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Sollte man sich selbst in Veranstaltungen für Blinde beschreiben?

Bei englischen Veranstaltungen zum Thema Behinderung hört man häufiger, dass sich Personen beschreiben: Ethnische Gruppe bzw. Hautfarbe, Alter, Größe, Haarfarbe und so weiter. Das soll Blinden oder Sehbehinderten helfen. In Deutschland ist das bislang selten.
Ich habe einmal in meiner Blinden-Bubble gefragt, wie sie das sehen. Wie zu erwarten gehen hier die Meinungen auseinander. Einige wollen es gerne wissen, einige finden es gut, brauchen es aber nicht unbedingt, andere finden es komplett verzichtbar. Ich zähle mich zu denen, die es zwar interessiert, aber nicht unbedingt brauchen.
Als Blinder versucht man normalerweise, solche Faktoren an der Stimme auszumachen. Das ist allerdings schwierig. Zumindest bei Männern kann man das ungefähre Alter häufig an der Stimme ausmachen, weil sie je nach Alter doch variiert. Bei Frauen, gerade wenn sie hohe Stimmen haben ist das deutlich schwieriger. Andere Faktoren lassen sich kaum ausmachen, es sei denn, es sind Besonderheiten wie ein offensichtlich nicht-deutscher Name oder ein starker Akzent vorhanden.
Die Frage poppt übrigens auch bei Bild-Beschreibungen häufiger auf. Soll man zum Beispiel beschreiben, was das für Personen auf dem Foto sind oder reichen Basis-Infos wie Geschlecht und eine ungefähre Einstufung wie Erwachsener, Jugendlicher, Kind etc?
Und bei Veranstaltungen: Soll eine Moderatorin die Personen beschreiben oder sollen das die Sprechenden selbst erledigen? Sowohl Fremd- als auch Selbst-Beschreibungen können schnell peinlich werden.
Schließlich wird die Frage auch schnell politisch: Ist es wirklich relevant, dass jemand Rössler heißt, aber vietnamesische Vorfahren hat? Sollte es nicht, tut es aber. Sehende können sozusagen nicht das Gesagte von dem Aussehen des Sprechenden differenzieren, das zeigen etwa die Forschungen im Bereich Geschlechter-Wahrnehmung. Es kann also tatsächlich sein, dass ich das Gesagte anders wahrnehme, wenn ich weiß, wie die Person aussieht.
Weiteres Problem ist, dass wir recht schnell in eine Interpretation reingehen. Mit Mitte 40 gehöre ich noch nicht zu den „Älteren“, habe allerdings schon ordentlich graue Haare. Was ist eigentlich älter, was ist sportlich, was ist dunkelhäutig?
Ein weiteres Problem politischer Natur ist das demonstrative Zur-Schau-Stellen von Diversität: Da sieht man eine Firmen-Website mit vielen unterschiedlichen Personen auf den Fotos, die dann auch entsprechend beschrieben werden. Und besucht man die Firma, merkt man, dass sie keineswegs so divers ist.
Mein Fazit: Naturgemäß interessieren sich Menschen dafür, wie ihre Gesprächs-Partner:Innen aussehen. Das gilt auch für vollblind Geborene, so meine Einschätzung. Auch wenn man nie eine Person gesehen hat, hat man doch tausende von Beschreibungen etwa in Büchern oder über Hörspiele wahrgenommen, das geht nicht spurlos an dir vorbei. Bei Radio- oder Synchronsprecher:Innen frage ich mich tatsächlich oft, wie sie aussehen bei letzteren auch, ob sie Ähnlichkeit mit den Personen haben, deren Stimme sie im Deutschen übernehmen. Das tun sie fast nie, soweit ich weiß.
Wahrscheinlich rührt ein Gutteil der Zoom-Fatigue daher, dass die Leute häufig ihre Kamera ausgeschaltet lassen. Dadurch fehlt die visuelle Kommunikation, also das Aussehen, aber auch die Mimik.
Das heißt: Wenn sich Leute gerne selbst beschreiben, dann sollten sie es selbst tun. Sie sollten sich einfach selbst entscheiden, was sie beschreiben wollen. Bei einem fremden Publikum gehe ich immer kurz auf meine sichtbare Behinderung ein, weil ich weiß, dass die Sehenden sich entsprechende Fragen stellen. Auf meinen ethnischen Hintergrund gehe ich nicht ein, weil ich das in der Tat für irrelevant halte.
Wenn die Referierenden das nicht mögen, sollte man sie auch nicht dazu zwingen. Aber warum sollte das auf Veranstaltungen mit Bezug zu Behinderung und Diversität beschränkt bleiben? Eventuell kann man das auch so vorbereiten, dass es witzig und nicht zu überspannt rüberkommt.
Schön wäre es natürlich, wenn wir das neutral hinbekommen würden: Eine Audiodeskription für Veranstaltungen wäre doch nett, wo eine neutrale Moderation auch solche Faktoren kurz und knapp beschreibt.

Warum Projekte zur digitalen Barrierefreiheit häufig scheitern


Barrierefreiheit ist ein komplexes Projekt. Nach meiner Erfahrung sind es aber vor allem drei Aspekte, an denen Barrierefreiheits-Projekte hauptsächlich scheitern oder den Rahmen sprengen.

