Behinderung und Barrierefreiheit im Wissenschafts-Journalismus

Krebs ist geheilt, Blinde können wieder sehen und Querschnittsgelähmte werden gehen können. Nein, der Messias ist bisher nicht zurückgekehrt und der mentaltrainer von RTL hat auch nicht zugeschlagen. Diese Aussagen könnte man glauben, wenn man regelmäßiger Leser der bunten Seiten in Zeitungen und Magazinen wäre. Ich nenne es der Einfachheit halber Wissenschafts-Journalismus, auch wenn man es treffender als Boulevard bezeichnen sollte.
Ein Schlaglicht darauf wirft die gerade zu Ende gegangene Fußball-WM. Ursprünglich als großes Event geplant war der Anstoß des Balls durch einen Querschnitts-Gelähmten mittels eines so genannten Exo-Skeletts. Das Skelett kann man sich als eine Art Anzug vorstellen, wobei das Gefährt über das Gehirn gesteuert wird. Offenbar ist das, was tatsächlich zu sehen war nicht spektakulär genug, weshalb die Verantwortlichen es kurzerhand zum Randereignis machten, nicht ohne die Aufmerksamkeit zu genießen, die sie durch ihre vollmündigen Ankündigungen ausgelöst haben.
Nun kann man über Sinn und Unsinn der Exo-Skelette streiten, das möchte ich hier nicht tun. Ich sehe das nicht so kritisch wie Andere, aus meiner Sicht ist es durchaus positiv, dass überhaupt über solche Technologien berichtet wird, die ansonsten auch in wissenschaftlichen Kreisen kaum Aufmerksamkeit genießen. Auch wenn die meisten Querschnittsgelähmten nie solche Anzüge tragen werden, können sie – und andere – von der Erforschung von Gehirn-Maschinen-Schnittstellen nur profitieren.
Ein generelles Problem besteht eher darin, wie der Wissenschafts-Journalismus mit solchen Meldungen umgeht. Offenbar werden viele Pressemitteilungen von wissenschaftlichen Einrichtungen mehr oder weniger unverändert abgedruckt. Das nun ist wirklich unerfreulich.
Man sollte meinen, staatliche Einrichtungen wie Hochschulen und all die Fraunhofer- oder Max-Planck-Institute würden verantwortungsvoll mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit umgehen, zumindest verantwortungsbewusster als Unternehmen. Es scheint aber eher umgekehrt zu sein, Unternehmen sind nicht zuletzt vorsichtiger geworden, weil Journalisten und eine kritische Öffentlichkeit sie ständig beobachten und jeden Fauxpas genüsslich ausschlachten. Öffentliche Einrichtungen hingegen scheinen Narrenfreiheit zu haben. Das Problem besteht darin, dass bei Betroffenen, Angehörigen und Freunden falsche Hoffnungen und Erwartungen geweckt werden.
Nun kann man selbst von gestandenen Natur- und Technik-Journalisten nicht erwarten, dass sie sich gut in allen auch abseitigen Themengebieten auskennen. Was man aber durchaus erwarten kann ist eine kritische Einschätzung von Pressemitteilungen und wissenschaftlichen Artikeln. Deren erster Zweck ist nicht mehr der Austausch oder die Information, sondern das Renommee des Forschers und die Dritt-Mittel-Akquise. Man kann akzeptieren, dass das einer der vielen Webfehler des Systems ist. Allerdings muss man diesen Unsinn nicht noch unterstützen, indem man ihn unkritisch verbreitet.
Aber auch die Wirtschaftsunternehmen haben aufgerüstet. So liest man viel über einen Chip, der Blinde sehen macht. Dahinter stehen zumeist gestandene Hilfsmittel-Unternehmen mit recht ansehnlichem Umsatz. Man mag es für legitim halten, dass diese Unternehmen Geld verdienen wollen. Es ist jedoch nicht legitim, falsche Hoffnungen bei Betroffenen zu wecken und sich als Wohltätigkeits-Institut zu inszenieren.
Leider haben Twitter und Facebook alles eher schlimmer als besser gemacht. Während man früher nur auf den Wissenschafts-Seiten von Zeitungen das Zeug zu sehen bekam, grassieren solche Mitteilungen auch auf Twitter und Facebook und zwar auch von Betroffenen selbst, die es eigentlich besser wissen sollten. Nehmen wir zum Beispiel die OrCam, eigentlich nicht mehr als ein besseres Smartphone oder Smart Glass, dass eine Zeitlang als Wunderwaffe gegen Blindheit galt. Oder Hyperbraille, ein großflächiges Braille-Display, welches so teuer ist, dass es keine Privatperson jemals besitzen wird. Die Kette lässt sich endlos fortsetzen. Ich muss zugeben, dass auch ich solche Meldungen verbreitet habe. Allerdings dachte ich, dass die Leute aus der Zielgruppe schon einschätzen könnten, wie sinnvoll solche Entwicklungen sind, mittlerweile bin ich mir da nicht so sicher und wenn ich heute Zweifel an der Seriosität einer Meldung habe, fliegt sie in den virtuellen Papierkorb.
Ein weiterer Abnehmer für solche Informationen sind natürlich die Online-Publikationen. Es sind diese typischen Meldungen, die viel geteilt und kaum gelesen werden – was in diesem Fall besser ist. Große Blogs wie TechCrunch, aber auch Spiegel Online brauchen ständig Nachschub an solchen Informations-Popcorn, Zeug, das leicht verdaulich ist und niemanden aufregt. Außer den Betroffenen selber, denn die gehen davon aus, dass SpOn und Co. solche Meldungen schon überprüfen, bevor sie sie publizieren. SpOn wiederum scheint so viel Vertrauen in die Einrichtungen zu haben, dass sie die Meldungen mehr oder weniger unverändert übernehmen. Noch eine knallige Überschrift wie „Blinde lernen wieder sehen“ und schon kommt die nächste Meldung.

