Android für Blinde


Android kann eine Alternative zu iOS sein. In diesem Beitrag möchte ich wechselwilligen Blinden eine kleine Hilfe geben. Welche Screenreader Blinde nutzen. Möchten Sie TalkBack als Sehender nutzen?.
Update: Meine Einschätzung zu Android hat sich bis Herbst 2022 nicht geändert. Es ist weniger das große Ganze als die vielen Kleinigkeiten, die Talkback zu einem schlechten Screenreader machen: Große Latenzen in der Sprachausgabe und zu lange Sprechpausen, geringe Anpassbarkeit und schlechte Standardstimmen auf Deutsch.

Mangelnde Barrierefreiheit bei Android

Ich bin ehrlich gesagt schockiert über die schlechte Barrierefreiheit von Android für Blinde. Läuft die assistive Technologie einmal, ist es ganz okay. Aber man ist wirklich dermaßen meilenweit von Apple und sogar Windows entfernt, dass Google sich getrost als Barrieremacher des Jahrzehnts bezeichnen kann. Neulich hatte ich ein Android-9-Tablet auf dem Tisch: Ich habe zwei Finger auf das Display gelegt, Talkback ist gestartet und hat sich nach zwei Sekunden wieder verabschiedet. Nach einem Blick in die Eingabehilfen des Betriebssystems muss ich feststellen, dass anscheinend die Accessibility Suite anders als versprochen gar nicht vorinstalliert ist, Talkback also gar nicht installiert ist. Von einer selbständigen Einrichtung eines Gerätes kann also keine Rede sein. Langsam glaube ich, dass Google uns eine Runde verarschen möchte.
Das Problem bei Android-Geräten ist generell, dass man im Grunde nie sagen kann, ob ein Problem an Android, an Talkback, an der angepassten Oberfläche eines Anbieters oder am Gerät liegt. So fällt bei meinem Nokia 7+ Talkback regelmäßig aus, man muss das Gerät einmal ausschalten und wieder einschalten, damit es wieder reagiert. Das Problem habe ich bei vier verschiedenen, sehr betagten Apple-Geräten nie gehabt mit Ausnahme eines iPads der ersten Generation.
Im Großen und Ganzen wirkt TalkBack eher wie ein externer Screenreader, zusammengefrickelt und nicht vollständig ins Betriebssystem integriert. Es schleichen sich immer wieder schwerwiegende Fehler ein, die Teile des Smartphones fast unbenutzbar machen. Beispielsweise gibt es seit langer Zeit eine mehrsekündige Talkback-Pause, wenn man im integrierten Chrome-Browser herunterscrollt. Das passiert auch in Apps, die Komponenten des Chrome-Browsers verwenden. In alternativen Browsern wie im Firefox funktioniert die Funktion „Vom nächsten Element an lesen“ nicht, sondern es wird von oben an gelesen. Ein weiterer Nachteil ist, dass die Farbumkehr des Bildschirms im Stromspar-Modus abgeschaltet ist, eine sinnfreie Funktion, da ein Bildschirm umso weniger Energie verbraucht, je dunkler er eingestellt ist. Weiterhin ärgert mich, dass verlinkte Überschriften wie etwa in der Google-Suche nicht angesagt und navigiert werden können. Was sich Google dabei gedacht hat, bleibt deren Geheimnis. Die Google TTS kann Standard-Informationen wie Punkte in Abkürzungen oder Datums-Angaben nicht korrekt verarbeiten: Oft dauert eine Pause nach einem Punkt wie bei einer Abkürzung so lange, dass man denkt, die Sprachausgabe sei Zu Ende. Last not least gibt es bei Android auch mit der Version 10 keine intelligente Farbumkehr: Es werden sowohl Farben als auch Bilder umgekehrt, so dass Bild-Inhalte nicht mehr erkennbar sind. Die intelligente Farbumkehr gibt es bei iOS schon lange.
Ich muss leider sagen, dass es Google nicht gelungen ist, TalkBack systematisch weiterzuentwickeln. Google scheint sich im Grunde nicht für Barrierefreiheit zu interessieren. Ich kann keinem blinden Smartphone-Einsteiger guten Gewissens ein Android-Gerät empfehlen. Die Vorteile eines offenen Systems wie etwa die Erweiterbarkeit von Talkback durch Erweiterunge werden nicht genutzt. Man muss zu dem Schluss kommen, dass Google sich für Talkback überhaupt nicht interessiert.
VoiceOver ist sauberer implementiert und es gibt mehr barrierefreie Apps für Blinde im Apple-Universum. Doch es bleibt der hohe Anschaffungspreis, die Probleme eines geschlossenen Systems und die ziemlich unverschämten Preise für simpelstes Zubehör. Auch hat VoiceOver seit einigen Jahren sowohl unter iOS als auch unterm Mac mit großen Bugs zu kämpfen.
Nebenbei bemerkt hat VoiceOver auch seine Macken, die es seit Jahren mitschleppt. Dazu gehört, dass der Cursor häufig auf das erste Element zurückspringt, obwohl man bereits ein anderes Element fokussiert hat.