Priorisierung

Meine Kund:Innen können es nicht mehr hören: Egal bei welchem Thema, möchten oder müssen Sie Barrierefreiheit umsetzen, müssen Sie es von Anfang an mit einplanen. Wenn Sie das nicht tun, sind Sie selbst dafür verantwortlich, wenn ein Projekt scheitert oder sich wesentlich verzögert. Mir gefällt das Bild mit dem Rosinenkuchen. Sie backen nicht zuerst den Kuchen und versuchen hinteher, die Rosinen irgendwie mit reinzubringen.
Digitale Barrierefreiheit wird häufig runterpirorisiert, woran das Projekt scheitern oder sich in die Länge ziehen kann.

Mitarbeitende qualifizieren

Die Mitarbeitenden sehen häufig nicht die Notwendigkeit von Maßnahmen der Barrierefreiheit ein. Deswegen werden sie viele Dinge schlampig umsetzen. Deshalb sind Schulungen und Sensibilisierungen notwendig: Schulungen, damit die Beteiligten wissen, wie sie es umsetzen sollen, Sensibilisierung, damit sie wissen, warum sie es umsetzen sollen. Es gibt mittlerweile zahlreiche Angebote von kostenlosen YouTube-Channels bis sündhaft teuren Schulungspaketen, da wird auch für Ihre Organisation etwas dabei sein. Das Argument, es sei zu teuer, ist bei den vielfältigen Angeboten nicht mehr akzeptabel.
Ein wichtiger Grund fürs Scheitern ist auch das mangelnde Interesse der Führungskräfte. Das reicht vom verantwortlichen Projektmanager bis hin zur Geschäftsführung. Die Erfahrung zeigt, dass das mangelnde Interesse, aktiv oder passiv zur Schau gestellt, auch bei den Beteiligten das Interesse an der Umsetzung mindert.

Klare Briefings

Auch das können meine Kund:Innen nicht mehr hören, aber wir brauchen klare Briefings. „Machen Sie es barrierefrei“ ist so hilfreich wie „Leben Sie gesund“. Vor allem für unerfahrene Dienstleister sind klare Anforderungen und Rahmenbedingungen wichtig. Für interne Redakteure zum Beispiel sind auch Anleitungen zu erstellen. Der Kunde muss kein Experte sein, aber er muss entweder genau definieren, was er will oder er muss sich seiner mangelnden Expertise bewusst sein und sich von uns beraten lassen – als kostenpflichtige Dienstleistung, versteht sich. Und er muss auch bereit sein, diese Empfehlungen umzusetzen oder die Verantwortung zu übernehmen, wenn er es nicht tut.

Fazit

Wenn ich rekapituliere, scheitern bzw. verzögern sich die meisten Barrierefreiheits-Maßnahmen wegen der drei oben genannten Faktoren. Es ist so kompliziert, weil man es sich selber zu schwer macht.
Im Endeffekt ist es eine Frage des richtigen bzw. falschen Framings: Viele Verantwortliche betrachten Barrierefreiheit noch immer aus einer Perspektive der Wohltätigkeit – kann man tun, aber auch lassen. Stattdessen sollte es als Mehrwert für alle und Qualitätsmerkmal betrachtet werden.

Why digital accessibility projects often fail

Warum wir konstruktiver kritisieren müssen

Man kann grob zwischen drei Arten von Kritik im Bereich Behinderung/Inklusion/Barrierefreiheit unterscheiden:

  • Schmäh-Kritik, zumeist sehr persönlich und aggressiv vorgetragen
  • harte Kritik, die ohne persönliche Angriffe und Schmähungen auskommt, aber vom Tenor ähnlich ist wie Schmäh-Kritik
  • ausgewogene Kritik ohne persönliche Angriffe und Schmähungen

Die Letztere möchte ich als konstruktiv bezeichnen. Man kann Dinge kritisieren, ohne Politikern oder anderen Personen böse Motive oder Untätigkeit zu unterstellen.
Unsere Medien, insbesondere Social Media, ist aber so gestrickt, dass man ohne persönliche Schmähungen kaum Aufmerksamkeit erzeugen kann. Bei der Debatte um die Triage etwa wird häufig zumindest indirekt unterstellt, den Politikern sei das Leben behinderter Menschen egal. Bei vielen Aktivisten lese ich, in den letzten Jahren und Jahrzehnten sei in Sachen Inklusion nichts passiert. Das ist meines Erachtens kein sinnvoller Umgang miteinander, die Gründe möchte ich in diesem Beitrag darstellen.

Politiker sind auch nur Menschen

Es gibt fleißige und faule, interessierte und weniger interessierte, engagierte und weniger engagierte Politiker. Sicher ist aber, dass sie alle von der Kommune bis zum Bund unter Dauerfeuer stehen. Insbesondere Frauen werden belästigt, bedroht und beleidigt, aber auch Männer kriegen einiges ab. Das gilt vor allem in den Kommunen, wo man den Kontakt mit den normalen Bürgern kaum vermeiden kann. Das Ganze hat sich in den letzten Jahren verschlimmert, bei allzuvielen Mitbürgern scheinen sämtliche Hemmungen verloren gegangen zu sein.
Und, ich muss das leider sagen, wenn einige der Aktivisten ihre Kritik so aggressiv äußern, wie sie es aktuell tun, sind sie leider nur wenig besser. Negative Gefühle und Aggressionen haben die Eigenschaft, sich zu akkumulieren und zu verstärken. Wenn das am Ende in körperliche Übergriffe übergeht, hat jeder aggressive Tweet, jeder wütende Facebook-Post und jede schmähende Insta-Story dazu beigetragen.
Wer das nicht aushält, geht gar nicht erst in die Politik. Damit tragen wir also dazu bei, insbesondere Frauen aus der Politik fernzuhalten.

