativ. Es ist anscheinend in der Privat-Wirtschaft noch nicht angekommen oder man sieht die Kosten für Innovationen als zu hoch an. Am Ende werden aber jene profitieren, die hier langfristig gedacht haben.
Nehmen wir ein Beispiel: Deutschland gehört zu den großen Herstellern von Personen-Zügen. Züge können schwellenfrei gebaut werden, so dass man sie in der Regel ohne fremde Hilfe als Rollstuhlfahrende oder Rollator nutzende Person nutzen kann. Aber die Deutsche Bahn und andere Bahnbetriebe kaufen lieber nicht barrierefreie Züge und organisieren eine personal-intensive Mobilitätshilfe. Kein Staat der Welt wird diese Züge aus Deutschland importieren – entweder werden sie angepasst oder man nimmt sie von Unternehmen, die von vorneherein barrierefreie Züge bauen. Wenn deutsche Unternehmen keine barrierefreien Bankautomaten bauen kann, wird man sie eben von Anbietern beziehen, die das können. Wenn die paar international aktiven deutschen Software-Unternehmen ihre Produkte nicht barrierefrei gestalten können, sind sie global nicht konkurrenzfähig.
Barrierefreiheit ist ein interessanter Markt für global agierende Unternehmen möchte man meinen. Für Deutschland allerdings nicht. Die Regierung traut sich nämlich nicht, hier harte Regelungen oder vernünftige Fristen zu setzen. Deutsche Unternehmen werden nicht zu Innovationen gezwungen und verlieren damit den Anschluss an den Weltmarkt.

Deutschland als großer Bremser

Obwohl Deutschland sich immer als Musterschüler vorkommt, ist es in Wirklichkeit das Gegenteil. Immer, wenn ein internationales Gremium wie die EU Gas gibt, tritt Deutschland auf die Bremse. So war es bei den Richtlinien zur digitalen Barrierefreiheit, so war es beim marakesch-Treaty über den Zugang für lesebehinderte Menschen zur Literatur und so war und ist es beim European Accessibility Act. Der European Accessibility Act sollte ursprünglich wesentlich mehr Bereiche umfassen. Es bleibt ein Rätsel, warum etwa das gesamte Thema Bauen, Arbeits-IT oder Haushaltsgeräte schon im Act komplett außen vor bleibt. Der Act war also schon unambitioniert, als er verabschiedet wurde und er wurde noch weniger ambitioniert in deutsches Recht umgesetzt.
Die Bundesregierung glaubt tatsächlich, man würde der heimischen Wirtschaft dadurch einen Gefallen tun. Das mag kurzfristig gedacht tatsächlich zutreffen. Mittelfristig ist es der Todesstoß für eine export-orientierte Wirtschaft. Was glaubt ihr, welche Lösung/Dienstleistung wird ein großer Markt-Teilnehmender einkaufen, der zur Barrierefreiheit verpflichtet ist? Eine Lösung, die von vorneherein barrierefrei ist oder die deutsche Lösung, die nicht barrierefrei ist? Und selbst in der Binnen-Nachfrage spielt Barrierefreiheit eine wachsende Rolle. Hier hat man meistens die Wahl zwischen einer mittelmäßigen deutschen und einer guten Lösung aus dem anglo-amerikanischen Raum. Der deutschen Lösung wird meistens nur aus Datenschutz-Gründen der Vorzug gegebe, nicht, weil sie in irgendeiner Hinsicht besser wäre.
Das gleiche Schema erkennen wir – wie oben erwähnt – im Klimaschutz wieder. Während alle Welt auf Autos mit geringen Emissionen, weniger Kraftstoff-Verbrauch oder gar Elektro-Autos setzt hat Deutschland die entsprechenden Vorschriften verwässert und dazu beigetragen, dass die deutsche Autowirtschaft international weniger konkurrenzfähig ist. Man hat die Wirtschaft auf kurze Sicht geschont, um ihr auf lange Sicht die Konkurrenzfähigkeit zu nehmen.

Fazit

Wie an anderer Stelle erklärt ist Barrierefreiheit natürlich ein Kostenfaktor. Vor allem in Deutschland, wo man mehr Wert auf Formalitäten statt auf innovative Ideen legt. Das Problem reduziert sich aber dadurch, dass alle Markt-Teilnehmenden sich an die gleichen Regeln halten müssen. Alle Unternehmen haben die gleichen Anforderunge, also kann sich keiner einen Vorteil dadurch verschaffen, dass er die Regeln ignoriert. Durch gemeinsame Anstrengungen und Lösungen werden die Kosten für die einzelnen Markt-Teilnehmenden insgesamt reduziert. Bildungs-Einrichtungen werden dazu gezwungen, die Barrierefreiheit in den Unterricht aufzunehmen, da die entsprechenden Kompetenzen überall gebraucht werden.
Anders als Deutschland manchmal zu glauben scheint wartet die Welt nicht auf deren Innovationen. Sie werden halt wo anders gemacht und dann werden Spanien, Italien oder Irland die Leistungen barrierefrei anbieten, die Deutschland wegen seiner Zögerlichkeit nicht entwickeln konnte.

Der Weg über die Gerichte

In den letzten Jahren hat es einige bahnbrechende Gerichtsurteile gegeben. So ist Deutschland jetzt durch das Bundesverfassungsgericht gezwungen, härtere Maßnahmen zum Klimaschutz zu erlassen.
Möglicherweise ist dies der einzig gangbare Weg: Zum Einen die Bundesregierung durch Klagen zwingen, mehr auf die Barrierefreiheit zu achten. Zum Anderen auch Firmen verklagen, die ihre Software oder andere Produkte nicht barrierefrei machen. Leider ist das in Deutschland schwieriger als in den USA, weil hier das Klagerecht deutlich eingeschränkt ist.
Abgesehen davon sind solche Urteile recht langwierig. Bis man das Bundesverfassungsgericht erreicht, ist viel Sitzfleisch und engagierte Anwält:Innen notwendig. So lange wollen wir eigentlich nicht warten.