Was sehen Blinde eigentlich?

Nichts, wird die volksmündliche Antwort lauten. Leider ist die Situation aber ein wenig komplizierter. In diesem Beitrag werden wir uns anschauen, was Blinde visuell wahrnehmen können.

Eine kleine Begriffskunde

Wie immer ist es sinnvoll, die Begriffe zu kennen:

  • Wir sprechen von vollblind, wenn jemand nichts oder so gut wie nichts sehen kann.
  • Gesetzlich blind sind Menschen, die einen bestimmten Sehrest unterschreiten. Das betrifft entweder die Sehschärfe, die im Visus angegeben wird. Oder die Größe des Gesichtsfeldes. Diese Gruppe wird als Sehrestler bezeichnet.

Beide genannten Gruppen sind im gesetzlichen Sinne blind. Davon abgrenzen können wir die hochgradig Sehbehinderten, die Sehbehinderten und natürlich die Sehenden. Letztere haben entweder keine oder zumindest nicht solche Sehprobleme, die sich nicht mit Brillen oder Kontaktlinsen ausgleichen lassen. Die Grenzen zwischen hochgradig sehbehindert und Sehrest-Blinden ist fließend. In der Regel arbeiten
hochgradig Sehbehinderte noch visuell am Computer und benutzen keinen Blindenstock. Die Sehrestler arbeiten in der Regel mit Screenreader und Braille und verwenden einen Blindenstock im Alltag. Doch gibt es hier keine absolute Regel.

Ich sehe was, was Du nicht siehst

Sehen ist die Verarbeitung von Licht. Entweder wird Licht ausgestrahlt, zum Beispiel von einem Bildschirm oder es wird reflektiert. Das war es schon, alles, was wir sehen, ist die Reflektion von Licht. Manchmal lohnt es sich, sich an diese einfache Tatsache zu erinnern.
Das Spektrum des Sehens unter Sehrestlern ist relativ groß. Was der Eine sieht, sieht der Andere nicht und umgekehrt. Wenn ein Sehender einem anderen Sehenden etwas zeigt, z.B. auf der Straße, kann er ziemlich sicher sein, dass der Andere es auch sehen wird. Unter Sehrestlern ist die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Personen das Gleiche erkenne, relativ gering. In meiner Schulzeit konnte einer meiner Freunde Personen am Gesicht erkennen, aber keine Schwarzschrift lesen. Schwarzschrift nennen wir Blindgänger die gedruckte Schrift. Ich kann bis heute ein wenig Schwarzschrift lesen, wenn sie so groß wie eine Zeitungsüberschrift ist. Aber ich konnte in meinem ganzen Leben niemanden am Gesicht, der Kleidung oder am Gang erkennen.
Die Mess-Instrumente, die Augenärzte verwenden sind natürlich nicht auf Unsereins ausgelegt, sondern auf Normal-Sichtige. Ich weiß leider nicht, ob es spezielle Messmethoden für sehschwache Personen gibt oder ob solche Mess-Instrumente überhaupt sinnvoll wären.

Sehen mit dem ganzen Körper

Wer lediglich auf das Sehen achtet, verkennt viele andere Faktoren. Im Computerbereich würde man das integrierte Informationsverarbeitung nennen. Da ist natürlich das Gehör. Aber auch der haptische Kontakt zum Boden, der Geruchsinn. Der Geschmacksinn als fünfter Sinn ist an der Stelle nicht so wichtig. Sehende benutzen solche Faktoren oft unbewusst. Der Geruchssinn zum Beispiel funktioniert sehr stark intuitiv. Aber auch das Gehör spielt eine Rolle: Wem ist es noch nicht passiert, dass er das Auto hinter sich zuerst gehört hat und dann zur Seite sprang, ohne sich umzudrehen und zu gucken, ob es einen tatsächlich gleich überfährt?
Als weiterer Faktor kommen Gedächtnis und Erfahrung hinzu. Als kleines Kind bereits mussten wir lernen, visuelle und auditive Reize zu unterscheiden. In unserem Gedächtnis gibt es tausende Geräusche. Jeder erkennt zum Beispiel das charakteristische Geräusch eines entriegelnden Kofferraums, eines bremsenden Fahrrads oder eines tappenden Hundes, auch wenn wir kein Auto, kein Fahrrad und keinen Hund haben.
Als weiteren Faktor haben wir die Situationsabhängigkeit: An einer Straße dürfen wir mit anderen Gegenständen rechnen als im Park oder im Wald.
Und das Gedächtnis verrät uns, dass das Gelbe da vorne, wo wir jeden Tag vorbei gehen ein Briefkasten und keine gelbe Tonne ist. Grob geschätzt nutzen wir 90 Prozent unseres Lebens immer die gleichen Wege. Wenn jemand in unsere Wohnung spazieren und unsere Bücher umstellen würde, würden wir das sofort merken. Und zwar nicht, weil wir ein so ausgefeiltes Ordnungssystem haben, sondern weil uns das Muster der Aufstellung vertraut ist. Wenn aber etwas jeden Tag anders ist, wie die Autos, die an der Straße parken, achten wir in der Regel nicht darauf. Wenn wir wissen, was etwas ist, reichen auch sehr unscharfe Seheindrücke, um es zu erkennen bzw. Veränderungen zu bemerken.

Im Gegensatz zum Menschen, wir schauen mal von der künstlichen Intelligenz und Fuzzy Logic ab, versteht ein Computer nur ja oder nein. Er wird sich zwangsläufig entscheiden, ist es ein Mensch oder ein Laternenpfahl? Ein Mensch hingegen könnte schlussfolgern, das Objekt könnte ein Mensch sein, aber Menschen stehen normalerweise nicht stocksteif in der Gegend rum. Es wird also doch ein Pfahl sein. Befindet es sich hingegen mitten auf einem Bürgersteig, wird es wohl eher ein Mensch sein.

Fazit

Es ist also schlicht gesagt unmöglich, einem anderen Menschen exakt zu beschreiben, was man als Sehrestler wahrnimmt. Wir behelfen uns immer an Beispielen, die aber oft unzureichend sind. Deswegen dürft ihr auf die Frage: „Was siehst du eigentlich?“ nie eine klare Antwort von uns erwarten.
Das scheint die Frage zu sein, die Sehende am meisten verwirrt, wenn sie mit Sehrestlern zu tun haben. Leider ist das eine Frage, auf die es keine eindeutige Antwort gibt oder jemals geben wird.