Junge Aktivisten sind frustriert und abgeschreckt

Die Parole „Es ist nichts passiert“ dürfte auf heutige Aktivisten demotivierend wirken und junge angehende Aktivisten abschrecken. Gewiss hätte seit der UN-BRK mehr passieren können, aber auch weniger. Ich bin sicher kein Freund des Bundesteilhabegesetzes – es ist wie so viele Gesetze zu bürokratisch – aber es ist ein Schritt in die richtige Richtung. Es geht zu langsam, aber wir sind in einer Demokratie.
Die engagierten Leute werden dadurch demotiviert, sich weiter einzubringen. Bei mir selbst merke ich, dass ich Beiträge gar nicht mehr weiterlese, wenn sie mit solchen Formulierungen beginne.
Stärker dürfte aber die Wirkung auf junge Aktive sein. Sie gehen heute eher in den Umweltschutz, weil das cooler ist, aber auch, weil hier mehr Wums und eine bessere Stimmung ist. Junge Leute möchten etwas bewegen und sie möchten eine positive Grundstimmung haben. Wenn alte Herren wie ich ihnen etwas vorjammern wie „Wir engagieren uns seit 30 Jahren und nichts hat sich bewegt“, konterkarieren wir unser eigenes Engagement und zeigen den Leuten, dass sie sich vielleicht lieber woanders einbringen sollten. Mir fällt aktuell keine einzige Person unter 30 in der Behindertenszene auf.

Kritik ja, aber weniger fatalistisch

Jeder hat mal einen schlechten Tag und haut den einen oder anderen blöden Kommentar raus. Im Endeffekt sollte man aber doch versuchen, konstruktiv zu sein. Das heißt, die eigenen bzw. die Erfolge der Community zu feiern.
Kritik an Politikern und Organisationen ist natürlichin Ordnung. Sie sollte aber immer konstruktiv und respektvoll sein. Sagen wir es doch einmal klar: Wir können uns nur so hemmungslos auslassen, weil wir als Behinderte quasi unantastbar sind. Niemand traut sich, uns zurückzukritisieren, weil wir armen Behinderten ja eh zuviel durchmachen müssen.
Weiterhin sollte man sich an dieser unseligen Shitstorm-Kultur nicht beteiligen. Häufig sieht man auf den ersten Blick, dass Beiträge auf das häufige Teilen angelegt sind und maximale Aufmerksamkeit bekommen sollen.
Why we need to criticize more constructively

Macht Diversity die Sprache unverständlich?

