Was lernen wir aus der Inklusion Behinderter

Anlässlich der Blogparade zum Wissenstransfer in der Zivilgesellschaft steuere ich einen Beitrag dazu bei, was soziale Projekte aus dem Inklusionsprozess lernen können.
Wenn man etwas aus der Inklusion lernen kann, dann dass ein Projekt nicht ohne die Menschen gestaltet werden sollte, denen es zugute kommen soll.

Die Bundesregierungen zum Beispiel versäumen es regelmäßig, Menschen mit Behinderung ausreichend zu beteiligen. Die Übersetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung war fehlerhaft, Inclusion wurde mit Integration übersetzt, ob Fehler oder Absicht lasse ich mal dahin gestellt sein. Das Motto für die Inklusion wurde ohne großartige Beteiligung von Behinderten entwickelt – die Regierung scheint das mit der Inklusion nicht so richtig verstanden zu haben.

Lessons learned

Es gibt mindestens zwei Lektionen, die man aus dem Inklusionsprozess lernen kann. Das eine ist, dass schon die Anwesenheit von Behinderten das Verhalten verändert. Man kann viel über Sehbehinderung reden, ohne die praktischen Auswirkungen zu verstehen, bis man einem Sehbehinderten gegenüber sitzt. Man hört einiges an Mythen oder Unsinn, der nicht so verbreitet wäre, wenn der Kontakt zwischen Behinderten und Nicht-Behinderten selbstverständlich wäre.

Die zweite Lektion ist, dass die Teilnahme von Behinderten erforderlich ist, um die Projektqualität zu verbessern. Seien wir mal realistisch, wenn lauter nicht-behinderte Abteilungsleiter und Techniker sich darüber austauschen, wie sie etwas barrierefrei machen können kommt im besten Falle eine dieser 70er Jahre Bauten heraus. Klar, es gibt hinter dem Gebäude einen rollstuhlgerechten Zugang mit elektrischer Tür, aber die Knöpfe für die Aufzüge sind so hoch, dass sie von Rollstuhlnutzern nicht erreicht werden können. Das war selbst in den 70ern nicht barrierefrei und ist es heute noch weniger. Aber das ist etwas, was sich Leute ausdenken, die keinen Rollstuhl nutzen.

Warum also?

Es geht nicht darum, Behinderte aus Mitleid oder Pro Forma an einem Prozess zu beteiligen. Dafür ist die Zeit zu schade und dafür wird sich auch kaum jemand hergeben. Es geht darum, ein praktikables Projekt auf die Beine zu stellen, und das geht nicht ohne die Beteiligung der Zielgruppe.

Es gab und gibt zahlreiche Projekte, bei denen diejenigen, die davon profitieren sollen an der Projektentwicklung nicht beteiligt waren. Die Entwicklungshilfe basierte in weiten Teilen darauf. Es war früher ein aktiv gelebter Paternalismus, der teilweise bis heute überlebt hat. Es gibt da einige abenteuerliche Beispiele aus jüngster Zeit.

Das heißt natürlich auch, dass man nicht irgendwen von der Straße holen sollte. Ich darf ketzerisch behaupten, nur weil man behindert ist versteht man nicht unbedingt etwas von Barrierefreiheit. Man kann die eigenen Probleme bei dieser oder jener Aufgabe beschreiben, aber es gehört natürlich mehr dazu. Man muss die Probleme der gesamten Peer Group oder besser noch darüber hinaus im jeweiligen Thema antizipieren können und das können die meisten nicht. Müssen sie auch nicht. Das heißt aber auch, dass man sich entsprechende Experten suchen muss. Das ist nicht immer ganz einfach, sollte aber machbar sein.

Und hat man diese Experten gefunden und eingebunden kann man sich sehr sicher sein, hinterher ein besseres und brauchbares Projekt auf die Beine gestellt zu haben.
Halten wir also fest: Statt über „sie“ zu reden holen wir sie möglichst früh in unser Projekt hinein, lassen sie ihre Meinung sagen und setzen ihre Ideen auch um. Mir scheint, egal um welche Projektform oder Zielgruppe es sich handelt: Behinderte, Migranten, Analphabeten, „Bildungsferne“, alle Beteiligten scheinen jedes Mal aufs Neue lernen zu müssen, dass es ohne diejenigen, denen es zugute kommen soll nicht geht. Versteht mich nicht falsch: die Beteiligung dieser Menschen ist kein Erfolgsgarant, aber ihre Nichtbeteiligung erhöht die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns drastisch.

