Drücke "Enter", um den Text zu überspringen.

Junk-Studien in der digitalen Barrierefreiheit


In den letzten Jahren hat die Zahl an Junk-Studien massiv zugenommen: Es handelt sich um pseudo- oder empirisch nicht haltbaren Untersuchungen, bei denen entsprechend nur Unsinn herauskommt. Das spielt auch in der digitalen Barrierefreiheit eine zunehmende Rolle.
Junk-Studien sind Untersuchungen verschiedener Formate, die eine bestimmte Aussage bestätigen oder widerlegen sollen. Die Anführungsstriche bei Studie muss man sich immer dazu denken, das Wort soll dem Ganzen einen objektiven Anstrich verleihen.
Bestimmte Merkmale sind diesen Studien gemein:

  • Die Aussage, die bestätigt oder widerlegt werden soll, steht bereits im Voraus fest. Wissenschaft ist generell offen, wenn nicht das gewünschte Ergebnis rauskommt, rechnet man nicht solange herum, bis es doch passt.
  • Das Studien-Design ist fehlerhaft. Befrage ich Webseiten-Betreibende, ob sie Barrierefreiheit beachten wird ein anderes Ergebnis herauskommen als wenn ich mir ihre Webseiten anschaue.
  • Die Methodik ist fehlerhaft: Ich arbeite mit nicht-repräsentativen Stichproben, selektiere die Befragten nach eigenen Kriterien, verwende Suggestiv-Fragen und so weiter.
  • Die Ergebnisse werden falsch oder verzerrend dargestellt.

Praktisch immer geht es bei solchen Studien um PR. Entweder möchte man einfach ein paar Schlagzeilen erzeugen oder ein Angebot verkaufen. Auf Portalen für Pressemitteilungen findet man fast stündlich solchen Junk.
Schauen wir uns ein paar Beispiele an. Jüngstes Beispiel ist die Firma Sapera Studios – nie gehört? Ich auch nicht. Irgendwie haben sie die größten Webshops untersucht und lauter Unsinn herausgefunden. Update: Die Studie scheint nicht mehr online zu finden zu sein. Die kommentierten Fehler, die in dem Text zu finden sind:

  • Schriftgrößen und Kontraste sind nicht über die Website, sondern durch den Nutzenden einzustellen.
  • Video-Inhalte sollen nicht automatisch abspielen, das stört die Sprachausgabe und triggert Personen mit Anfalls-Erkrankungen.
  • Verständliche Sprache ist in den Richtlinien bisher nicht geregelt. Ein Anbieter wie Conrad richtet sich ohnehin an ein Fach-Publikum.
  • Die Methodik der Analyse ist hier gar nicht vermerkt. Falls sie jemand findet, freue ich mich auf Hinweise.

Fazit: Niemand behauptet, Webshops wären annähernd barrierefrei. Die Sapera-Untersuchung hilft uns allerdings nicht weiter und wir dürfen hoffen, dass niemand den dortigen Empfehlungen folgt. Ich würde empfehlen, sich nicht von dieser Agentur beraten zu lassen.
Selbst Bundes-Einrichtungen sind vor solchem Unsinn nicht geschützt. Die Überwachungsstelle des Bundes veröffentlichte letztes Jahr eine Studie zu gendergerechter Sprache. Im Endeffekt hatte sich eine – meines Erachtens nicht besonders erfahrene – Person mit Screenreadern verschiedene Kombinationen von Zeichen angeschaut und es wurden Verantwortliche aus Behinderten-Verbänden befragt. Man hätte auch einfach raten können, das hätte weniger Zeit gekostet. Das Studien-Design ergibt keinerlei brauchbare Erkenntnisse, was leider auf viele Studien dieses Bereiches zutrifft.
Die WebAIM-Studie habe ich ja bereits zerpflückt. Nur in Kürze: Man leitet aus einem automatischen Prüf-Tool die Barrierefreiheit einer großen Zahl von Websites ab, ohne Probleme zu gewichten. Ob 1 oder 100 Fehler, ob kleine Macke oder Riesen-Fehler, für WebAIM ist das alles das Gleiche. Das hilft dem Diskurs um Barrierefreiheit meines Erachtens nicht weiter.
Jüngstes Beispiel aus 2024 ist der Atlas gidigtale Barrierefreiheit , welcher die gleichen Fehler macht wie die Untersuchung von Sapera studios.
Das Problem: Kaum jemand macht sich tatsächlich die Mühe, das Studien-Design genauer anzusehen. Zumeist werden nur Überschriften und vielleicht die Zusammenfassungen gelesen. Der Quatsch wird dann mit einem Klick in Social Media geteilt, wahrlich kein Platz für tiefe Diskurse.
Man muss nicht wirklich tief in empirischer Forschung drin stecken, um die Angemessenheit von Methoden, Untersuchungs-Gruppen oder Prämissen infrage zu stellen. Meine Empfehlung lautet daher, solche Untersuchungen gänzlich zu ignorieren, wenn man nicht die Zeit hat, sie genauer zu prüfen. Oder fragen Sie jemanden, der sich auskennt.

Zum Weiterlesen