Es gibt zwei gegenläufige Tendenzen: Einerseits wächst das Verständnis dafür, dass Kommunikation verständlicher werden muss. Niemand freut sich über komplexe Sprache, komplexe Sprache ist selten ansprechend und reizt ganz sicher nicht dazu, etwas freiwillig zu lesen. Das Verständnis dafür ist in den letzten Jahren gewachsen, immerhin gibt es mehrere DIN-Ausschüsse, die sich damit beschäftigen. Wenn in einigen Jahren eine DIN-Norm für einfache Sprache vorliegt, könnte das dem Thema den entscheidenden Schub verleihen, der bisher fehlt.
Der gegenläufige Trend ist das, was man plakativ Diversity Speak nennen kann: Immer komplexere Formen dafür, Personen oder Personengruppen zu bezeichnen. Ein Beispiel: Früher galt „Behinderte“ als Bezeichnung als angemessen, „Krüppel“ und ähnlich galt und gilt als abwertend oder beleidigend. Irgendwann kam die Bezeichnung „behinderte Menschen“ auf, das soll Personen nicht auf ihre Behinderung reduzieren. Heute sagt man „Menschen mit Behinderung“. Das soll aus Gründen besser als „behinderte Menschen“ sein, die Erklärung habe ich leider nicht verstanden.
Nach dieser Logik sollte ich eigentlich „Mensch mit Sehbehinderung“, „Mensch mit Hörbehinderung“ und so weiter sagen. Neulich habe ich mir aber von einer Autistin erklären lassen, dass sie als „Autistin“ und nicht „Mensch mit Autismus“ bezeichnet werden möchte. Die Erklärung habe ich wiederum nicht verstanden. Ein Gehörloser meldete mir zurück, man sage „taub“ statt „gehörlos“, die Erklärung… Sie wissen schon.
Nun bin ich nicht in den verschiedenen Communities unterwegs und kenne die internen Diskurse nicht. Ich bin mir aber recht sicher, dass das den meisten Betroffenen so wichtig ist wie das Wetter vorletztes Jahr, außerhalb der Selbsthilfe-Bubble interessiert das nach meiner Erfahrung keinen Menschen. Der Diskurs wird von einer überwiegend akademischen, in Publikationen und Social Media sehr lauten Minderheit aus der Minderheit geführt.
Wer sich dafür interessiert: Diese Sprach-Theorien basieren vor allem auf den französischen Strukturalisten wie Derrida und Foucault, die ihrerseits kaum lesbar sind. Es kommen Mode-Trends wie der Framing-Ansatz dazu. Ja, Sprache spielt eine Rolle für die Wahrnehmung, aber meines Erachtens wird die Relevanz von Zeichen und Begriffen stark überschätzt, wenn man die eindeutig beleidigenden Termini aus der Sprache entfernt hat.
Das Problem ist, dass diese Begriffs-Verwirrung babelschen Ausmaßes den Diskurs unheimlich erschwert. Es macht das Schreiben und Sprechen sehr kompliziert, weil man immer darüber nachdenken muss, wer sich von den Zuhörenden oder Mitlesenden beleidigt fühlen könnte. Oft genug sind es ja gar keine selbst Betroffenen, die sich da zu Wort melden, sondern andere Personen, die meinen, sie hätten die komplizierten Codes exakt verstanden und müssten jetzt einen Behinderten belehren. Die Shitstorm-Kultur im Web führt dazu, dass Lapalien ebenso aufgeblasen werden wie echte Beleidigungen – das Internet kennt da keinen Unterschied. Und die meisten Nicht-Betroffenen machen nur mit, um ihrer Blase zu zeigen, wie weltoffen sie sind.
Und noch wichtiger: Es stört das Verstehen extrem. „Behinderte“ ist ein Wort, „Mensch mit Behinderung“ sind drei Worte. Ein Leseprofi geht darüber schnell hinweg, ein Wenigleser findet das schwieriger. Nun wäre das Problem überschaubar, wenn solche Formulierungen selten wären, aber solche und ähnliche Formulierungen kommen in Texten mehrfach vor und können den Text durchaus um mehrere Prozente verlängern. Wenn dazu noch gegendert und migriert wird, kann das den Text schnell unlesbar machen. Last not least ist das ja nicht der einzige Grund, warum Texte kompliziert und schlecht zu lesen sind. Hinzu kommen Fach-Jargon, Bandwurmsätze, Komposita und eine nicht-leserfreundliche Gestaltung.
Der Trend ist nicht zu Ende, mein Eindruck ist vielmehr, dass die Zunahme komplexer Diversity-Formeln kein Ende mehr kennt. „Funktionale Analphabeten“ sollen jetzt „gering literalisiert“ genannt werden. Damit ist meines Erachtens gar nichts erreicht außer Stirnrunzeln bei den Leuten, denen letzterer Begriff noch nicht untergekommen ist. Heute schreiben viele neben kryptischen Abkürzungen in ihr Profil, wie sie angesprochen werden wollen „He/him“, „She/her“, schön, wenn man sein Geschlecht so rausstellt, bis dahin war mir das relativ egal. Jetzt vermehrt es nur die Menge an Zeichen, die der Screenreader vorliest.
Sie sagen, das sei selbstverständlich, ich sage, dass es kein Naturgesetz gibt. Ich zumindest bin nicht gefragt worden, ob ich „Ausländer“ besser finde als „Mensch mit Migrationshintergrund“. Es erinnert mich an Mode-Trends, die ich ebensowenig verstehe. Letztes Jahr waren es grüne Streifen, dieses Jahr blaue Punkte – who cares? Und welche Autorität legt das eigentlich fest?
Lassen Sie mich das plakativ sagen: Wenn diversitäts-sensible Sprache heißt, dass die Sprache immer komplexer wird, dann schließt sie Wenigleser und Fremdsprachige aus. Das ist sicher nicht inklusiv oder diversitäts-freundlich. Es erstaunt und ärgert mich, dass dieser Widerspruch von den Verantwortlichen nicht angesprochen oder sogar geleugnet wird.
Ich habe keine Lösung für dieses Problem. Ganz sicher wollen wir nicht in die Zeit zurück, in der man Dunkelhäutige oder andere Personen mit abwertenden Bezeichnungen bedacht hat. Wir bauen uns aber selbst eine Falle, indem wir die Codes immer komplizierter machen. Das widerspricht dem Prinzip verständlicher Kommunikation.
Oder: Wir gestehen uns ein, dass uns diese Codes wichtiger sind als verständliche Sprache. Dann schließen wir Leute aus, die ohnehin benachteiligt sind, aber vielleicht ist das unvermeidbar. Meines Erachtens verlieren wie damit die Leute zum Einen für das eigentliche Anliegen, Diskriminierung in Sprache und Bild zu reduzieren. Aber wir verlieren sie auch für alle anderen Themen, die uns und ihnen wichtig sein könnten. Verstehen von Inhalten und Verständnis für einander – hängt das nicht irgendwie zusammen?

Automatisch barrierefrei? Gegen Accessibility-Overlays vorgehen

Stilisierte Figur wirft etwas in einen MülleimerAccessibility Overlays machen Ihre Website nicht barrierefrei, sie verschlechtern die Barrierefreiheit Ihrer Website. Um es klar zu sagen: Jedes Tool, welches verspricht, Ihre Website auf Knopfdruck oder mit wenigen Zeilen Code barrierefrei zu machen, ist Accessibility Bullshit. Solche Werkzeuge sind ebenso hilfreich wie Handauflegen, Wahrsagekugeln und Homeopathie. Mir ist es lieber, Sie machen nichts für Barrierefreiheit als wenn Sie solche Tools einsetzen. Wenn Sie hingegen Geld verschwenden möchten, sende ich Ihnen gerne meine Bankverbindung.
Das Problem mit den Tools ist, dass sie erst mal gar nicht im intendierten Sinne funktionieren. Oftmals fügen Sie lediglich ein paar Zoomfaktoren, eine Vorlesefunktion oder einen Dark Mode hinzu. Das sind Funktionen, die schon vor 15 Jahren ausprobiert wurden, seitdem out sind und vom Betriebssystem bzw. assistiven Technologien besser erledigt werden können. Komplexe dynamische Elemente können auf absehbare Zeit nicht automatisiert barrierefrei gemacht werden. Mal ehrlich, wir scheitern heute noch an brauchbaren automatisierten Bildbeschreibungen, glauben Sie, die wesentlich komplexeren dynamischen Elemente könnten automatisch barrierefrei gemacht werden? Auch Funktionen wie Animationen ausblenden funktionieren nicht, das würde erfordern, dass bei den Animationen hinterlegt wird, dass sie unter bestimmten Bedingungen angehalten werden. Das widerspricht aber der Anforderung, automatisch barrierefrei zu sein.
Das Problem geht aber weiter: Die Overlays fügen überflüssige Elemente zur Website hinzu. Sie machen die Website unübersichtlicher und können sogar die Nutzung aktiv verhindern. Das sind die berühmten Screenreader-Fallen. Sie fangen den Fokus des Screenreaders in einem Overlay-Element ein und im Worst Case schafft man es aus dem Element nicht mehr raus. Niemand wird diese Website freiwillig ein zweites Mal besuchen.
Nun bringt es nichts, gegen die Anbieter solcher Werkzeuge vorzugehen, sie sind Millionen-schwer und klagen auch gerne gegen ihre Kritiker, also wirklich sympathische Zeitgenossen.

