Mit digitaler Barrierefreiheit ein Unternehmen gründen – ein Interview mit Sophie Johanning


Das ist das Transkript zum oben eingebetteten Podcast. Ich habe den Text ein wenig geglättet, aber versucht, den mündlichen Charakter beizubehalten. Tippfehler gehen auf mein Konto. Ich sprach mit der Gründerin Sophie Johanning über den Einstieg in die digitale Barrierefreiheit, barrierefreie Dokumente und Künstliche Intelligenz und über ihre Tipps für andere, die sich mit digitaler Barrierefreiheit selbständig machen möchten.

Domingos: Herzlich willkommen zu einem neuen Podcast zur digitalen Barrierefreiheit. Heute darf ich den ersten Interview-Gast in diesem Podcast begrüßen, nämlich Sophie Johanning. Erstmal herzlichen Dank dass du dir die Zeit für das Interview nimmst. Stell Dich doch einmal vor.

Sophie: Vielen lieben Dank, dass ich hier sein darf. Ich arbeite in der digitalen Barrierefreiheit und vor allem im Bereich barrierefreie Dokumente und barrierefreie Software, ich und mein Netzwerk Silta.
Wir versuchen Menschen mit verschiedenen Hintergründen und verschiedenen Schwerpunkten und Vorwissen im Bereich Barrierefreiheit zusammen zu bringen und zusammen an Projekten zu arbeiten. Zum einen Projekte für Kunden, wo wir Geld verdienen. aber Zum anderen auch Projekte, wo wir versuchen, langfristige Lösungen entweder selber zu finden oder zu fördern und die digitale Barrierefreiheit zu verbessern.

Sophies Weg in die digitale Barrierefreiheit

Domingos: Das ist auch dringend notwendig. Du hast ja einen ganz interessanten Hintergrund. Du hast ja Chemie und Physik auf Master studiert und auch abgeschlossen. Dann hast Du einen etwas ungewöhnlichen Weg zum Thema Barrierefreiheit gefunden. Vielleicht kannst du Den Zuhörenden ein bisschen darüber erzählen, wie Du in die Barrierefreiheit gerutscht bist.

Sophie: ja genau, ich habe angefangen Chemie zu studieren und nach zwei Semestern gemerkt, dass mir Physik fehlt. Dann war ich so tollkühn und habe dann Chemie und Physik gleichzeitig studiert
Dann in meinen Schluss Zügen im Master, weil ich ein bisschen länger dadurch studiert habe, da es zwei Studiengänge waren und ich meine Eltern etwas entlasten wollte, habe ich mir einen Nebenjob gesucht. Ich bin auf netz-barrierefrei.de gestoßen. Du hattest eine Assistentin gebraucht, die mit dir durch Deutschland zieht und Dich unterstützt. Ich erinnere mich an die ersten drei, vier Termine mit dir waren glaube ich einmal in Hamburg das Spiegel-Interview, dann in Düsseldorf eine Schulung und Vorträge aller Art. Es hat unglaublich viel Spaß gemacht und ich konnte an ganz vielen Schulungen und Vorträgen von dir teilnehmen. Das ist alles unglaublich spannend gewesen.
Ich komme aus den Naturwissenschaften. Dort habe ich mich auf Coding spezialisiert Das heißt, mir wurden wissenschaftliche Probleme gegeben und dann habe ich versucht, Programme bzw. algorithmische Lösungen dafür zu finden. Mich hat es interessiert, wie man es schaffen könnte, vielleicht ein Feld wie die digitale Barrierefreiheit, die überhaupt nicht automatisiert ist, bis heute, wie man es schafft, durch Algorithmen und Automatismen vielleicht in der Zukunft zu verbessern. Und auch allgemein fand ich dieses Feld unglaublich spannend. Wir hatten es dann ja auch häufig darüber in vielen deutschen Bahnen, die zu spät kamen, weswegen wir ja immer ganz viel quatschen konnten, vor und nach Vorträgen. So ein bisschen fehlt die wissenschaftliche Sicht und technische Expertise in der deutschen Barrierefreiheit.
Dann habe ich mich 2019 selbstständig gemacht und habe angefangen, da wirklich in dem Bereich zu arbeiten bis heute. Ich habe nach und nach mein Netzwerk aufgebaut und wir sind jetzt zu zweit. Ich und meine Business Partnerin, die dazu gekommen ist. Sie ist auch aus dem Bereich der Physik, sie war Teilchen Physikerin. Wir sind aktuell ein Netzwerk und hoffen, in Zukunft eine GmbH zu gründen, die sich mit Software-Entwicklung beschäftigt. Wir versuchen wirklich, Lösungen zu finden, zum Beispiel vielleicht einen besseren Screenreader zu entwickeln oder Automatisierung oder ähnliches.
So viel zu meinem Weg in die Barrierefreiheit, etwas unkonventionell, aber vielleicht auch wirklich dadurch, dass man Barrierefreiheit nicht studieren kann dann doch ganz konventionell so aus einer ganz anderen Ecke zu kommen

Domingos: So ist es. Auch in der Webentwicklung kommen ja viele Leute aus ganz anderen Bereichen. Ich denke auch, dass generell die wissenschaftliche bzw. naturwissenschaftliche Herangehensweise in der Barrierefreiheit eine Bereicherung ist. Ich selbst gehe meist intuitiv an das Thema, was nicht immer sinnvoll ist.