Empfehlenswerte Geräte

Wer mit einem Android-Gerät liebäugelt, sollte nicht das billigste nehmen. Die Performance des Geräts sowie die Qualität des Touchscreens – sprich die Berührungsempfindlichkeit – macht relativ viel aus, für Blinde sowieso. Es macht keinen Sinn, ein 100-Euro-Android mit einem 600-Euro-Iphone zu vergleichen. Ein Mittelklasse-Smartphone sollte es auf jeden Fall sein. Leider können wegen der Update- und App-Politik der Hersteller heute ausschließlich die von Google selbst produzierten Smartphones weiterempfohlen werden Android One hat seine Versprechen nicht erfüllt.
Ein Vorteil von Android ist, dass der Screenreader Talkback unabhängig vom Betriebssystem aktualisiert werden kann. Das heißt, selbst bei einem veralteten Android kann Talkback noch eine Zeitlang upgedatet werden. Bei iOS sind VoiceOver-Updates an das Betriebssystem gebunden. Mein iPhone 6 erhält keine Updates für iOS mehr, ebenso ergeht es VoiceOver.
Dennoch empfehle ich dringend ein Gerät, welches zum Zeitpunkt des Kaufes mindestens noch zwei Jahre Updates erhält. Derzeit versprechen das vor allem die Geräte, die von Google selbst angeboten werden. Daneben verspricht Motorola für die Moto-Reihe Updates. HDM hat die Markenrechte an Nokias Smartphone-Sparte und bietet mit den Geräten Nokia 3, 5, 6 7 und 8 teils sehr preiswerte Geräte und verspricht zeitnahe Updates. Auch Samsung hat seine Update-Politik verbessert. Wie gesagt sind hier die teureren Geräte mit besseren Displays zu empfehlen. Alternativ könnt ihr nach Geräten mit Android One Ausschau halten. Es handelt sich dabei um Android-Versionen mit relativ geringen Anpassungen. Zudem verspricht Android One schnelle Updates für zwei Jahre sowie Sicherheits-Updates für drei Jahre.
Bezüglich der Samsung-Geräte wird unterschiedliches berichtet. Samsungs eigener Screenreader scheint einige Vorzüge zu haben, wird aber alles in allem nicht so dynamisch weiterentwickelt wie TalkBack. Samsung erlaubt aber die parallele Installation von Talkback, so dass beide Screenreader unabhängig voneinander auf einem Gerät verwendet werden können. Zwischenzeitlich wird der Samsung-Screenreader nicht mehr weiterentwickelt.
Abraten möchte ich vom Amazon Fire-Tablet. Ich hatte hier den 7-Zöller aus 2016 in Gebrauch mit einem veralteten Android 5.1.1, einem miserablen Screenreader und einer schlechten Performanz. Das Gerät taugt bestenfalls dazu, die Amazon-Dienste zu nutzen. das geht aber auch mit jedem anderen Tablet.