Es würde mich nicht wundern, wenn diese Firmen mehr Geld für Anwälte als für die Entwicklung ihres Tools ausgeben.
Es ist besser, diejenigen anzusprechen, die solche Tools auf ihrer Website einsetzen. Das sind in Deutschland bisher recht wenige, wahrscheinlich auch, weil das Marketing bisher noch nicht so präsent ist.
Stoßen Sie auf ein solches Overlay, informieren Sie den Anbieter der Website darüber, dass Overlays schädlich sind und am besten, welche Probleme Sie persönlich dadurch bei der Nutzung der jeweiligen Website haben. Verweisen Sie zum Beispiel auf die Website Overlay Factsheet. Ist der Anbieter rechtlich – etwa durch die BITV oder das Barrierefreiheits-Stärkungs-Gesetz – zur Barrierefreiheit verpflichtet, weisen Sie ihn darauf hin, dass der Einsatz des Overlays ihn nicht vor Klagen schützt.

Barrierefreiheit und User Experience – eine Katastrophe namens ClickMeeting

Normalerweise schimpfe ich ja nicht über kleine Firmen, aber für ClickMeeting mache ich eine Ausnahme. Unter all den Lösungen, die ich in den letzten Jahren nutzen musste, hat ClickMeeting den Vogel abgeschossen.
Weder die Browser-Version noch die native Windows App ist in irgendeiner Hinsicht barrierefrei: Außer dem für die praktische Nutzung irrelevanten Hauptmenü ist keine Funktion beschfirtet oder per Tastatur erreichbar. Mikrofon, Kamera, Bildschirm teilen, Chat – alles unbenutzbar, wenn man Screenreader nutzt.
Hinzu kommt, dass gegen elementare Faktoren der Usability und User Experience verstoßen wird. In der Desktop-App sind die Icons für Mikrofon und Kamera rechts und winzig klein. Anscheinend braucht man die für die Online-Kommunikation nicht.
Klickt man auf einen ClickMeeting-Link öffnen sich sowohl im Browser als auch in der Desktop-App immer zwei Fenster. Warum das passiert, ist mir nicht klar, der Nutzen des zweiten Fensters ist nicht erkennbar. Ich habe fünf Mal versucht, das Meeting im Chrome zu starten, der ist normalerweise recht zuverlässig, was Online-Meetings angeht. Auch das ist mir nicht gelungen, es ist also eine Pseudo-Auswahl zwischen Browser und App.
Laut dem Kunden gibt es keine Möglichkeit, Hintergrund-Geräusche zu unterdrücken. Die Kundin hatte wohl Baumaßnahmen vor Ort und ich habe sie so laut gehört, als ob sie bei mir wären. Leider konnte ich wegen der mangelnden Barrierefreiheit nicht herausfinden, ob man den eigenen Hintergrund verwischen kann. Beides sind meines Erachtens elementare Funktionen, die jede kommerzielle Lösung mitbringen sollte.
Im Endeffekt wirkt ClickMeeting eher wie eine frühe Betaversion. Zumindest eine Kundin konnte ich davon überzeugen, die Lizenz nicht zu verlängern. Wie ich schon einmal sagte: Wenn DSGVO-Konformität der Unique Selling Point ist, sollte man vorsichtig werden.

Können Sie es sich leisten, nicht barrierefrei zu sein?

