Wie große Akquisitionen der digitalen Barrierefreiheit schaden


Es war wohl zu erwarten, dass irgendwann auch eine an sich etablierte Firma auf die dunkle Seite wechselt. Die international bekannte Firma Level Access hat den Overlay-Anbieter Userway gekauft, für einige Millionen Dollar. Solch großen Akquisitionen kennt man eigentlich von Unternehmen anderer Größenordnungen.

Geld verdienen ist in Ordnung, aber nicht so

Lassen Sie mich zuerst mit zwei Annahmen aufräumen: Wie ich öfter ausgeführt habe, finde ich es nicht schlimm, mit Barrierefreiheit Geld zu verdienen, solange man sinnvolle und kompetente Angebote macht. Im Endeffekt ist Barrierefreiheit wie viele Consulting-Jobs sehr fordernd und kaum jemand von uns würde das auf Dauer unentgeltlich machen. Auch die Welthungerhilfe hungert nicht. Auch finde ich es nicht schlimm, dass Unternehmen größer werden. Im Gegenteil wundere ich mich manchmal über die deutschen Agenturen, die sich auf Barrierefreiheit spezialisiert haben, aber keine 20 Personen beschäftigen. Entweder man wächst oder man beschränkt die Zahl der Projekte, die man bearbeiten kann, was Drittes gibt es nicht. Ich sage das, weil viele Personen aus der Barrierefreiheits-Szene das anders sehen. Bestimmte Projekte kann man wirklich nur bewältigen, wenn man auch eine gewisse Größe hat. Viele Software-Entwicklungen etwa zur Automatisierung oder Nutzung von KI können nur mit entsprechenden Ressourcen umgesetzt werden. Bei vielen von uns vermischt sich auch Freizeit und Arbeit. Für meine Website und meine Podcasts und auch für meine Bücher zahle ich drauf.
Problematisch wird es dann, wenn die Barrierefreiheits-Unternehmen von Unternehmen aus anderen Sektoren gekauft werden. Ein Unternehmen hat natürlich daran ein Interesse, möglichst viele Leistungen oder Produkte zu verkaufen. Wenn das reine und sinnvolle Barrierefreiheits-Leistungen sind, ist das aus meiner Sicht in Ordnung. Bei Gemischtwaren-Läden wie Vispero ist das anders. Dann möchte das Unternehmen nämlich an die gleichen Kunden möglichst viele Produkte aus seinen anderen Bereichen verkaufen.

Ein negatives Beispiel

Nehmen wir das Beispiel Vispero. Vispero hat etwa die assistiven Technologien Jaws, Zoomtext, aber auch die international für Barrierefreiheit renommierte Firma Paciello Group gekauft, die jetzt TPGi heißt.
Seitdem scheint jeder zweite Beitrag der TPGi ein Verkaufsartikel für ein Jaws-Produkt zu sein: Jaws Kiosk hier, Jaws Connect dort. Meines Erachtens sind diese Produkte schlimmer als die Overlays, aber das ist ein anderes Thema. TPGi tut so, als ob es keine anderen Screenreader gäbe, was die Firma Glaubwürdigkeit kostet. Vispero ist auch das Unternehmen, welches das Konkurrenz-Produkt Window Eyes gekauft und dicht gemacht und damit Tausende Blinder zum Kauf von Jaws zwingen wollte.
Wie oben gesagt ist nichts dagegen einzuwenden, Produkte zu verkaufen, solange sie sinnvoll sind. Deque zum Beispiel bietet einige Tools wie die Analyse-Suite Axe-Core. Wenn man das weiß, kann man Deques Artikel zum Thema automatische Prüftools ein wenig kritischer lesen. Aber Tools wie Overlays bringen einen bestenfalls beschränkten Nutzen. Wer etwas Anderes behauptet, ist kein Barrierefreiheits-Experte, sondern ein Schrott-Verkäufer. Es ist ja auch erwähnenswert, dass einige dieser Overlay-Anbieter gerne ihre Kritikerinnen verklagen oder juristisch einschüchtern lassen, Argumentieren ist wohl teurer als Rechts-Anwälte.