Talkback Einschalten

Leider gibt es bei Android keine einheitliche Möglichkeit, um Talkback beim ersten Gerätestart zu aktivieren. Am häufigsten ist, zwei Finger auf den Screen zu legen und zu warten, bis Talkback gestartet ist.
Es kann passieren, dass Talkback auf Englisch redet, aber die Oberfläche Deutsch ist. Das war bei meinem Motorola G2 der Fall. Wegen solcher Probleme empfehle ich, Talkback mithilfe eines sehenden einzurichten, bis alles eingerichtet ist und das Gerät auf Deutsch quatscht. Ist das Gerät einmal eingerichtet, sollte TalkBack automatisch Deutsch sprechen, ansonsten geht einmal in die Stimm-Einstellungen.
Bei TalkBack gibt es ein Lernprogramm für die Gesten. Dies kann man am Anfang durchlaufen, kann es aber auch später durchführen.
Die Erkundung des Bildschirms erfolgt ebenso wie beim iPhone durch einfaches Streichen über den Bildschirm. Der Aufbau entspricht dem iPhone: Oben die Statuszeile, darunter die Apps, unten das Dock mit den Apps, die auf jeder Site angezeigt werden, darunter die Schaltflächen für zurück, Startseite und der App-Switcher.
Mit einem Wisch von links nach rechts wechselt ihr zwischen einzelnen Apps, Buttons und anderen Elementen.
Mit einem Wisch von oben nach unten oder von unten nach oben wechselt man die Lese-Einheit, ähnlich wie beim iPhone der Rotor.
Die Talkback-Einstellungen erreicht man am schnellsten über das globale Kontextmenü mit der L-Geste, den Finger von oben nach unten und nach rechts ziehen. Dort findet man auch wichtige Befehle wie von oben an lesen oder vom nächsten Element an lesen. Nebenbei gesagt finde ich das einsteigerfreundlicher als bei iOS, wo es solche visuellen Menüs kaum gibt. Geübte Nutzer werden aber eine Geste für solche häufig gebrauchten Aktionen vorziehen. Das lässt sich in TalkBack in den Einstellungen selbst konfigurieren.
Die Mainstream-Apps wie Google Maps, WhatsApp und Facebook sind ähnlich nutzbar wie bei iOS. Es gibt immer kleinere Probleme: Z.B. wird bei WhatsApp in Gruppen-Chats nicht angesagt, von wem eine bestimmte Nachricht kommt. Bei längeren Chats kommt man da schnell durcheinander.
Generell findet man auch bei Apps, die eigentlich barrierefrei sein sollten bei Android häufiger unbenannte Elemente. Ob das an Android oder an der Unachtsamkeit der Entwickler liegt, kann ich nicht sagen. Auch blindenspezifische Apps wie Blindsquare oder SeeingAI sind eher bei iOS zu finden. Dennoch ist die Auswahl an Hilfs-Apps auch bei Android nicht schlecht: Es gibt Via opta NAV, Farberkennungs-Apps oder die DZB-App der Hörbücherei zur Ausleihe von Hörbüchern. Eine Alternative zu Microsofts App SeeingAI ist Envision AI. Wer auf spezielle Apps angewiesen ist, sollte prüfen, ob es bei Android brauchbare mit Talkback nutzbare Alternativen gibt. Oder beide Systeme parallel benutzen.
Mit der kostenlosen App Audex lassen sich Buttons beschriften. Diese Beschriftungen können online zur Verfügung gestellt werden, so dass sie auch anderen blinden Android-Nutzern zur Verfügung stehen. Vielleicht ist das auch eine schnelle Möglichkeit für Entwickler, ihre App kurzfristig barrierefrei zu machen. TalkBack selbst bietet über das lokale Kontext-Menü die Möglichkeit, unbeschriftetete Elemente zu beschriften.
Mit der App BrailleBack kann eine Bluetooth-Braillezeile gekoppelt werden. Meine Braillezeile wurde auf Anhieb erkannt.
Ein Vorteil von Android ist, dass problemlos externe Geräte wie normale Tastaturen angeschlossen werden können. Sie können also mit einem passenden Adapter eine normale USB-Tastatur oder ein USB-Headset anschließen.

