Was die Wissenschaft aus der Inklusion lernen kann

In diesem leicht überarbeiteten Beitrag aus meinem Buch „Was ist Blindheit“ möchte ich zeigen, welchen Beitrag Behinderung bei der medizinischen und kognitiven Forschung leistet.
Da ich mich nur mit Blindheit ausreichend auskenne, werde ich nicht auf andere Erkrankungen eingehen. Allerdings dürften auch für Gehörlosigkeit, Bewegungs-Unfähigkeit oder psychische Erkrankungen ähnliche Annahmen gelten. Wer es im Detail von Fachleuten wissen will, dem seien die Bücher von Oliver Sacks und V.S. Ramachandran empfohlen.

Blindheit als Studienobjekt

Blindheit wird schon seit langem wissenschaftlich untersucht. Es geht vielfach darum, die Ursachen von Augenerkrankungen herauszufinden und eine Erblindung zu verhindern. Es soll aber auch untersucht werden, wie sich Gehirn und Verhalten ändern, wenn ein Mensch nicht sehen kann. Orientierungsweisen von Blinden sind zum Beispiel für das Militär interessant. Soldaten im Einsatz müssen sich gelegentlich durch unbekanntes Gelände bewegen. Die Sichtweiten können dabei sehr gering sein. Ein Vorbild für die Brailleschrift war die von einem Militär entwickelte Nachtschrift.
Sehen ist der für den Menschen wichtigste Sinn. Ein Großteil der Gehirnkapazität ist darauf ausgelegt, visuelle Eindrücke zu verarbeiten. Das Sehen ist nicht nur für die Orientierung oder für alltägliche Aufgaben wichtig. Es spielt auch eine große Rolle in der sozialen Interaktion und Kommunikation. An den Unterschieden zwischen Geburts-Blinden und Sehenden lässt sich hervorragend studieren, welcher Teil der Körpersprache erlernt oder angeboren ist.
Neuronale und soziale Aspekte werden vor allem von Kognitionspsychologen erforscht, deren Ergebnisse wollen wir uns hier näher anschauen.