Der Interessenskonflikt ist nicht aufzulösen

Natürlich hat der Vaterkonzern Vispero ein Interesse daran, möglichst viel von seinem Zeug zu verkaufen: Akquisitionen sind einiges, aber weder billig noch ein Selbstläufer.
Level Access wird das nicht anders machen, irgendwie muss das Geld für den Kauf ja wieder reinkommen. Die Apologie für Overlays hat der Geschäftsführer bereits auf LinkedIn begonnen, Erik Eggert hat das aufgearbeitet. In einem Punkt würde ich Eggert widersprechen: Es ist tatsächlich auch ein Problem des aggressiven, suggestiven und auch mit teils falschen Versprechungen arbeitenden Marketings und der aggressiven Akquise, die auch in Deutschland schon verbreitet ist. Wenn die Tool-Anbieter die schlichte Wahrheit sagen würden – ein paar überflüssige und teils nicht funktionierende Hilfen für teuer Geld – würde niemand die Tools kaufen.
Dieser Interessens-Konflikt lässt sich nicht auflösen. Allein die Akquisition durch ein renommiertes Unternehmen wird die Lösung in den Augen vieler potentieller Kunden adeln. Andersherum zwingt die Akquisition Level Access dazu, die Kosten wieder reinzuholen.
Das Argument, dass man das Overlay verbessern könne, ist durchsichtig. Die Dinger gibt es schon ein paar Jahre und bislang war keine qualitative Verbesserung zu beobachten. Wie Level Access das verändern möchte, bleibt deren Geheimnis. Dem Vernehmen nach hatte ein Overlay-Tool sogar eine Analyse-Software – ich meine es war Wave von WebAIM – ausgehebelt und falsche Ergebnisse ausgespielt. Das klingt nicht so, als ob man von den Fähigkeiten seiner Tools wirklich überzeugt ist. Wenn Level Access die Vorteile der Erweiterung nüchtern beschreibt, wird kein Kunde das Tool kaufen, wie oben gesagt.
Viele Tools haben ja mittlerweile auch Analyse-Suites integriert. Eventuell ging es Level Access tatsächlich darum, diese Analyse-Tools zu kaufen. Das wäre eine sinnvolle Erweiterung des Portfolios, schließlich haben auch andere große Consulting-Firmen solche Tools im Köcher.
Aber wie oben gesagt zwingt der Kauf dazu, natürlich möglichst viele Leistungen aufzuschwatzen, ob man sie selbst für sinnvoll hält oder nicht. Man wird also dem Kunden sowohl das Prüftool als auch das Overlay andrehen wollen. Das wird dem Unternehmen zumindest in der Szene Glaubwürdigkeit kosten, außerhalb kriegt das denke ich niemand so richtig mit. Schwierig könnte es werden, wenn plötzlich Organisationen im Rahmen des Americans with Disabilities Act verklagt werden, die von Level Access beraten worden sind.

Der große Markt lockt weiße Schafe an

Nun kann niemand sagen, wie es weitergehen wird. Wie die Overlay-Anbieter gezeigt haben, ist Barrierefreiheit vor allem in den USA zu einem riesigen Markt geworden. Es ist zu befürchten, dass weitere Unternehmen durch Aufkäufe oder Junk versuchen werden, einen größeren Stück des Kuchens für sich zu holen.
Es bleibt zu hoffen, dass sich die vernünftigen Unternehmen und Produkte halten und auf lange Sicht durchsetzen können. Den Kunden ist zu empfehlen, sich von Unternehmen oder Personen beraten zu lassen, die nicht gleich noch mehrere Produkte im Portfolio haben oder zumindest vorsichtig zu sein, wenn der Berater gleich noch ein Produkt verkaufen möchte.

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