Assistive Technologien werden wichtiger für digitale Barrierefreiheit


Assistive Technologien sind Hilfsmittel, die Menschen mit Behinderungen unterstützen, um digitale Inhalte besser nutzen zu können. Bei digitaler Barrierefreiheit sprechen wir in der Regel von Software oder einer Kombination aus Software und Hardware wie etwa Screenreader + Braillezeile oder Augensteuerung + Kamera.

Trend Integration

Generell ist ein Shift zu beobachten: Einzelne Funktionalitäten oder ganze Systeme wandern in die Betriebssysteme. Während etwa bis Windows 7 die assistiven Funktionen weniger als rudimentär waren, hat sich das seit Windows 8 bis heute verbessert. Windows 11 hat einen Basis-Screenreader, eine performante Zoom-Funktion, eine Augensteuerung und Sprachsteuerung (deren Qualität ich nicht beurteilen kann) und einige weitere Funktionen. Für den Mac, iOS und Android gibt es kaum externe assistive Software, viele Grund-Funktionen sind aber integriert. Außer bei Windows dürfte es selten vorkommen, dass eigene assistive Technologie zusätzlich installiert wird. Das gilt für die Software, auch bei der Hardware wäre eine solche Entwicklung wünschenswert, ist aber nicht absehbar, da sie teils spezielle Anforderungen erfüllen muss.
Mit den integrierten assistiven Technologien ist ein weiteres Problem nicht mehr so dringend: Vielfach wird gekaufte Software nicht aktualisiert, weil das ähnlich viel Geld kostet wie die Neu-Anschaffung, etwa bei Jaws. Integrierte assistive Technologien werden mit dem Betriebssystem aktualisiert, also spätestens, wenn ein neues Device fällig ist. Veraltete Software kann die Ursache für mangelnde Nutzbarkeit sein.

Der Preis der assistiven Technologien

Wie oben gesagt muss assistive Technologie in der Regel nicht mehr dazu gekauft werden. Ist dies aber der Fall, wird sie sehr teuer: Eine Braillezeile, die 40 Zeichen darstellen kann kostet ca. 4000 €. Der Screenreader Jaws kostet ca. 2600 € (so mein aktueller Stand). Woran liegt das?
Der Hilfsmittel-Markt ist nicht besonders attraktiv: Hohe Kosten bei der Entwicklung stehen relativ geringen Absatzzahlen gegenüber. Zumindest die blinden Kunden in Deutschland sind sehr kritisch und trotz Blindengeldes nicht immer willig, für an sich sinnvolle Dinge zu bezahlen.
In reichen Ländern hat man nur zwei Möglichkeiten:
Entweder versucht man den Preis so gering zu halten, dass auch Privatpersonen zugreifen. Die Range ist dann trotzdem relativ groß: Die verschiedenen Bluetooth-Tastaturen speziell für Blinde kosten ein Vielfaches von dem, was selbst hochpreisige konventionelle Bluetooth-Tastaturen etwa von Apple kosten. Die Preise für spezielle Smartphones sind allerdings relativ human, sie sind immer noch günstiger als die aktuellen Modelle von Apple oder die Top-Modelle der Android-Fraktion – allerdings sind die Nutzungs-Möglichkeiten der speziellen Geräte auch nicht so groß wie bei konventionellen Smartphones.
Oder man versucht (in Deutschland), eine Eintragung in das Hilfsmittel-Verzeichnis der Krankenkassen zu bekommen. Das ist zwar langwierig, aber durchaus möglich. Für hochpreisige Hilfsmittel gibt es ohnehin keine Alternative, eRollstühle etwa können so viel wie ein Mittelklasse-PKW kosten, ebenso wie Blindenführhunde. Die Krankenkassen haben allerdings bereits und werden aller Voraussicht nach in Zukunft eher weniger Hilfsmittel bezahlen, mit dem Verweis auf die oben erwähnten integrierten bzw. kostenlosen Hilfsmittel. Bei 2600 € für Jaws und 0 € für NVDA bei relativ gleichen Leistungs-Umfang ist das ein Stück weit verständlich.
Viele Unternehmen werden tatsächlich von Betroffenen oder deren Bezugspersonen gegründet. Reich wird man davon nicht, die deutschen Unternehmen sind durchweg zum Mittelstand zu zählen. Bis auf Whispero (Jaws, Zoomtext etc., die allerdings alles zusammengekauft haben, gibt es kaum Akteure, die global agieren und eine kritische Größe erreicht haben. Doch selbst Whispero senkt die Preise für Jaws außerhalb der USA nicht, obwohl die Software als ausentwickelt gelten kann und vergleichsweise viele Lizenzen verkauft werden. Wozu auch, die Westler zahlen es ja trotzdem.
Auf der Strecke bleibt allerdings die Mehrheit der behinderten Menschen, die in den ärmeren Ländern leben und selbst dort eher zur ärmeren Schicht gehören. Selbst die relativ günstigen Braillezeilen wie der Orbit Reader würden dort mehr als ein Jahres-Gehalt ausmachen. Sie profitieren von den integrierten assistiven Technologien, sofern sie an einen Computer bzw. ein Smartphone herankommen und ihre Behinderung nicht so schwerwiegend ist, dass sie selbst mit dieser Technik nicht zurechtkommen.

Welche Rolle spielt die assistive Technologie für die digitale Barrierefreiheit?

Während die assistive Technologie früher die Brücke war, wird sie nach und nach zum Kompensierer mangelnder Barrierefreiheit. Natürlich kann eine vollblinde Person ein digitales Interface nicht ohne Screenreader nutzen. Natürlich ist aber die Voraussetzung, dass die Software richtig entwickelt wurde, damit der Screenreader damit arbeiten kann.
Doch gibt es neue Entwicklungen, die uns nach und nach vom Good Will der Anbieter unabhängiger machen. Apple iOS hat schon seit längerem, ich meine seit iOS 16, eine Funktion, welche unbeschriftete UI-Elemente und deren Werte erkennen kann. Android hat eine automatische Bild-Beschreibung. NVDA hat die Erweiterung AI Describer, die ebenfalls Bedien-Elemente und Bilder beschreiben kann. Google Bard ist dem Vernehmen nach in der Lage, die GUI auf einem Screenshot zu beschreiben, den man dort hochgeladen hat.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Das funktioniert so zwischen gut und gar nicht. Auch wenn zum Beispiel ein UI-Element erkannt wird heißt das nicht, dass der Nutzende und der Screenreader dazu in der Lage sind, mit dem Element zu interagieren. Eine Blinde Person kann nicht wissen, ob die Beschreibung adäquat ist oder ob der Algorithmus Unsinn erzählt. Bis auf Weiteres werden wir auf barrierefreie GUI’s angewiesen sein.
Dennoch dürfte die Rolle der assistiven Technologien aus meiner Sicht in naher Zukunft zunehmen und die Qualität der GUI dürfte nicht mehr so wichtig sein wie früher. Mit zunehmend besseren Trainings-Daten wird die Erkennungs-Qualität erhöht. Der nächste Schritt wäre, dass erkannte UI-Elemente auch bedienbar werden. Wenn es nur um einen Klick geht, ist das heute schon kein Problem mehr. Doch gibt es andere UI-Elemente wie Schieberegler oder Elemente, die sich nicht berechenbar verhalten. Auch die Werte von Elementen können eventuell nicht immer erkannt werden, etwa bei einem Toogle-Button.
Und das Gute ist, dass diese Dinge nicht mehr dem exklusiven Westler-Club zur Verfügung stehen, sondern auch ärmeren Menschen.