Touchscreens – Vorteile für Blinde und Sehbehinderte

Dass Blinde Touchscreens auf Tablets und Smartphones benutzen, ist fast schon ein alter Hut. Ein Bereich, wo sie sich bisher nicht durchgesetzt haben sind Desktop-Computer und Notebooks. Touchscreens sind die letzte nennenswerte Innovation bei Notebooks. Serienmäßig werden sie allerdings nur für Windows angeboten. Win 8 war damit angetreten, das erste OS zu sein, dass sich gleichermaßen per Touch, Maus und Tastatur bedienen lässt.
So schnell, wie die ersten Touch-Notebooks auftauchten, sind sie auch wieder verschwunden. Bis auf die Convertibles gibt es vor allem im unteren Preissegment kaum noch Touchbooks. Das ist in gewisser Weise auch nachvollziehbar. Ein Tablet hat man in der Hand oder vor sich liegen, ein Notebook ist typischerweise eine Armlänge entfernt. Bevor einem der ausgestreckte Arm abfällt, greif man eher zur Maus.
Ein weiterer Nachteil von Touchbooks besteht darin, dass sie beim Bildschirm-Tipp leicht wackeln, Tablets machen das nicht. Dadurch ist die Erkennung der Gesten ungenauer.

Blinde

Für blinde haben Touchbooks allerdings doch einige Vorteile. So ist die Erkundung des Bildschirms per Touch immer einfacher als mit den typischen Screenreader-Funktionen. Der Jaws-Cursor scheint gar nicht mehr unterstützt zu werden und die Objekt-Navigation von NVDA ist nutzbar, aber nicht wirklich intuitiv.
Auf dem Touchscreens hingegen lassen sich Elemente gut erfassen. Damit wird auch die Ribbon-Leiste von MS Office leichter erschließbar, als per Tastatur.
Wenn man sich einmal gemerkt hat, wo sich bestimmte Elemente befinden, kann man auch wesentlich schneller Informationen auslesen. Die typischen Windows-Fenster besitzen zahlreiche nicht-relevante Elemente. Möchte man zum Beispiel eine Statusmeldung im Wartungs-Center abrufen, muss man sich entweder alles vorlesen lassen oder mit der Objekt-Navigation zu diesem Element „herabsteigen“. Bei Touch berührt man einfach die entsprechende Stelle auf dem Bildschirm irgendwo in der rechten Hälfte ca. in der Mitte
Bei Webseiten bietet sich der bekannte Vorteil, dass wir nicht nur die Struktur, sondern auch ihren viesuellen Aufbau erfassen können. Bei dynamischen Anwendungen mit zahlreichen Bedien-Elementen gibt es bislang das Problem, dass diese Elemente für Blinde oft nur hakelig zu erreichen sind – wenn überhaupt, es fehlen unsere geliebten tastaturbedienbaren Menüs und Shortcuts. Per Touch können wir zumindest die Buttons und Ausklappfelder recht gut erreichen. .
Mit Touch ist es auch einfacher, komplexe Dokumente wie Excel-Tabellen zu erkunden. So eine Tabelle ist schon was Feines, nur blöd, wenn der Cursor auf B3 steht und man wissen will, was in D24 steht. Ich bin sicher, dass man das auch mit Jaws oder NVDA erfahren kann, ohne den Hauptfokus von der B3 zu nehmen, allerdings fehlt mir ernsthaft die Lust, mir noch mehr Tastenkombinationen zu merken.

