Behinderungen simulieren


Es kann in einigen Fällen für einen Nicht-Behinderten sinnvoll sein, eine Behinderung zu simulieren. Die Rehalehrer, die Blinden Mobilitätstechniken näher bringen, müssen zum Beispiel eine Zeitlang mit verbundenen Augen und Blindenstock durch die Gegend laufen. Logisch, denn sie müssen sich in die Situation eines Blinden versetzen können.
Natürlich gibt es einen Riesenunterschied zwischen einer echten Behinderung und einer simulierten Behinderung. Der Sinn solcher Simulationen kann nicht darin bestehen, zu wissen, was Behinderung bedeutet. Es geht eher darum, die Empathie und Sensibilität bei Menschen zu erhöhen, die keine Ahnung von Behinderung haben. Meiner Erfahrung nach kann man den Leuten stundenlange Vorträge dazu halten, aber etwas selber zu erleben – und wenn es nur für ein paar Minuten ist – ist sehr viel plastischer und eindrücklicher. Es gibt außerdem etwas spielerisches in das ansonsten pädagogisch aufgeladene Thema.
Es gibt zum Beispiel vielerorts Projekte an Schulen, wo die Schüler spielerisch an das Thema herangeführt werden. Viele Klassen testen mit Rollstuhl und Zollstock bewaffnet Locations in ihrer Stadt auf Barrierefreiheit. Ich war positiv überrascht, wie viele Konzepte es zu diesem Thema schon gibt. Gerade hat auch die Telekom ein Unterrichtspaket Leistungsstark mit Handicap veröffentlicht.
Ich bin mir sicher, dass der Eindruck bei den Kindern nachhaltiger ist als wenn sie an irgendeinem Vortrag teilgenommen hätten. Zudem sind häufig auch Menschen mit Behinderung an diesen Projekten beteiligt, der Grundsatz „Nichts über uns ohne uns“ ist also verwirklicht worden.

Sehbehinderung und Blindheit

Zur Simulation einiger Sehbehinderungen kann man im Fachhandel einige adaptierte Brillen erhalten. Die simulieren zum Beispiel verschiedene Sehstärken oder bestimmte Sehbehinderungen. Solche Brillen gibt es zum Beispiel auch in einem Inklusionspaket des VdK Gefrees.
Falls sich Smart Glasses a la Google Glass einma auf dem Markt etablieren, dürften die Möglichkeiten zur Simulation von Sehbehinderungen noch deutlich steigen.
Im Web gibt es außerdem verschiedene Hilfen, um Farbfehlsichtigkeiten zu simulieren. Die kostenlose App SehBiS simuliert ebenfalls einige Sehbehinderungen.
Bei Blindheit ist die Sache noch einfacher. Einfach Augen verbinden oder in ein Dunkelcafé gehen. Diese Dunkelcafés dürfte es in jeder größeren Stadt geben. An einigen Orten gibt es spezielle Hindernis-Parcours, wo die Erfahrung für Sehende noch intensiviert werden kann.
Es gibt relaltiv günstig Taststöcke bei eBay oder Amazon, mit denen man ein wenig Blinder spielen kann. Diese Stöcke können keinen richtigen Blindenstock ersetzen, aber reichen für eine Kostprobe völlig aus. Witzig ist, die Reaktion von Sehenden auf Blinde zu beobachten. Sobald man einen Blindenstock in der Hand hält, werden viele Leute auf einen Schlag freundlich, machen einen zehn Meter großen Umweg um den Blinden – könnte ja ansteckend sein – oder gaffen ihn an wie einen Außerirdischen. Das zeigt, dass da noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten ist.

Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit

Zur Simulation einer bestimmten Form der Schwerhörigkeit reicht es aus, sich einen Track mit starkem Rauschen zu besorgen. Den kopiert man auf das Handy oder den MP3-Player, dreht den Kopfhörer so weit auf, dass das Rauschen den Gehörgang füllt und versuche mal, an einem Partygespräch teilzunehmen. Es gibt eine ganze Diplomarbeit zur Simulation der Innenohr-Schwerhörigkeit.
Gehörlosigkeit lässt sich mit Ohrstöpseln simulieren. Ich habe einige lesenswerte Erfahrungsberichte dazu gefunden. Hörende merken gar nicht, wie stark sie ihren Hörsinn zumindest passiv einsetzen, um zum Beispiel heranfahrende Autos zu hören. Mittlerweile gibt es Kopfhörer, die vom Außenschall isolieren und eine ähnliche Wirkung haben dürften, die sind allerdings recht teuer.

Motorische Behinderungen

Hier ist natürlich der Rollstuhl das beste Hilfsmittel. Hat man keinen zur Hand, behilft man sich mit Gewichten oder Bandagen, welche die Beweglichkeit der Beine oder Arme verschlechtern.
Es gibt sogar einen Alters-Simulationsanzug.

Ähnlich funktioniert auch der Hemiparese-Anzug.

Kognitive Behinderung

Kognitive Behinderungen lassen sich nicht ohne Weiteres simulieren.
Ich empfehle daher die einschlägige Literatur zu lesen. Auch in der Populärkultur spielen solche Störungen eine größere Rolle. Der Charakter Sheldon aus der Comedy-Serie Big Bang Theory soll angeblich Züge von Asperger-Autismus haben. Auch Computerspiele sind oft plastischer als reine Erfahrungsberichte.

Fazit

Behinderung zu simulieren wird in der Behindertenszene eher kritisch gesehen. Viele denken, dass ihre eigenen Erfahrungen dadurch banalisiert werden. Allerdings ist die Old-School-Pädagogik an einem toten Punkt angelangt. Wenn ein Behinderter einen Vortrag über Behinderte hält und fast nur Behinderte kommen, muss man kein Genie sein um zu wissen, dass da irgendwas nicht richtig funktioniert.
Man mag das kritisch sehen, aber das unmittelbare Erfahren ist sehr viel nachhaltiger als alle wohlgemeinten Ratschläge, Ermahnungen und Appelle. Wir wären heute sehr viel weiter, wenn die aktivierenden Ansätze schon vor 30 Jahren verwendet worden wären.
Daher sollten nicht nur Schüler, sondern auch Erwachsene solche Sensibilisierungstrainings machen. Man kann das durchaus spielerisch anlegen und zum Beispiel in einen Betriebsausflug einbauen.
Die Ergebnisse lassen sich nicht leugnen. Der oben verlinkte Ohrenstöpsel-Träger hat festgestellt, welch große Rolle das Gehör spielt und wie gefährlich das Leben für Gehörlose sein kann. Die sehenden Besucher von Dunkelcafés berichten, wie stark die anderen Sinne geschärft werden. Und nebenbei unterhalten sie sich im Dunkeln mit Leuten, mit denen sie im Hellen vermutich nie zusammengetroffen wären, geschweige denn ein Wort mit ihnen gewechselt hätten. Einer erzählte mir, er habe sich spontan in die Stimme eines Mädels verliebt, das er dort kennengelernt hat.

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