Gehirn und Sinne

Das Gehirn ist außerordentlich anpassungsfähig. Viele Blinde erbringen große Leistungen, wenn es um die Interpretation von Hör-, Geruchs- und Tastsignalen geht.
Es fällt Geburts-Blinden Kindern wesentlich leichter, sich auf die blinde Welt einzustellen. Je älter ein Mensch bei seiner Erblindung ist, umso schwerer wird es ihm fallen, sich an die Blindheit anzupassen. Das hängt damit zusammen, dass Kinder sich generell schneller anpassen können, für sie ist das Leben an sich ein stetiger Lernprozess. Geburts-blinde Kinder müssen sich gar nicht umstellen, aber auch ältere Kinder können sich schnell anpassen.
Neben der kognitiven Flexibilität, also der Anpassung von Gehirn- und Sinnesleistungen gibt es weitere Herausforderungen für ältere Menschen. Der richtige Umgang mit dem Blindenstock erfordert ein gewisses Maß an Feinmotorik, für die Blindenschrift braucht man ein Mindestmaß an Feinfühligkeit in den Fingern. Älteren Menschen fällt es wesentlich schwerer, diese Techniken zu erlernen, weil sie die physiologischen Voraussetzungen oft gar nicht mehr mitbringen.
Es kommt aber noch ein individueller Faktor dazu: Je aktiver ein Mensch ist, desto anpassungsfähiger ist er auch. Leider neigen viele ältere Blinde dazu, vor allem zuhause zu bleiben oder nur in Begleitung Ausflüge zu machen. Muskeln, die nicht trainiert werden bauen ab. Gleiches gilt für Sinnesreize, die nicht ausreichend stimuliert werden.
Es gibt keinen speziellen Platz im Gehirn, in dem Sinnesinformationen verarbeitet werden. Stattdessen zerlegt das Gehirn die eingehenden Signale, um sie in unterschiedlichen Arealen weiterzuverarbeiten. Nehmen wir an, ein roter Ball rollt auf uns zu: Dann werden die Informationen rot, rund und Rollen von unterschiedlichen Teilen des Gehirns verarbeitet. Vor allem beim Sehen ist das auch nicht weiter erstaunlich. Wir verwenden unser Sehvermögen, um uns zu orientieren, Fußball zu spielen oder zu lesen. Diese zahlreichen Aufgaben können nur bewältigt werden, wenn unterschiedliche Teile des Gehirns ins Spiel kommen. Deshalb ist es auch nicht weiter erstaunlich, dass das Gehirn Blinder nicht wesentlich anders funktioniert als das Sehender. Unterschiede gibt es natürlich: Der Schwerpunkt Sehender liegt eben auf der Verarbeitung visueller Informationen, während Blinde diese Ressourcen zur Verarbeitung der Informationen anderer Sinne verwenden, vor allem Haptik und Akustik.
Anscheinend wird das visuelle Zentrum nicht nur genutzt, um Sehreize zu verarbeiten. Es kommt auch bei der Erzeugung visueller Vorstellungen und in Träumen zum Einsatz, also in Fällen, in denen man eigentlich nichts aktiv sieht. Dieser Gedanke liegt zumindest nahe, wenn man sich die verschiedenen Erfahrungen Blinder anschaut. John Hull berichtet, dass er einige Zeit nach seiner Erblindung alle visuellen Vorstellungen einbüßte. Er vergaß sogar, dass Gegenstände so etwas wie eine visuelle Erscheinungsform haben mussten. Andere berichten hingegen von gutem Vorstellungsvermögen. Der blinde Psychologe Zoltán Törey konnte vor seinem inneren Auge eine visuelle Repräsentation erzeugen, die es ihm zum Beispiel ermöglichte, sein Dach neu zu decken. Viele blinde Frauen haben eine sehr genaue Vorstellung davon, welche Frisur, welche Kleidung oder welches Make-up ihnen steht. Liegt es daran, dass sie gut beraten werden oder gibt es da doch doch mehr?
Eine weitere spannende Frage ist, ob Blinde sich den Aufbau komplexer Objekte ähnlich gut einprägen können wie Sehende. Wir wissen, dass Sehende ein hervorragendes Gedächtnis für Gesichter haben. Das geht so weit, dass man Menschen wieder erkennt, die man nur kurz gesehen hat und die man vielleicht nach Jahren wieder trifft, wobei sich Statur, Frisur oder Kleidung geändert haben können.
Blinde dürften eine Art taktiles Gedächtnis haben, dass es ihnen erlaubt, sich komplexe Formen besser zu merken als Sehende. So konnte der blinde Biologe Geerat Vermeij neue Molluskenarten anhand winziger Abweichungen identifizieren. Blinde setzen stark auf taktile Orientierungspunkte, um sich besser zurechtzufinden. Dazu gehören auch geringe Unterschiede im Asphalt, Veränderungen der Bodenbeschaffenheit oder Kanten mit unterschiedlichen Höhen. Blinde können sich auch ausgezeichnet die Position von Gegenständen zum Beispiel auf dem Frühstückstisch merken. So können sie zielsicher nach der Kaffeetasse greifen oder sie auf die Untertasse zurückstellen.
Das erscheint zunächst nicht besonders bemerkenswert, allerdings werden viele dieser Unterschiede nur indirekt wahrgenommen, zum Beispiel durch die Schuhe oder über den Blindenstock.
Eine weniger erfreuliche Erkenntnis der Neuro-Psychologen ist, dass die multisensorische Wahrnehmung besser funktioniert als die Wahrnehmung über einen einzelnen Sinn. Das heißt zum Beispiel, dass wir einen Menschen besser verstehen, wenn wir seine Worte hören und seine Lippenbewegungen sehen. Tatsächlich können geübte Lippenleser bis zu 30 Prozent von den Lippen ablesen. Bei Sehenden ohne diese Fähigkeit ist es natürlich deutlich weniger, dennoch trägt das Lippenlesen passiv zum Verstehen bei. Die Bemerkung «Sprich bitte lauter, es ist dunkel» ist also gar nicht so abstrus. Das Lippenlesen trägt dazu bei, dass man Menschen auch in lauten Umgebungen wie in Diskotheken verstehen kann. Abgesehen davon, dass man an solchen Orten wohl keine tiefschürfenden Diskussionen führen wird.
Es zeigt aber auch, wie komplex die Verarbeitung von Sinnesinformationen ist. Das Gehirn führt nicht nur die Sinnesreize zusammen, sondern reichert sie mit Erinnerungen und Emotionen an. Das Spannende an diesen Erkenntnissen ist, dass das Gehirn eben nicht wie ein Computer funktioniert. Wir können uns das Gehirn als ein Netzwerk verschiedener Einheiten vorstellen. Einheiten, die häufiger verwendet werden verbinden sich stärker, während wenig genutzte Verbindungen schwächer werden.
Allen Spät-Erblindeten fällt es mehr oder weniger schwer, sich an die neue Situation anzupassen. Die Botschaft für sie – und alle anderen, die vor ähnlichen Problemen stehen – Üben, Üben, Üben. Das Schlimmste, was sie tun können ist, zu versuchen, der Herausforderung aus dem Weg zu gehen.