Vorteile von Talkback gegenüber Voiceover

Grob geschätzt ist VoiceOver Talkback um mindestens vier Jahre voraus, wobei Google kein erkennbares Interesse daran hat, diesen Rückstand aufzuholen. Um das festzustellen, braucht man sich nur die Einstell-Möglichkeiten der beiden Screenreader anzuschauen. Ich habe etwa im letzten Jahr kein großartig neues Feature bei Talkback sehen können. In der Zeit hat VoiceOver zum Beispiel eine Funktion zur Auslese von Text aus Bildern bekommen.
Doch hat Talkback einige interessante Features: Dazu gehört die Vibrationsfunktion, die etwa bei der Eingabe von Zeichen parallel oder unabhängig von der Ausgabe von Sound-Feedback verwendet werden kann. Das ist ein Vorteil für Schwerhörige oder in lauten Umgebungen, wo man das Sound-Feedback nicht eindeutig wahrnimmt. Bei Android lässt sich einstellen, dass der Status eines Elements vor dessen Namen ausgegeben wird, ein Vorteil für Leute, die häufiger Formulare ausfüllen müssen.

Texteingabe

Das größte Manko bei Android für Blinde ist die Text-Bearbeitung. Hier bin ich absolut unzufrieden. Bei der Standard-Tastatur GBoard wird ein Buchstabe berührt und losgelassen, um ihn zu schreiben. Das ist extrem fehleranfällig, häufig wird ein Nachbar-Buchstabe statt dem gewählten geschrieben. Bei vielen Text-Eingabefeldern wird nicht angesagt, an welcher Stelle sich der Cursor befindet und wie man ihn bewegen kann.
Ein Vorteil ist, dass auch die Zahlenreihe standardmäßig angezeigt wird. Man muss also etwa bei der Eingabe von Passwörtern seltener zwischen den Tastaturen wechseln als bei iOS.
Viel gelobt wird die Diktier-Funktion von Google, die ebenfalls in der Tastatur integriert ist. Doch auch hier konnte ich keine Vorteile gegenüber iOS feststellen.

Vorteile von Android – Update vom 1011.2022

Ein kleines Update sei erlaubt, da Android tatsächlich einige Vorteile für Blinde haben kann, die ich in meiner west-zentrierten Wahrnehmung nicht ganz erfasst habe. Zunächst sei der Preis genannt: Ein Großteil der behinderten Menschen lebt in einer Situation, in der sie sich Apple-Gerät nicht mal gebraucht und in veralteten Version leisten könnten. Auch Android-Geräte sind nicht unbedingt billig, aber doch eher leistbar. Analoges gilt für das Zubehör. Ein Android lässt sich eher als Computer-Ersatz benutzen, weil man Maus, Tastatur oder sogar einen Bildschirm anschließen kann.
Ein weiterer Vorteil von Android besteht in der Open-Source-Struktur. Das erlaubt es auch, exotischere Text-to-Speech-Engines zu verwenden. Die großen Anbieter von Sprachausgaben unterstützen keine Sprachen mit wenigen Sprechenden oder ohne großes Einkommen. In Indien etwa gibt es Sprachen bzw. Dialekte, die von Dutzenden Millionen Menschen gesprochen werden. Anbieter wie Nuance oder Vocalizer ist das vollkommen egal. eSpeak hingegen unterstützt einige dieser Sprachen.

Informationsquellen zu Android für Blinde

Google stellt mittlerweile ausführliche Informationen zu TalkBack auf Deutsch bereit.
Es gibt eine deutschsprachige Android-Mailingliste sowie diverse WhatsApp-Gruppen. Wer Englisch kann, sollte sich die Mailingliste „EyesFree“ anschauen, sie dreht sich um TalkBack. Zu beachten ist allerdings, dass diese Mailingliste sehr aktiv ist, manche mögen das ja nicht.
Das BFW Würzburg bietet eine Liste von Apps für Blinde als PDF.
Barrierefreiheit bei Google.
Android Talkback – An Alternative to VoiceOver for the Blind?