Keine einheitliche Bedien-Schnittstelle

Womit wir auch zur Krux der Sache kommen. Auch die Touchsteuerung ist für Blinde leider nicht einheitlich gelöst. iOS, Android, Windows, jeder hat seine eigenen Touchgesten. Während einige Dinge wie der Duble-Tap oder das Wischen sich intuitiv erlernen lassen, sieht es bei komplexen Gesten anders aus. Dazu kommt noch, dass natürlich jeder Windows-Screenreader seine eigenen Steuergesten mitbringt. Irgendwann werden uns diese Tastenkombinationen und Touchgesten noch zum Wahnsinn treiben.
Ärgerlich ist, dass Sehende diese einheitliche und intuitive Erfahrung haben. Auch für sie sind natürlich viele Touch-Gesten unterschiedlich, aber sie brauchen im Kern auch viel weniger als wir und die wesentlichen Gesten wie Tap und Wischen sind doch gleich. Ein Knackpunkt könnte auch sein, dass die Implementierung von Touch bei Windows bzw. bei den Windows-Screenreadern nicht so sauber ist wie bei Tablets oder Smartphones. Mein vielleicht subjektiver Eindruck ist, dass Windows die Gesten nicht immer sauber verarbeitet. Auch die Screenreader sind für die Steuerung via Tastatur ausgelegt und die Implementation von Touch ist ein eher subalternes Feature. Aber das mag sich noch ändern.
Ein Vorteil für uns ist, dass es uns egal sein kann, ob ein Button zu groß oder zu klein ist. Per Wischgeste erfassen wir ohnehin alle Elemente.

Echter Vorteil für Sehbehinderte

Eine Ausnahme gilt für stark Sehbehinderte, sie haben mit großen Touchscreens einen großen Vorteil: Ein kernproblem für Sehbehinderte besteht darin, zum Beispiel ein anklickbares Element zu finden, um anschließend den Mauscursor zu finden, um anschließend das anklickbare Element wieder zu finden und beide zusammenzuführen. Das Problem besteht darin, dass es extrem schwierig und anstrengend ist, bei starker vergrößerung zwei Elemente zusammenzuführen, von denen eines ständig bewegt werden muss. Bei großen Touchscreens reicht es, dass anklickbare Element anzutippen. Ein anderer Vorteil ist, dass sie gezielter bestimmte Bereiche vergrößern können. Möchte man z.B. im Browser einen Kartenausschnitt mit den Browserfunktionen vergrößern, verschiebt sich der Inhalt in der Regel nach rechts unten. Wenn sie Pech haben, müssen sie das Browser-Fenster solange horizontal und vertikal scrollen, bis sie den Abschnitt wieder im Blick haben. Beim Touchscreen können sie per Touchgeste genau den Bereich vergrößern, in dem sie auf diesem Bereich die Spreizgeste ausführen. Last not least sagt der Schnarchator, die in Windows eingebaute Vorlesefunktion, wenn sie eingeschaltet ist an, wie das Element heißt, welches man gerade berührt. Touchscreens bieten also eine recht einfache Möglichkeit, einfacher mit Sprachausgabe und Vergrößerung zu arbeiten – und zwar onboard. Für Menschen mit solchen Sehbehinderungen kann sich die Anschaffung eines Touchbooks also lohnen.

Vorläufiges Fazit: Muss man nicht haben

Windows 8.1 lässt sich recht gut per tastatur bedienen und auch für die meisten Anwendungen wie Office benötigt man kein Touch. Es ist ein nettes Goodie, was man aber in der Praxis wohl kaum benutzen wird. Für die Erkundung per Touch dürften die meisten Blinden auf das intuitivere iOS zurückgreifen.
Es fehlen noch für Blinden interessante Anwendungsgebiete. Komplexe Diagramme wie Ablaufschemata ließen sich per Touch zum Beispiel segment-weise erschließen, wobei wir per Touch nicht nur die lineare Anordnung, erkunden, sondern auch z.B. sehr leicht über- und untergeordnete Elemente und Knoten unterscheiden könnten. Mit Technologien wie SVG sollte das kein Problem sein. Allerdings werden die meisten Diagramme noch als Rastergrafik angeboten, was für uns nicht hilfreich ist. Es bleibt abzuwarten, ob Touch doch noch zu einem Innovationsschub bei blindengerechten Darstellungen führen wird.
Wer es dennoch und für kleines Geld ausprobieren möchte: Windows-Tablets sind bereits auf dem Preis-Niveau von Android. Das HP Stream mit Win 8.1 und ohne Junk-Ware gibt es aktuell für 80 Euro, ein Tablet von Dell für 90 Euro. Ansonsten warten wir mal ab, ob Windows 10 den erwarteten Durchbruch für die Touchbedienung bringt.