GeldmünzenAuf Twitter schrieb ich neulich: Man sollte mißtrauisch werden, wenn die DSGVO der Unique Selling Point eines Produkts ist, also der Hauptgrund, warum eine Lösung gekauft werden sollte. Das heißt im Grunde, dass man alle anderen Themen sekundär behandelt hat. Das sind so unwichtige Dinge wie Barrierefreiheit oder gute User Experience. Jüngstes Beispiel ist ClickMeeting, eine leider nicht-barrierefreie Lösung zur Online-Kommunikation.
Im Endeffekt haben die Veranstalter die Wahl zwischen Pest und Cholera: Sie können eine wahrscheinlich DSGVO-konforme, weil EU-basierte Lösung nehmen und die Teilnehmer:Innen kämpfen mit massiven technischen Problemen. Der Support-Bedarf ist bei solchen Lösungen wirklich enorm. Oder man nimmt eine der meistens US-amerikanischen Lösungen mit guter Barrierefreiheit und User Experience, aber schlechtem Ruf beim Datenschutz. Im Zweifelsfall und wenn keine Verpflichtung besteht, wird man sich immer für Letzteres entscheiden. Es ist wichtiger, viele Menschen zu erreichen als DSGVO-konformer als die DSGVO zu sein. Leider konnte man mir noch nicht schlüssig begründen, warum man für Mängel bei der DSGVO hohe Geldstrafen bekommt und für die mangelnde Nutzbarkeit durch behinderte Menschen nicht mal einen Klaps auf die Finger. Und leider konnte mir auch noch niemand erklären, warum das US-amerikanische Zoom in einigen Einrichtungen DSGVO-konform ist und in anderen nicht, dort wird stattdessen das US-Amerikanische WebEx oder das US-amerikanische Teams verwendet. Ach, Adobe Connect ist übrigens auch US-amerikanisch und wird auch gerne verwendet.
Aber kann man nicht beides haben: Datenschutz und Barrierefreiheit? Sicher, es gibt Lösungen wie BigBlueButton, die meines Erachtens ein guter Kompromiss sind. Aber selbst das ist in manchen Einrichtungen verboten. Warum? Keine Ahnung, fragen Sie die DSGVO.
Der Konflikt wird in den nächsten Jahren meines Erachtens zunehmen. Leider haben gerade viele der deutschen Anbieter von Kommunikations-Tools das Thema Barrierefreiheit bisher nicht auf dem Schirm. Das heißt im Prinzip, dass sie von Einrichtungen des öffentlichen Dienstes nicht eingekauft werden dürfen, nicht-barrierefreie Tools können weder im Bildungsbereich noch im öffentlichen Dienst eingesetzt werden.
„Aber Barrierefreiheit ist doch so teuer“ höre ich von den Anbietern. Nun ja, niemand wirft ihnen vor, dass sie bei den ersten Prototypen nicht darauf geachtet haben. Mag auch sein, dass es in den ersten Jahren für Startups schwierig ist. Aber spätestens, wenn die Software marktreif ist und im Kontext Arbeit/Bildung eingesetzt werden soll, kann und muss man auch an der Barrierefreiheit arbeiten. Und hier fällt es Ihnen auf die Füße, wenn Sie nicht auf Barrierefreiheit geachtet haben.
Fragen Sie sich nicht, ob Sie sich Barrierefreiheit leisten können. Fragen Sie sich lieber, ob Sie sich keine Barrierefreiheit leisten können. Lassen Sie mal alle sozialen Aspekte beiseite. Rechnen Sie nach, wie viel Sie mit einer Software verdienen können, die vom öffentlichen Sektor, vielen NGOs und großen Unternehmen nicht gekauft wird. Den internationalen Markt können Sie ohnehin vergessen, weil fast alle angloamerikanischen Länder strengere Regeln zur Barrierefreiheit haben als die EU. Da bleibt eigentlich nur noch der private Konsumentenmarkt und einige KMUs. Können und wollen Sie sich damit begnügen?

Sie möchten mehr behinderte Menschen beschäftigen – machen Sie Ihre Website barrierefrei

hiringIn den letzten Wochen lese ich häufiger, dass viele Unternehmen gerne mehr behinderte Menschen beschäftigen würden, aber selbige nicht finden. Die Empfehlungen laufen darauf hinaus, man möge die Stellenausschreibungen diverser gestalten. Nun ja, kann man machen, die Lösung ist das denke ich nicht. Woran aber viele Menschen scheitern dürften, ist Ihre Website.
Oft sind die Jobbörsen auf Websites nicht barrierefrei. Häufig sehe ich von externen Anbietern eingebettete Module und Bewerbungs-Prozesse, ausgestattet mit dem neuesten Marketing-Klicki-Bunti. Das ist sozusagen das Hipster-Must-Have für gelangweilte Personaler, aber nicht das Beste, wenn man einen Screenreader oder Zoom benutzt. Wenn Sie darauf nicht verzichten mögen, bieten Sie zumindest an, dass die Leute sich einfach per Mail bewerben können. Und sagen Sie denjenigen, die das verkauft haben, dass sie das gefälligst barrierefrei machen sollten. Als Anbieter stehen Sie in der Pflicht, gleiche Bewerbungs-Möglichkeiten für Behinderte und Nicht-Behinderte anzubieten.
Der zweitbeste Weg nach einer Mail ist ein Web-Formular. Im Prinzip dürften die meisten Bewerbenden ihre Unterlagen bis vielleicht auf Anschreiben und Lebenslauf bereits als PDF-Dokument vorliegen haben. Das heißt, man kann über ein einfaches Formular Stammdaten abfragen und alternativ entweder die weiteren Dokumente wie Anschreiben, Lebenslauf und Zeugnise als eine Datei oder als separate Dateien hochladen lassen. Wichtig ist hier auch eine Erfolgsmeldung bzw. Fehlermeldung, falls etwas nicht geklappt hat.
Der häufigste Fehler, den ich in Bewerbungsformularen gesehen habe sind Komponenten, die nicht zum Standard gehören und nicht barrierefrei gemacht wurden. Zum Beispiel sind die Eingabefelder problemlos nutzbar, aber es gibt eine nicht per Tastatur bedienbare, aber verpflichtende Select-Box. Oder die Unterlagen müssen per Drag-and-Drop in das Browserfenster gezogen werden, ohne dass es eine screenreader-taugliche Alternative gibt. Oder es sind CAPTCHA’s vorgeschaltet. BTW wurden Design Patterns für Formulare nicht erfunden, damit man sie ignoriert. Es bleibt ein Rätsel, warum man nach mehr als 20 Jahren WWW noch immer nicht in der Lage ist, Fehlermeldungen oder Pflichtfelder richtig zu kommunizieren.
Andere Möglichkeiten können natürlich auch genutzt werden. Teilweise scheint es üblich zu sein, sich einfach mit dem XING- oder LinkedIn-Profil bewerben zu können. Bei anderen Dritt-Plattformen sollten Sie – wie oben erwähnt – entweder sicherstellen, dass diese barrierefrei sind oder eine Alternative wie die Bewerbung per Mail anbieten.
Auch Stellenausschreibungen sollten barrierefrei sein. Die meisten Organisationen dürften hierfür Jobbörsen verwenden. Bei vielen Hochschulen habe ich allerdings noch PDF-Dateien gesehen, die nicht barrierefrei waren. PDFs sind ein Medienbruch im Internet, eine Zumutung auf mobilen Geräten und nur schwer standardkonform zu bekommen – weg damit. Es gibt noch viele weitere Probleme wie schlechtauffindbare und nutzbare Stellenbörsen von Organisationen hauptsächlich im öffentlichen Dienst. Die häufigsten Fehler bei großen Jobbörsen sind nichtssagende Stellenbezeichnungen, bei zahlreichen Stellen fehlende Filter-Möglichkeiten oder schlecht strukturierte Informationen.
Im Endeffekt liegt das Problem aber woanders, nämlich in Ihrer Organisation: Es mag sein, dass die Personalabteilung mehr Behinderte einstellen möchte. Aber möchte das auch der Bereichs- oder Team-Verantwortliche, der das letzte Wort hat? Nach meiner Erfahrung ist das nicht der Fall.
You want to employ more disabled people? Then make your website accessible