Was tun?

Wir haben gesehen, dass es drei Parteien in diesem Spiel gibt: Die Absender, die Multiplikatoren und das Publikum.
Die Absender sollten überdenken, ob ihre Strategie langfristig gut für sie ist. Ihr kennt die Geschichte von dem Jungen, der immer rief, dass der Wolf käme und als der Wolf tatsächlich kam, glaubte ihm keiner mehr. Die „bösen Buben“ ruinieren den Ruf der ganzen Branche. Ich für meinen Teil bin es leid, solche Meldungen zu lesen und heute glaube ich automatisch eher, dass sie falsch als das sie richtig sind.
Die Multiplikatoren sollten schlicht ihr Handwerk korrekt anwenden. Wenn ich nicht einschätzen kann, ob eine Meldung zutrifft oder nicht oder sie offensichtlich nur verkappte Werbung ist, sollte sie in den Müll fliegen, egal, wie viele Klicks sie bringt. Falsche Meldungen schaden ihrer Glaubwürdigkeit ebenso wie den Absendern.
Last not least gilt das kritische Prüfen auch als Aufgabe für das Publikum. Wenn eine Meldung offensichtlich Müll ist, sollte man sie nicht verbreiten. Ich empfehle eine Beschwerde an den zuständigen Redakteur zu schicken, aber den Zeit-Luxus haben die Wenigsten von uns. Wenn man sich dem Share-Like-Gedöns nicht entziehen will, sollte man zumindest eine kritische Bemerkung beigeben, denn die meisten Leute können schon aus Zeitgründen den Wahrheitsgehalt einer Meldung nicht einschätzen.
Auch Angehörige von Behinderten sollten eine gesunde Skepsis lernen. Das Meiste, was in den Meldungen steht ist wenn nicht unwahr dann zumindest Zukunftsmusik. Wenn etwas zu gut klingt, um wahr zu sein ist es vermutlich nicht wahr, so könnte Murphys neues Gesetz lauten.