Sophie: Das ist mir auch aufgefallen. Ich stelle mir automatisch die Frage ,wenn jemand zum Beispiel sagt, Icons sind nicht barrierefrei. Bei mir kommt dann immer direkt die Frage auf, warum dem so sei und häufig können die Leute gar nicht sagen, wie sie zu einer spezifischen Aussage kommen. Das sind dann einfach Dinge, die man so denkt In der digitalen Barrierefreiheit in Deutschland, ohne sie geprüft zu haben. Und dann ist es manchmal gut, wenn jemand neu dazu kommt und nachfragt.

An welchen Projekten sie arbeiten

Domingos: Du arbeitest ja jetzt ungefähr drei Jahre in der Barrierefreiheit, also fünf Jahre, wenn wir die assistenzzeit dazu zählen. Vielleicht kannst Du erzählen, an welchen interessanten Projekten ihr gerade arbeitet, ohne jetzt Kunden- oder Produktnamen zu nennen.

Sophie: Im Moment kooperieren wir mit einem öffentlichen Kunden. Da geht‘ es darum, wir sollte Tourismus aussehen, wenn er barrierefrei ist. Wenn ich z.B. eine Werbung habe und da wird jetzt zum Beispiel ein Urlaub empfohlen oder es ist ein instagram-Post und man möchte Deutschland als Urlaubsland in irgendeiner Form anpreisen ,dann ist die Frage, wie interessieren wir denn auch Menschen mit Behinderung für Deutschland als Tourismusland. Da reicht das vielleicht nicht ,wenn ich einfach nur ein Standardbild mit einer Bildbeschreibung poste „Das ist das Wattenmeer „. dann wäre vielleicht was anderes interessanter. Vielleicht, was kann zum Beispiel ein Mensch mit motorischer Behinderung an Aktivitäten am Wattenmeer durchführen oder wenn es Rundreisen gibt oder ähnliches, sind die barrierefrei.
Außerdem machen wir generell sehr viel mit barrierefreien Dokumenten und der Frage, wie wir dann spezifische Bilder auch so beschreiben dass sie dementsprechend ankommen. In einem anderen Projekt geht‘ es darum, wie man die Tagging Struktur von Dokumenten automatisiert erstellen lassen kann. Für diejenigen, die nichts mit digitaler Barrierefreiheit zu tun haben oder da einfach mal reinschnuppern wollen: Es ist ganz wichtig, dass wir ein PDF haben, das für die Barrierefreiheit jedes einzelne kleine Element von sich selbst aussagt, was es ist: Bin ich eine Überschrift, bin ich ein Bild das, nennt man Semantik. Diese Struktur muss man bis jetzt händisch hinterlegen. Das heißt, irgendjemand muss durchgehen und muss jedem Element zuordnen, was es ist. Word kann einem da helfen, beim Export ins PDF ist das noch nicht optimal. Unser Projekt ist, das Ganze zu automatisieren.
Ein weiteres Projekt, welches wir gerade haben: Ein Riesenproblem in der Barrierefreiheit ist, dass wir kaum Daten darüber haben, wie sich Menschen mit Behinderung durchs Netz bewegen, weil es Gott sei Dank ja auch nicht getrackt wird. Das führt aber dazu, dass wir gerade bei spezifischen Aussagen gar keine Möglichkeit haben abzuwägen, was wirklich am besten barrierefrei ist. Wir arbeiten an einem Projekt, wo wir die Daten, die wir haben nehmen und visualisieren und versuchen aufzubereiten, um darauf aufmerksam zu machen, wie wenig wir eigentlich wissen und wie wichtig es ist, aktiv Menschen mit Behinderung auch einzubinden. Ich weiß noch, Du hattest 2018 bei Microsoft einen Vortrag gehalten und du hattest davon gesprochen, wie wichtig es ist, dass man sich als Entwickler nicht einfach denkt, okay cool, das würde einer blinden Person helfen, sondern man sollte vielleicht davor mal mit einer blinden Person geredet haben,, ob das wirklich die beste Möglichkeit ist. Und darauf wollen wir aufmerksam machen, dass man viel mehr mit Menschen mit Behinderung darüber redet, was Sie wirklich brauchen und als barrierefrei erachten. Gerade aus der Entwickler Perspektive ist man da manchmal ein bisschen zu Wohlwollend und denkt, man weiß schon, was am Ende hilft.