Können Daten und Algorithmen Diskriminierung verringern?


Das Thema Biasing/Bias ist heute mehr oder weniger in das Bewusstsein vieler Entscheidungstragender angekommen. Beim Biasing geht es darum, dass Diskriminierung unbewusst stattfindet. Der Kern ist, dass wir unbewusst Personen bevorzugen, die uns ähnlich sind, was Alter, Bildung, Verhalten und Aussehen betrifft. Und dass es nicht reicht, dass wir das wissen, um dagegen vorzugehen. IM Zweifelsfall werden wir immer die Person bevorzugen, die uns sympathischer ist und hinterher sachlich erklären, warum es diese Person sein muss. „Die Person passt ins Team“ ist ein Totschlag-Argument, mit dem jede Entscheidung gerechtfertigt werden kann. Meines Erachtens ist das eine Grundkonstante menschlichen Verhaltens, die schwer bis gar nicht abzulegen ist.
Vielmehr benötigen wir von Personen unabhängige Mechanismen, die diesen Bias beseitigen. Ein Weg dafür sind anonyme Bewerbungen. Auch die soziale Inklusion kann helfen, denn wenn wir mit „den Anderen“ aufwachsen, erleben wir sie nicht mehr als so anders als wir selbst.
Das ist mehr oder weniger ein alter Hut – sozusagen Mainstream im Diversity-Ansatz. Neu ist meiner Wahrnehmung nach der daten-basierte Ansatz. Beispiele dafür sind die aktuellen Bücher von Iris Bohnet „What Works“ oder Caroline Criado-Perez „Unsichtbare Frauen“.
Klar ist, dass Daten heute bereits eine große Rolle spielen und mit auf KI-basierten Prozessen immer wichtiger werden. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass etwa Bewerbungs-Prozesse weniger diskriminierend sind.
Ein Algorithmus ist leider nicht automatisch neutral, es hängt alles von der Programmierung und den Daten ab.
Das heißt auch, dass wir eine Software nicht wie eine Maschine hinstellen können und sie immer funktionieren wird. Vielmehr müssen wir aktuelle Erkenntnisse einschließen und integrieren.
Der Lösungs-Ansatz ist erstaunlich einfach, es scheitert an der Umsetzung. Wenn Daten auf einer gefühlten Mehrheits-Gesellschaft basieren, sind die daraus folgenden Entscheidungen diskriminierend für diverse Minderheiten. Ein Algorithmus kann genau so diskriminieren wie ein Mensch, wenn er einfach nur menschliches Verhalten reproduziert.
Nehmen wir an, der Bremsweg eines Autos ist für einen 1,80 Meter großen 35-jährigen Mann ausgelegt, dann wird der Algorithmus für einen fünf-jährigen Jungen oder einen 80-jährigen Mann nicht so gut funktionieren. Oder ein Bewerbungs-Prozess sortiert alle Personen aus, die in einem bestimmten Stadteil zur Schule gegangen sind oder Lücken in ihrem Lebenslauf haben.
Wir alle diskriminieren – ich auch – ob bewusst oder unbewusst, lassen wir mal dahingestellt. Ein daten-basierter Antidiskriminierungs-Ansatz scheint mir deshalb eine Möglichkeit, dieses Problem zu lösen. Das Problem mit vielen bisherigen Ansätzen wie Anti-Bias-Training ist, dass sie gerne mal viel Geld kosten, oft ein gutes Gefühl verleihen, aber nicht beweisen können, dass sie erfolgreich sind. Das heißt, auch der Erfolg von daten-basierten Ansätzen kann und muss mit Daten belegt werden können. Nur was man messen kann, ist relevant.
Das heißt nicht, dass man allein auf solche Methoden setzen muss. Vielmehr ist ein Bündel an Maßnahmen notwendig. Aber wie im letzten Absatz beschrieben, sollten alle getroffenen Maßnahmen auch auf Erfolg geprüft werden. Wir neigen zu sehr dazu, an kosten-intensive, einfache oder Wohlfühl-Maßnahmen zu setzen, statt darauf zu gucken, ob diese Maßnahmen auch ziel-adäquat sind.