Geburts- und Spät-Erblindete

Auch der Unterschied zwischen Geburts- und Spät-Erblindeten beschäftigt die Forschung. Die meisten Forscher suchen gezielt nach Geburts-Blinden, weil bei ihnen die Unterschiede zu Sehenden am stärksten hervortreten bzw. am einfachsten festzustellen sind. Das Gehirn Geburts-Blinder hat nie gelernt, visuelle Reize zu verarbeiten. Das macht es mithilfe bildgebender Verfahren einfacher, zu untersuchen, welche Teile des Gehirns für das Sehen tatsächlich wichtig sind. Man sollte eigentlich annehmen, dass es sagen wir nach ein paar Jahren, gar keinen Unterschied bei der kognitiven Informationsverarbeitung zwischen Geburts- und Spät-Erblindeten mehr gibt. Das ist aber nicht der Fall.
Viele Fragen sind noch nicht eindeutig geklärt. Wie gut ist das Gehirn Spät-Erblindeter zum Beispiel in der Lage, den visuellen Cortex für andere Aufgaben zu verwenden? Können Spät-Erblindete ähnlich gute räumliche Vorstellungen entwickeln wie Geburts-Blinde? Wenn wir bedenken, dass Erblindungen vor allem im reifen Alter auftreten, werden solche Fragen immer wichtiger.
Das Gehirn Geburts-Blinder verarbeitet taktile Informationen anders als das Spät-Erblindeter. Geburts-Blinde können den visuellen Cortex, der die Seh-Informationen verarbeitet für die taktile Wahrnehmung nutzen. Bei Spät-Erblindeten wird zwar der Bereich vergrößert, der für die Verarbeitung taktiler Reize zuständig ist, allerdings verarbeiten sie diese Reize anders als Geburts-Blinde. Wissenschaftler können heute die Sehrinde teilweise abschalten. Bei einem solchen Versuch waren Geburts-Blinde nicht mehr in der Lage, Braille zu lesen, während Spät-Erblindete weniger Probleme hatten.
Die spannende Frage ist, ob Spät-Erblindete bei genügend Übung ebenso fit beim Orientieren oder Braille-Lesen werden können wie Geburts-Blinde. Die nächste Frage wäre, welche Faktoren dafür entscheidend sind, dass Spät-Erblindete solche Leistungen erreichen: Hängt es nur von Training und Erfahrung ab oder gibt es weitere Faktoren, die bei der Erlangung und Verbesserung dieser Fähigkeiten hilfreich sein können?

Mit den Ohren Sehen

Es gibt Menschen, die Gerüche oder Musik als Farben erleben oder umgekehrt. Diese Wahrnehmung nennt man Synästhesie. Auch Blinde Menschen können Synästhetiker sein. Forscher überlegen seit längerem, wie sinnliche Erfahrungen durch einen anderen Sinn ersetzt werden können, man nennt das Sinnes-Substitution.
Die Hebrew University of Jerusalem erforscht zum Beispiel, wie sich visuelle Eindrücke in Töne übersetzen lassen. Das Ziel ist es, über verschiedene Klänge und Klangkonstellationen quasi visuelle Eindrücke zu vermitteln.
Ein Beispiel: Blinde nehmen nur den Teil des Raumes wahr, den sie mit ihrem Körper oder dem Blindenstock erreichen können. Über Geräusche, Luftzug oder Echo können sie vielleicht noch sagen, wie groß ein Raum ist oder wo das nächste Hindernis ist. Aber sie haben kein dreidimensionales Abbild der Umgebung, wie es ein Sehender problemlos erzeugen kann. Das soll sich mit Sinnesersatzgeräten ändern. Da sie einen Sinn, in diesem Fall das Hören verwenden, um einen anderen Sinn – das Sehen – zu ersetzen, nennt man solche Geräte Sinnes-Ersatz-Geräte, Englisch Sensual substitute Device. Statt einem Blinden zu erklären, wie eine Landschaft aussieht oder was Farben sind werden ihm akustische Analogien in Form von Klängen oder Klanglandschaften offeriert.
Untersuchungen der Hebbrew University zeigen, dass Blinde mit ein wenig Training schnell lernen, ein mentales Abbild der Umgebung oder von Objekten zu entwickeln. Die Forscher haben zum Beispiel eine Klangfolge generiert, die die blinde Versuchsperson als Gesicht identifizieren konnte. Es scheint tatsächlich so zu sein, dass der Teil des Gehirns für diese Aufgabe eingesetzt wird, der eigentlich für die Verarbeitung visueller Eindrücke zuständig ist.
Man mag fragen, ob eine verbale Beschreibung in diesem Fall nicht sinnvoller wäre. Das ist sie nicht. Stell dir vor, du würdest einen Film mit einer Audiobeschreibung für Blinde schauen. Schalte das Bild weg und höre dir nur die Audiodeskription an. Du wirst schnell feststellen, dass zwar wesentliche Aspekte des Films beschrieben werden, die Audiodeskription aber viele visuelle Eindrücke gar nicht vermittelt. Auch wenn die Audiodeskription zeitlich beliebig ausbaubar wäre, könnte sie dennoch keinen adäquaten Ersatz für die visuelle Darstellung bieten. Ebenso wäre es bei textlichen Beschreibungen. Dies liegt einfach daran, dass eine sinnliche Erfahrung am besten durch eine andere sinnliche Erfahrung ersetzt werden kann.