Die typischen Gegenargumente sind, dass das zu mühsam ist, man muss etwa einen Gebärdendometscher organisieren, eine barrierefreie Location finden oder Unterlagen in Braille übersetzen. Nun, wenn euch das zu mühsam ist solltet ihr vielleicht kein Projekt für Gehörlose, Rollstuhlfahrer oder Blinde machen.

Das zweite Gegenargument ist, dass man keine passenden Gesprächspartner findet. Das mag sogar sein, anders als viele glauben mögen hängen Behinderte nicht den ganzen Tag herum, bis es die Gelegenheit gibt über Behinderung zu sprechen. Meiner Erfahrung nach sind die Projektbetreiber aber auch phantasielos, wenn es um das Suchen geht. Ich habe allzuoft erlebt, dass Leute mit ihren nur halb angedachten Ideen um die Ecke kommen. Erfahrungsgemäß landen 99,99 Prozent dieser Ideen im kognitiven Papierkorb, wo sie oft auch gut aufgehoben sind. Aber auch wir haben keine Lust, unsere Energien auf unausgegorene Ideen zu verschwenden.

Auf die Stärken achten

Ein fester Grundatz schon seit der Aufklärung ist, dass man auf die Fähigkeiten des Menschen achten sollte, nicht auf seine Defizite. Wenn ein Blinder sich um einen Job bewirbt fällt den Personalern erst einmal alles auf, was er nicht kann – wobei sie von den Fähigkeiten und Möglichkeiten Blinder nur beschränkte Kenntnisse haben. Dann stellt sich aber die Frage gar nicht mehr, mit welcher seiner Fähigkeiten er die Firma bereichern könnte. „Er kann ja nicht mal alleine aufs Klo gehen, den brauchen wir nicht.“

Das ist zugleich die Schwachstelle vieler Beschreibungen von Personengruppen, in der Regel deuten sie auf etwas, was als Defizit wahrgenommen wird. Der Analphabet kann nicht richtig lesen, der Migrant spricht nicht richtig Deutsch, der Behinderte ist eben behindert. Was sie können scheint dann keine Rolle mehr zu spielen. Ein Grundsatz der Inklusion ist aber, dass wir uns angucken, was jemand kann und wie das zur Bereicherung der Gesellschaft beitragen kann. So manche Personalmanager wären gut beraten, diesen Grundsatz allgemein anzuwenden. Selbst bei vielen Behinderten dominiert noch der Defizitansatz. Und das ist leider auch im Denken vieler sozial Verantwortlicher fest verankert.

Auch die Behinderten müssen dazu lernen

Leider wird Inklusion auch von Behinderten oft falsch verstanden. Demnach heißt Inklusion, dass die Gesellschaft so umgestaltet wird, dass sie den Behinderten in den Kram passt. Das wird zum einen nie passieren und wäre zum anderen nicht wünschenswert. Inklusion bedeutet einen beiderseitigen Prozess, wobbei wir aktuell noch das (Un)-Glück haben, dass die Voraussetzungen für uns zur Teilhabe noch nicht optimal sind. Aber ohne das Engagement von Behinderten und ihren Organisationen im kleinen wie im Großen werden ebenso unbrauchbare Lösungen wie in der Prä-Inklusionszeit herauskommen. Wenn wir allerdings die Einladung zur konstruktiven Unterstützung dieser Projekte ausschlagen, müssen wir auch unseren Teil der Verantwortung dafür tragen.

Leider scheint es aktuell recht schwierig zu sein, Projektträger und Projektinteressierte zusammen zu bringen. Bei vielen Themen ist Expertise rar gesät, so dass man mit lokalen Ansprechpartnern oder dem Gießkannenprinzip nicht weit kommt. Rein technisch ist so eine Plattform keine große Herausforderung, allerdings müsste sie erst einmal unter den passenden Leuten bekannt gemacht werden und das dürfte wirklich schwierig sein. Aber irgendwer sollte damit anfangen.