Muss alles für alle verständlich sein – Grenzen einfacher und leichter Sprache

Die Diskussion um Verständlichkeit nimmt manchmal seltsame Züge an. In letzter Zeit habe ich häufiger die Kritik gesehen, dass bestimmte Fachtexte nicht allgemein-verständlich seien. Da ging es vor allem um Leichte und Einfache Sprache, aber auch um digitale Barrierefreiheit.
Vorneweg gebe ich gerne zu, dass ich viele Texte aus meiner ehemaligen Disziplin auch nicht mehr verstehe. Ich habe Politikwissenschaft im Hauptfach studiert und Soziologie als Nebenfach. Aus Interesse hatte ich mir Bücher von zwei aktuell bekannten Soziologen – Hartmut Rosa und Andreas Rägwitz – angelesen. Nun ja, ich habe die Lektüre relativ schnell abgebrochen. Das sind keine populärwissenschaftlichen Abhandlungen, sondern wissenschaftliche Texte, die nur mit dem entsprechenden Vokabular verstanden werden bzw. viel Konzentration erfordern, was ich für so ein Thema beides nicht aufbringen kann. Ich bezweifle, dass viele der Käuferinnen dieser Bücher ohne entsprechenden Hintergrund oder Zeit die Bücher zu Ende gelesen haben.
Das ist aber der Unterschied zwischen populärwissenschaftlichen und Fachbüchern. Letztere erheben gar nicht den Anspruch, für alle verständlich zu sein. Man müsste den Spagat schaffen, den Einsteigenden zu informieren, ohne den Profi zu langweilen. Das ist kaum zu schaffen, das ist das erste Argument. Im Endeffekt ist das ein Fachdiskurs, an dem Laien einfach nicht teilnehmen können. Das klingt arrogant, ist es aber nicht. Ich würde mir auch nicht anmaßen, einem KFZ-Elektroniker oder Klempner in sein Thema reinzureden. Vielleicht ist das ein Grundfehler unserer Zeit, dass jeder glaubt, überall mitreden zu können. Wir haben 80 Millionen Fussball-Profis, Klima-Experten, Virulogen und jetzt natürlich auch Experten für den Russland-Ukraine-Komplex.
Das zweite Argument ist, dass es sich vor allem in der Leichten und Einfachen Sprache um Meta-Kommunikation handelt, also um Kommunikation über Kommunikation. Warum sollte jemand, der Probleme mit der Alltagssprache hat, sich ausgerechnet Texte über verständliche Sprache anschauen? Weiß er nichts Sinnvolles mit seiner Zeit anzufangen? Analoges gilt für die digitale Barrierefreiheit. Hier gibt es ja zahlreiche Abstufungen. Es gibt Artikel von Entwicklern, die sich an Entwicler richten und es gibt Artikel etwa bei The Verge oder Forbes, die sich an eine Allgemeinheit richten.
Es gibt natürlich Luft nach oben, was die Verständlichkeit und die Gestaltung von Texten angeht. Bandwurmsätze sind kein Schicksal. Aber im Endeffekt sind das Inhalte für Fachleute, die Fach-Diskurse führen. Man kann nur zu einem gewissen Grad vereinfachen, ohne dass es entweder banal oder falsch wird. Muss man zum Beispiel alle Begriffe und Konzepte erklären, werden die Texte aufgebläht. Ich kenne das von aufgeblähten Leichte-Sprache-Texten, die praktisch nur aus Begriffs-Erklärungen bestehen.
Im Endeffekt – und das ist das dritte Argument – ist Verständlichkeit auch ein Fach-Handwerk. Zu der Erkenntnis bin ich nach langer Zeit gekommen. Jede arbeitende Person ist Experte in ihrer Arbeit. Zugleich erwarten wir aber im heutigen Arbeits-Alltag, dass sie eine Menge Dinge noch nebenbei tut. Der Sachbearbeiteende soll nicht nur die aktuellen Paragraphen und Ausführungs-Vorschriften kennen – er soll auch noch verständliche Briefe schreiben können. Die Wissenschaftlerin soll nicht nur fachlich exzellent sein, sondern auch noch allgemein-verständlich kommunizieren. Es gibt Leute, die das schaffen. Aber das können die Meisten nicht und es banalisiert auch die Arbeit der Verständlichkeits-Profis. Alle professionellen Autorinnen haben Leute, die ihre Bücher lektorieren, also Profis für Verständlichkeit.
Fachtexte können sich schlichtweg weder an die breite Allgemeinheit noch an Profis aus anderen Fachgebieten wenden – Argument Nr. 4 – weil sie ein gewisses Maß an Fachwissen genau in diesem Fachgebiet voraussetzen. Bei den Naturwissenschaften wird das selbstverständlich genommen, aber bei den Geistes- und Sozialwissenschaften ist das nicht anders. Immerhin gibt es heute aber zahlreiche Profis, die Artikel in der Presse, Radio-Interviews oder Podcasts nutzen, um ihre Thesen verständlicher zu erklären. In der Regel neigt man bei der mündlichen Kommunikation zu weniger komplexen Ausdrucksweisen.
Da die Ressourcen auf beiden Seiten begrenzt sind, werden wir auf absehbare Zeit nicht dazu kommen, dass alles oder auch nur ein Bruchteil verständlicher wird. Vielleicht wird es in absehbarer Zeit Tools geben, die uns im Alltag dabei unterstützen, aber bis auf Weiteres müssen wir uns mit der aktuellen Situation abfinden.
Must everything be understandable for everyone?