Herausforderung barrierefreie Dokumente

Domingos: Deine Kolleginnen und Du aus dem Netzwerk Silta.ai, ihr habt euch ja auf das Thema barrierefreie Dokumente spezialisiert. Welche Probleme stellen sich in diesem Bereich?

Sophie: Ich hatte es ja schon mal kurz angesprochen: Dieses Problem mit der Semantik. Und das ist bei PDFs wirklich so der Knackpunkt. Man muss so eine technische Struktur integrieren, die Elementen und Strukturen einen Sinn und einen Zweck gibt. Wo KI helfen kann oder allgemein einfach schlauer Algorithmen die selbstständig Entscheidungen treffen können ist bei der Frage, wenn ich zum Beispiel verschiedene Überschriften habe und eine davon zum Beispiel in Schriftgröße 26 grün und fett gedruckt und eine andere ist in Schriftgröße 20 auch grün und nicht fett gedruckt. Eine KI könnte sich das anschauen und dann entscheiden, das eine ist vielleicht eine Überschrift und das andere ein Titel und so weiter.
Im Großen und Ganzen sind Infografiken und vor allem Grafiken, die für blinde Menschen beschrieben werden sollten im allgemeinen ein Problem. Da können Bilderkennungs-Systeme in Zukunft helfen. Eine Sache, die bei Dokumenten wichtiger ist als zum Beispiel im Web. Im Web sind Inhalt und Design streng getrennt. Das heißt, Inhalte werden durch das HTML weitergegeben, das Design wird über CSS gemacht. In PDF ist das aktuell schwieriger. Sie müssen häufig händisch getaggt werden, wir arbeiten an einer Lösung, um das zu automatisieren.
Weil du das Thema Probleme angesprochen hast. Ein wichtiges Thema ist auch das automatisierte Prüfen von PDFs auf Barrierefreiheit. Es gibt zwar Werkzeuge dafür, die aber aktuell nicht brauchbar sind.

Domingos: Du und Deine Kollegin seid ja auch Entwicklerinnen für KI. Wie seht ihr die Zukunft der KI bei barrierefreien PDF, wird es da in absehbarer Zeit positive Entwicklungen geben?

Sophie: Auf jeden Fall. Das ist jetzt meine persönliche Einschätzung. Aber durch die neuen Gesetze in der EU und den European Accessibility Act ist da ganz viel angestoßen worden. Es gab früher nicht den Druck, so schlaue Algorithmen zu entwickeln. Geld wird da investiert, wo man Geld machen kann. Was wir bisher haben, ist eher mittelmäßig und muss sehr viel händisch nachgebessert werden. Man merkt, dass hier viel mehr Momentum reinkommt und es viele Initiativen gibt. Ich denke, dass es in drei, vielleicht fünf Jahren viel besser aussehen wird.

Tipps zum Einstieg in die digitale Barrierefreiheit als Freelancerin

Domingos: bevor wir zum Schluss kommen: Du hast dich ja bewusst entschieden, Dich selbstständig mit dem Thema digitale Barrierefreiheit zu machen. Es gibt ja sehr viele junge Menschen wie Dich, die gerade mit dem Studium fertig sind und etwas Sinnvolles machen wollen. Was würdest Du ihnen raten, wenn sie in die digitale Barrierefreiheit gehen möchten?

Sophie: Ich muss wirklich sagen, unser Netzwerk und die Community, es gibt so viele liebe Menschen die helfen wollen und die Leute suchen. Das heißt, sich wirklich trauen, vielleicht mal Leute anzuschreiben. Vielleicht mal in der Hochschule in einen Kurs oder eine Session/Vortrag reinschnuppern. Eine Sache, die ich wirklich mit auf den Weg geben möchte, weil das uns auch ja alles so viel Freude bringt und wir so viel Spaß am Job haben und an der Thematik.
Barrierefreiheit steht ja noch nicht auf dem Stundenplan. Man hat sein Studium abgeschlossen und es ist immer sicherer in Anstellung zu gehen. aber wenn man mutig ist, sollte man es auch mit der Selbständigkeit versuchen. und wenn man vielleicht mal ein paar Leute im Netzwerk an schreibt und mal fragt ob man vielleicht zwei drei Wochen Praktikum machen kann oder mal reinschnuppern kann. Es ist eine so nette Community, es gibt so viele hilfsbereite Menschen und es macht so unglaublich viel Spaß und wir brauchen wirklich schlaue Leute mit allen möglichen Fähigkeiten. Generell ist die Vernetzung mit anderen Gleichgesinnten superwichtig.

Domingos ja, vielen Dank für diese Tipps. Ich hoffe, dass sich dann auch einige Leute ermutigt fühlen, in das Thema Barrierefreiheit reinzugehen. Das müssen ja auch nicht unbedingt junge Leute sein, man kann auch mit 50 Jahren eine komplett neue Richtung einschlagen. Auf jeden Fall herzlichen Dank, dass Du Dir die Zeit für das Interview genommen hast.

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